Karl Ove Knausgård ist ja derzeit in aller Munde, denn soeben ist sein neuestes Buch »Träumen« erschienen. Es ist der fünfte Teil seines autobiographischen Romanprojekts, sechs sollen es insgesamt werden. Obendrein erhält der Autor am 6. Oktober den »WELT«-Literaturpreis. Während alle Knausgård-Fans nun in einer Art Fieberrausch sein ersehntes opulentes Werk lesen, schaue ich staunend zu. Ich muss gestehen, dass ich bislang noch gar nichts von dem Norweger gelesen habe. Dafür konnte mich Tomas Espedal kürzlich mit seinem Buch »Wider die Kunst« vollends begeistern. Den norwegischen Autor habe ich nicht von allein entdeckt. Empfohlen wurde er mir seinerzeit von meiner geschätzten Buchhändler-Kollegin Maria-Christina Piwowarski von ocelot, not just another bookstore. Sie ist überdies noch ein großer Knausgård-Fan. Welch wunderbarer Zufall! So wurde ich von meiner Neugier gepackt und habe die »ocelotin« zu beiden Autoren interviewt.
Klappentexterin: Was verbindet die beiden Autoren Karl Ove Knausgård und Tomas Espedal?
Maria-Christina Piwowarski: Außer, dass sie schriftstellernde Norweger sind? Und auch optisch echte Kerle? Sie waren beide in Bergen und haben auf der Schreibkunstakademie, ich glaube bei Jon Fosse, gelernt. Ich denke, sie sind befreundet. In »Wider die Natur« von Tomas Espedal lesen die beiden Protagonisten parallel im Bett ein Knausgård-Buch. Da sagt die Frau, das sei ja ungeheuerlich, was er da schreibt und so mutig. Beide Autoren sind in ihren Büchern konsequent auf der Suche nach sich selbst. Das verbindet zwangsläufig.
Ähneln sich die Bücher der beiden Autoren?
Sie ähneln sich vom Stil her gar nicht. Man kann die beiden nicht eine Schublade packen. Es sind halt beides Norweger, Kettenraucher, Säufer. Sehr sympathisch. Beide sind sehr präsent. Aber eben auch sehr zerrissen. Das ist schwierig zu erklären. Und beide schreiben, ohne dass sie die Krücke der Fiktion brauchen. Das ist das große Wagnis, das wirklich Spannende. Sie schreiben autobiographisch. Bei Espedal und Knausgård geht es ganz konsequent ums Versagen und um das Zulassen dieses Versagens. Besser gesagt: Um das Nichtschönreden dieses vermeintlichen Versagens. Denn beide beschreiben auf sehr unterschiedliche Art ja nichts anderes, als das Menschsein, das Fühlen, das Lieben, das Leiden und das Denken. Und das Schreiben, diesen Halt.
Woher kommt die Offenheit über das Versagen zu schreiben?
Knausgård hat in mehreren Interviews gesagt, dass er extrem anerkennungsbedürftig ist, dass er gemocht werden will. Deswegen auch immer diese Alkoholexzesse, weil er dann das Gefühl hat, dass er gelöster und nicht mehr so verklemmt ist. Dann ist er groß, dann ist er herausragend. Danach diese Abstürze, die Scham. Das sagt er von sich selbst in fast allen Interviews sehr offen. Ehrlich und schonungslos über sein Leben, über sein Scheitern zu schreiben, ist die einzige Möglichkeit für ihn, diese Angst ausgelacht oder abgelehnt zu werden zu bezwingen. Es geht um die vollständige Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. In seinen Büchern versagt er ja ständig auf ganzer Linie, lässt es zu und ufert aus. Er schönt sich nicht und er schont sich nicht. Das muss man als Leser auch ertragen können. Du stößt beim Lesen an deine eigenen Grenzen. Gerade das finde ich aber so begnadet an Knausgård. Bei Espedal verhält es sich ähnlich. Das ist großartige Literatur, Kunst, Espedal nimmt dich SO mit. Einzelne Passagen gehen markerschütternd nahe, aber eben anders als bei Knausgård. Der ist ja quasi eine Lebenslesensaufgabe.
Worüber die beiden Norweger schreiben, haben sie tatsächlich erlebt?
Nun, es liegt natürlich auch immer in der Freiheit des Schriftstellers, wie er welche Dinge verarbeitet. Aber ja, sie schreiben über ihr Leben, über das, was ihnen widerfahren ist, was sie bewegt, was sie denken, was sie wünschen zu sein und was sie eben nie sein können, wem oder was sie nie entkommen können. Es wirft beide immer kontinuierlich auf sich selbst zurück. Denn sie schreiben beide nicht, um zu schreiben, sie schreiben, weil sie nicht anders können. Weil sie es müssen. Weil es alternativlos für sie ist. Für sie beide. Und sie schreiben eben auch darüber, dass sie schreiben müssen. Sie sprechen es aus. Zu schreiben ist für die beiden die einzige Erlösung. Die Rettung. Daran glauben sie so fest und vielleicht als einziges wirklich unumstößlich fest, wie ich daran glaube, dass es meine Erlösung ist, zu lesen.
Inwiefern unterscheiden sich die Autoren?
