Schon nach dem ersten Satz weiß ich: „Mein sanfter Zwilling“ ist ein Vakuum an Gefühlen, aus dem ich nicht entkommen kann. Dafür ist die Geschichte zu anziehend und in eine faszinierende, betörende Sprache gebettet. So zieht mich Nino Haratischwili mit der Kraft eines Trichters in ihr Werk.
Der Titel des Romans klingt zärtlich, ist voller Liebe, also denke ich: hier falle ich weich. Wie sich bald herausstellen soll, trügt der erste Schein, weil sich Stella und Ivo genauso anziehen wie sie sich abstoßen. Diese Liebe ist warm wie das Feuer und schneidend wie ein Messer.
Stella und Ivo lernen sich als Kinder kennen, als Stellas Vater regelmäßig seine Geliebte aufsucht und dort die Nachmittage im Schlafzimmer verbringt. Anfangs begegnen sich beide argwöhnisch, das dunkle Geheimnis beider Elternteile führt sie jedoch immer mehr zusammen, schafft ein dichtes Band zwischen den Kindern. „Denn wir beide wussten um die Gefahr, wir beide sahen sie unentwegt im Haus auf uns lauern und beschlossen in unserer kindlichen Einfalt, die Erwachsenen davor zu bewahren, sie diese Gefahr – so gut es ging – nicht spüren zu lassen.“ Trotz der Gemeinsamkeit sind sie zwei Gegenpole, Stella ist stur und fordernd, Ivo scheu und eigenwillig. Diese Diskrepanz nehmen sie hin, und doch sollte es gerade diese Grenze sein, die sie ihr Leben lang in zwei Hälften teilen wird.
Eines Tages geschieht eine Tragödie, die Ivo seine Eltern raubt und ihn direkt in die Arme von Stellas Familie führt. In dem großen Schock versteckt er sich zunächst hinter einer Wand des Schweigens, lässt niemanden hindurch, außer Stella, die Ivo stückchenweise aus der Sprachlosigkeit befreit. Durch den Schicksalsschlag wird Stellas Familie entzweit, denn sie führt auch das Doppelleben des Vaters zutage. Die Mutter nimmt ein Jobangebot in Amerika an und stellt ihre beiden Töchter vor die Entscheidung, ihr zu folgen. Sie wollen in Deutschland bleiben und werden liebevoll von Tulja großgezogen, die Tante von Stellas Vater. Stella bewundert Tulja für die Andersartigkeit, den Stolz, die Ausdauer und die Kraft, die sie ausstrahlt. Tulja wird nicht nur zur Ersatzmutter sondern auch zum Ersatzvater. So ist Stellas Vater mehr abwesend als anwesend, verliert er sich zunehmend im Alkohol und an jungen Frauen. In dem ungewöhnlichen Familienkonstrukt wachsen die Kinder auf und Stellas Liebe zu Ivo wächst mit jedem Atemzug. Es ist eine schmerzvolle, leidenschaftliche Liebe, die Stella in ein chaotisches Minenfeld manövriert, aus dem sie fast nicht mehr raus kommt.
Jetzt, Jahre später, platzt die geschlossene Wunde wieder auf, als Ivo plötzlich in der Heimat auftaucht. Stella hat sich in einem scheinbar glücklichen Leben eingerichtet. Sie ist glücklich verheiratet, hat einen wundervollen Sohn und arbeitet als Redakteurin für eine Zeitung. Ganz so sicher wie die Festung aussieht, ist sie nicht, das bekommt Stella mit Ivos Rückkehr deutlich zu spüren, erste Risse machen sich bemerkbar. Kann sie dem Ganzen standhalten?
Es tauchen etliche Sequenzen in dem Roman auf, die mich spalten, einfach nur, weil ich nicht verstehen kann, wie das zwischen Stella und Ivo möglich ist. Sicherlich habe ich schon von Menschen gehört, die nicht mit und nicht ohne einander können. Sieht man solchen Beziehungen direkt in die Augen, verschiebt sich das Herz, der Verstand schweigt und eine Ohnmacht betäubt den Geist. Doch von Taubheit kann bei dem Roman keine Rede sein, eher von einem explodierenden Innenleben. Die Geschichte geht tief und rüttelt erbarmungslos an den Sinnen. Es ist vor allem Nino Haratischwilis Sprache zu verdanken, dass ich nicht oben schwimme und abtauche. Die Autorin umschreibt Hartes mit weichen Worten, die sogar etwas Katzenhaftes in sich haben. Geschmeidig und weich lesen sich die Sätze, die Unglaubliches erzählen. Von Dingen, die ich fassen kann und von Dingen, die mir fremd sind. Wie die Liebenden zieht mich das Erzählte an und stößt mich gleichzeitig ab, weil es weh tut und mir bis zum Schluss unverständlich bleibt. So sehr ich diese Beziehung drehe und wende, sie von mehreren Standpunkten aus betrachte, bleibt eine Distanz zwischen uns bestehen, die ich weder denkend noch lesend durchbrechen kann.
