Karriere
Das Wasser in der Wanne war mittlerweile kalt, doch Didi wollte noch nicht raus. Mutter gab noch etwas warmes Wasser hinzu und rieb dann Didi’s Kopf mit Kindershampoo ein. Es roch nach Pfirsich und brannte nicht in den Augen. Didi schrie trotzdem und ich saß draußen in der Küche und versuchte zu Lesen. Bei jedem zweiten Satz verlor ich die Konzentration und nippte an meiner Tasse Tee. Wie das Wasser in der Wanne, war auch mein Tee mittlerweile kalt. Ich war nervös. In einer Stunde sollte ich einen Auszug aus Schillers „Räuber“ vor der Aufnahmejury der hiesigen Theaterhochschule vortragen. Ich würde ein Schauspieler sein. Jemand, der so tut als ob. Ich wollte eigentlich noch mal den Text durchgehen, aber ich hatte Bedenken, dass meine Nervosität mich dazu brachte, die ganze Sache noch mal derartig zu überdenken, dass ich am Ende die „Räuber“ in den Müll werfen würde. Scheiß auf Schiller. Scheiß auf das ganze Theater. Ich nahm meine Tasse und besuchte meine kleine Schwester und meine Mutter im Badezimmer. Ich setzte mich auf den Toilettendeckel und sah zu, wie Mutter mit einem kleinen Eimer Wasser aus der Wanne schöpfte und es dann Didi über den Kopf goss.
“Nimmst du den Bus?” fragte meine Mutter.
Natürlich nehme ich den Bus, ein Auto hatten wir ja nicht.
“Hast du ein frisches Hemd angezogen?”
Es war nicht frisch gewaschen, aber es sah gut aus und das musste reichen. Mutter schrubbte Didi das Shampoo aus den Haaren und kämmte mit den Händen noch mal durch.
“Ja, alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen,” sagte ich.
“Gleich fertig, lass die Augen noch zu,” sagte Mutter zu Didi und die wollte einfach nicht hören.
“Es brennt,” protestierte sie und Mutter reagierte schon gar nicht mehr darauf.
“Nimmst du deinen Lebenslauf mit?” fragte mich meine Mutter.
Nein, den denn würde ich nicht brauchen, zumal es sowieso nicht viel zu erwähnen gab. Doch ich log, ich sagte ich hätte alles parat. Meine Kleider, meinen Lebenslauf, mein optimistisches Lächeln.
“Mann, das ist ja mal was. Da wirst du ja bald dein eigenes Büro bekommen, was?”
Nein, das würde ich bestimmt nicht, denn es gab überhaupt kein Vorstellungsgespräch für ein Ausbildungsplatz als Bankkaufmann. Ich würde Schauspieler werden. So wie Klaus Kinski oder Armin Mueller-Stahl, oder vielleicht auch Komiker oder Kabarettist wie Dieter Krebs oder Dieter Hallervorden. Schauspieler, Mutter. Die, die so tun als ob. Ich hatte doch Talent, oder etwa nicht?
“Habe an alles gedacht, Mutter. Keine Sorge.”
“Na dann.” Mutter nahm sich ein Handtuch und half Didi aus der Wanne.
Während sie Didi trocken rieb, gab sie mir noch mal einen abschließenden Vortrag darüber wie glücklich ich mich schätzen sollte.
“Ich hatte nicht diese Möglichkeit, die du nun hast. Das ist wirklich was Einmaliges. Du wirst wohl der erste in der Familie sein, der Karriere macht.”
„Ja, so was in der Art.“
Ich lächelte nur bescheiden und nickte in einer Art und Weise, die ihr signalisieren sollte, dass ich den Vortrag nicht weiter hören wollte.
“Ich will Schokolade,” sagte Didi und hielt das Handtuch, dass Mutter ihr umgelegt hatte fest.
“Na, komm,” sagte Mutter und ich trat als Erster aus dem Badezimmer zurück in die Küche. Didi wurde in ihr Zimmer gebracht und aufs Bett gesetzt. Neben ihr lagen ihre Kleider, die sie heute in die Schule anziehen sollte. Ein schwaches Licht schien aus der halboffenen Tür in den Flur und ich konnte die flüsternden Worte meiner Mutter hören, die Didi dazu bringen wollte sich endlich anzuziehen und die Schokolade zu vergessen.
“Ich will aber noch Schokolade,” hörte ich Didi, die gar nicht daran dachte zu flüstern.
“Du hast dir aber schon die Zähne geputzt.”
“Aber ich esse doch bald sowieso was…”
“Das erste am Tag muss aber nicht gleich Schokolade sein.”
Danach war nur noch der Fön zu hören.
Ich derweilen blickte hinab auf meine billigen Lederschuhe mit den nervigen Gummiabsätzen, in denen ich mir vor kam wie ein Clown. Ich würde mich wohler fühlen, wenn ich mich beim Zirkus beworben hätte. Mein dunkles Jackett, die dunkel-blaue Hose dazu und meine gestylten Haare, die ich wahrscheinlich besser unter einer knallroten Perücke verstecken sollte. Ich sah rüber zur Tür, das kleine Mädchen mit dem verweinten Gesicht stand dort in ihrer Regenjacke und ihrem Tornister umgeschnallt.
“Schokolade,” sagte sie.
“Schokolade willst du?” fragte ich und sie nickte.
“Später kannst du Schokolade haben”, sagte meine Mutter und schlängelte sich neben Didi vorbei.
Ich nahm mir eine saubere Tasse aus der Spüle und trocknete sie mit dem Handtuch ab.
„Ich bring Didi jetzt. Wenn ich zurück komme, bist du bestimmt schon weg.“
„Ja, das ist gut möglich“, sagte ich und goss mir frischen Kaffee ein. Ich nippte an der Kaffeetasse und machte mir schon mal erste Gedanken, was ich später erzählen würde.
„Na, würde meine Mutter fragen, „wie lief das Gespräch?“
„Super“, würde ich dann sagen, „ich hab vielleicht die Stelle.“
„Dann kann es ja losgehen mit der Karriere.“ Und ihre Augen würden voller Stolz funkeln und mich anschauen.
„Ja, das kann es dann wohl“, würde ich antworten und voller Scham weggucken.
Anderthalb Stunden später stand ich in der Lagerhalle der Spedition und ein Mann mit blauem Kittel und Firmenlogo auf der Brust zeigte auf die Dachrinnen, die in großen Plastikbeuteln verpackt waren.
„Die kannst du schon mal auspacken. Die langen kommen in den Container A, die mittleren in den Container B und die kurzen in Container C. Hast du das alles verstanden?“
Ich nickte und zog mir die Handschuhe an. Ich würde der erste in der Familie sein, der Karriere macht.
Tja, so läuft’s wohl immer. Willkommen im Club …