Mehr gab’s nicht
Ich hatte Angst, aber das muss ja nicht unbedingt was heißen. Jeder hat mal Angst. So wie jeder Mensch Fieber kriegt. Dann zitterst du und hoffst, dass es dir bald wieder besser geht. Angst hast du an den schönsten Tagen deines Lebens. Doch sie kommt und geht wie ein Regenschauer. Du wirst nass und suchst nach Schutz. Angst hat jeder. Wenn man dein Gehalt kürzt, oder erst gar keine Arbeit findet, oder wenn man dir eine Pistole an die Stirn drückt, oder wenn du draußen in einem Café sitzt und nach deinem Kleingeld suchst, das du nicht mehr hast. Die Angst kommt ohne dich zu warnen, so wie der Kellner, der plötzlich neben mir stand und sich dezent vorbeugte.
“Möchten Sie denn noch was trinken?”
Nein, verdammt, ich kann ja noch nicht mal den Kaffee hier bezahlen.
“Ja, ich hätte noch gerne einen Weinbrand.”
“Sehr wohl.”
Der Kellner verließ mich und ich faltete weiter mit nervösen Fingern meine Serviette. Ob man hier mal einen Stift bekommen könnte, damit ich endlich das Falten sein lassen und stattdessen was auf die Serviette schreiben kann? Der Kellner kam wieder und drehte sich auf seinen flachen Gummiabsätzen zu mir, um sich ganz dezent dem Weinbrandglas zu entledigen.
“Bitte, ein Weinbrand.”
“Danke. Haben Sie vielleicht einen Stift zur Hand?”
“Aber junger Mann, ich bin doch der Kellner. Natürlich habe ich einen Stift.”
Er lachte penetrant und zog ganz fix einen Stift aus seiner Tasche.
“Bitte, ein Stift.”
“Mehr brauch ich nicht.”
“Natürlich.”
Der Kellner verschwand wieder und ich faltete die Serviette sorgfältig auf. Ich testete die Tauglichkeit des Stiftes in der Ecke der Serviette und sah mit an, wie sich der schwarze Streifen von der Miene aus über das weiße Tuch lang zog. Ich setzte den Stift ab und visierte den oberen Teil der Serviette an. Hier fang ich an. Hier kommt das erste Wort hin. Ich könnte ja was über den Kellner schreiben und sein unmögliches Verhalten, der ist nämlich gar nicht so scheiß-freundlich, sondern gierig auf das Trinkgeld. Das ist ne ganz linke Sau, wie er nämlich vorhin raus kam und die dicke Blondine dort in der Ecke wie ein Triebtäter angestarrt hat, gingen im wahrscheinlich die perversesten Gedanken durch den Kopf. Ja, er kam dann ein wenig später wieder raus und schmiss sich sofort an sie ran, ging ihr mit der Hand sogar an den Busen und sie hat sich das einfach so gefallen lassen. Weder er noch sie waren es wert, auf diese Serviette zu kommen. Ich blickte mich um und ließ mich von den anderen Gästen inspirieren. Ein Ehepaar, das während des Essens nicht einen Ton von sich gab. Er ist Bankdirektor und sie die strahlende Hausfrau. Nein, die werden sich hier auch nicht auf dem Weiß wieder finden. Da saßen noch andere, ein junger Mann mit Brille, der sich nach jedem Griff an die Gabel die Finger abwischte und dann wieder links in seinem Männermagazin las, während seine Autoschlüssel mit dem goldenen Mercedesanhänger die Seiten vorm Wind schützte. Du hast auch verschissen. Ja und mehr gab’s auch nicht mehr. Ich glaub ich steh jetzt auf und hau ab.