Auch wenn es zunächst den Anschein erweckt, verbirgt sich hinter „Mein sanfter Zwilling“ mehr als eine tragische Liebesgeschichte. Nino Haratischwilis hat ebenso eine Familiengeschichte eingeflochten wie die Geschichte einer Mutter, die hin- und her gerissen ist zwischen Mutterliebe, den hohen Ansprüchen der Erziehung und den eigenen Sehnsüchten: „Heute weiß ich, dass, egal wie sehr man auch versucht, eine gute Mutter zu sein, es nie reichen wird, dass es nie reichen wird, all die Lücken zu füllen, die das Leben mit sich bringt, dass man es nie schaffen wird, das eigene Kind vor dem Leben zu schützen.“
Dennoch führen alle Fäden immer wieder zurück zu Stellas Beziehung mit Ivo. Sie vergleicht die Liebe zu Ivo mit „einem seltenen, kostbaren Wein, „den man nicht öffnen möchte, sondern die Flasche hütet, aufbewahrt und sich insgeheim auf das Trinken freut, das Kosten jedoch immer weiter aufschiebt, für einen besonderen Anlass aufspart, der aber nie eintritt, denn kein Anlass scheint gut genug für diesen Wein.“ Genauso empfinde ich das Buch. Nur habe ich die Flasche geöffnet und in langsamen Zügen davon getrunken, bis ich voll war an Gefühlen, in denen ich mich verloren habe und mich irgendwann in einem warmen Vakuum wiederfand.
Nino Haratischwili.
Mein sanfter Zwilling.
September 2011, 378 Seiten, 22,90 €.
Frankfurter Verlagsanstalt.
Über die Autorin:
Nino Haratischwili wurde 1983 in Tiflis geboren und lebt heute in Hamburg. Sie ist preisgekrönte Theaterautorin und -regisseurin. 2008 gewann sie für „Agonie“ den Rolf-Mares-Preis. 2010 erhielt Nino Haratischwili den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Ihr Romandebüt „Juja“ war für die Longlist des Deutschen Buchpreises, die Shortlist des ZDF-aspekte Literaturpreises und die Hotlist der unabhängigen Verlage nominiert. Aktuell steht die Autorin mit „Mein sanfter Zwilling“ erneut auf der Hotlist der unabhängigen Verlage.
Ein ganz und gar ergreifendes Buch. Ich habe es zunächst mit Skepsis in die Hand angenommen, vielleicht weil ich angesichts der Thematik – tragische Liebesgeschichte – aufgeblasen große Emotionen und Stereotypen befürchtete. Aber dem war nicht so. Nicht im Geringsten. Die Geschichte berührt, wühlt auf, verstört, stößt ab – alles gleichzeitig. Und das auf sehr glaubwürdige Weise, ohne Klischees, ohne Kitsch, weder im Inhalt noch in der Sprache. Allein das Ende wirkte meines Erachtens ein wenig konstruiert. Aber das ändert nichts daran, dass Haratischwili hiermit einen großartigen Roman vorgelegt hat.
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Liebe Klappentexterin,
zum Buch selbst kann ich leider (noch) nichts sagen, da ich es nicht kenne, aber ich muss mal bitte etwas ganz Allgemeines loswerden. Ich bewundere deine außergewöhnlichen Rezensionen! Jede davon ist ein kleines Juwel, das konsequent emotional am Inhalt bleibt, sodass ich immer auch einen Leseeindruck gewinne, obwohl ich das Buch noch gar nicht kenne. Bei dir werde ich nicht nur über den Inhalt informiert, sondern auch darüber, was die Geschichte mit einem selbst machen kann. Das ist wirklich einzigartig! Vielen Dank, dass du uns immer wieder in deine Leseseele blicken lässt!
„Mein sanfter Zwilling“ steht inzwischen übrigens auch schon auf meiner Leseliste. Allein deine Rezension hat mich derart berührt, dass ich dieses Buch ganz einfach nicht verpassen darf!
Herzlich,
nantik
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Ich möchte mich nantik anschließen: deine Rezensionen, liebe Klappentexterin, berühren, weil sie so in die Tiefe gehen und du dich emotional öffnest – einfach wundervoll!
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Das Buch lese ich auch gerade, deine Rezension bewegt mich dazu, es gleich heute Abend wieder zur Hand zu nehmen 🙂
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Ihr Lieben,
da komme ich nach einem langen Tag nach Hause und finde eure schönen, wertschätzenden, reflektierenden Gedanken unter der Rezension. Das macht mich schlagartig wieder munter und sehr, sehr glücklich! Jetzt fehlen mir mal – ausnahmsweise – die Worte, stattdessen lächle ich hier hinein. Habt vielen lieben Dank für alles!
Herzlichst,
eure Klappentexterin
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Ist soeben auf meiner Wunschliste gelandet … danke!
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Das freut mich! Gerne doch!
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Um dieses Buch habe ich bisher immer eher einen kleinen Bogen gemacht, weil es mich von der Thematik nicht ganz ansprechen und überzeugen konnte. Jetzt wird es auf jeden Fall so schnell wie möglich gekauft. Herzlichen Dank für deine fantastische Rezension!
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Darüber freue ich mich sehr, sage vielen Dank und wünsche dir interessante Lesestunden mit diesem eindrucksvollen Werk! Vielleicht magst du mir hinterher kurz berichten, wie es dir dabei ergangen ist?
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