Espedal ist fast lyrisch und schreibt kurze Sätze, knappe Passagen, die wie plastische Kunst vor einem stehen. Glasklar. Bei ihm steht jeder Satz für sich, den kannst du herausnehmen und bewundernd betrachten. Dabei ist er völlig ungekünstelt, sondern schlicht authentisch. Das ist großartig! Er hält sich nicht an Regeln, weder was die Textsorte, noch was gewisse zeitliche Abläufe betrifft. Was ihm jetzt wichtig ist, schreibt er. Dem musst du als Leser einfach auch mal vertrauen können. Knausgård wiederum ist sehr ausufernd, sehr chronologisch biografisch, sehr detailliert. Er schreibt beispielsweise 40 Seiten über eine Tischmaserung. Bei solchen Dingen stellst du dein Leseverhalten immer wieder in Frage. Er macht das aber so brillant, dass ich gerne noch mal 20 Seiten über diese Tischmaserung lesen würde. Diese Langatmigkeit auszuhalten, ist heutzutage eine tolle Chance für uns. Dass wir nicht nur Romane lesen, in denen alles sofort auf einen Höhepunkt zusteuert und die ganze durchgestylte Story super-end-verbrauchergerecht vorgesetzt kriegen, sondern dass wir uns durch so ein Werk eben auch mal arbeiten müssen. Dass wir uns regelrecht abarbeiten müssen. Dass wir es dürfen.
Diese Langatmigkeit halten wirklich alle Leser aus?
Alle? Nein!! Ich kenne auch Leute, die Knausgård nach den ersten zwanzig Seiten entnervt zurückgelegt und sogar nach dem dritten Buch gesagt haben, sie müssten jetzt aufgeben, weil sie es jetzt einfach nicht mehr hören könnten. Aber die Mehrheit liest ihn – und wird süchtig danach. Das ist ein komischer Vergleich, aber sie werden wirklich süchtig nach Knausgårds Beschreibungen. Wie er die Welt sieht, was er uns damit erfahren lässt und wie es ihm geht. Ich habe hier Leute, die sind so glücklich aus dem Laden gegangen, weil sie den neuen Knausgård in den Händen halten. Das habe ich sonst so noch nie erlebt, selbst bei Murakami nicht. Da haben sich alle gefreut, wenn ein neues Buch draußen war, aber bei Knausgård ist das anders. Das ist mehr als Freude. Das ist fast ne Weltanschauung. Nicht selten entspinnen sich hier quer durch den Laden lautstarke Meinungsäußerungen zu seinem Werk.
Muss man eine Reihenfolge beim Lesen einhalten?
Natürlich kannst du die Romane einzeln lesen. Jeder steht auch für sich als einzelnes Werk, aber ich denke mir, er hat sich doch was dabei gedacht, wie er seine Geschichte den Lesern in welcher Reihenfolge erzählt. Wie er selbst alles angegangen ist. Daher versuche ich die Kunden, immer davon zu überzeugen, wirklich mit »Sterben« anzufangen. Obwohl das für die meisten vom Thema her eher unangenehm ist und sie zunächst erst das schöne »Paul&Paula«-Cover von »Lieben« kaufen wollen.
Die Leute kaufen erst den zweiten Band?
Ich habe alle Bände frontal ins Regal zusammengestellt, chronologisch aufsteigend von links nach rechts, mit einer Banderole drum, die das komplette Werk empfiehlt und auch die Reihenfolge nochmal erklärt. Aber die meisten greifen automatisch zu »Lieben« und wollen sich »Sterben« eigentlich sparen. Des Titels wegen, aber auch des Covers wegen, weil Knausgård eben als grummeliger Mann drauf ist. Da sind die englischen Ausgaben konsequenter. Die haben ihn alle auf dem Cover. Ich habe das Gefühl, »Sterben« bereitet den meisten Unbehagen. Der Titel und der bös dreinblickende Nordmann, das zusammen scheint die Leser abzuschrecken. Das kommt mir dann immer ein bisschen wie schummeln vor. Und irgendwie, das ist schrecklich arrogant, aber ich kann mir nicht helfen, denke ich immer, wenn Du Titel und Cover von »Sterben« schon nicht erträgst, wirst Du den Inhalt von »Lieben« auch nicht ertragen können. Zumindest bestärke ich die Leute, sich dem Werk chronologisch zu nähern.
Kommen wir zu Tomas Espedal. Welches war dein erstes Buch von ihm?
»Gehen: oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen«, weil ich den Titel und das Cover (erwischt!) so schön fand. Und weil es einfach das erste war, das auf Deutsch von ihm zu haben war. Dieses Buch halte ich vielleicht für sein stärkstes Buch. Oder ist es mir einfach nur das liebste? Es bewegt sich zwischen Roman und Essay. Ist überhaupt nicht einzuordnen. Es hat den Stempel eines Genres aber ebenso wenig nötig, wie seine anderen Bücher. In »Gehen« geht ein Mann eben einfach los und verlässt immer wieder seine Familie, aber irgendwie auch sich selbst, um zu laufen, um fortzu g e h e n, weil er dabei besser denken kann. Weil er aber auch vor sich selbst wegläuft um bei sich anzukommen. Das Buch enthält wunderbare Passagen, begnadet knappe Dialoge, grandios kluge Sätze, tiefe Gedanken, wirkt aber erfrischend pur, völlig ungekünstelt und ist in der Summe schlicht großartig. Ich liebe das. Das tatsächliche Gehen lässt es sehr rhythmisch erscheinen und erzeugt einen richtigen Sog. Man begleitet den Autor beim Gehen und beim Denken. Und der denkt so toll. Mein Gott, wie der denkt!!!
Tomas Espedal war kürzlich bei euch zur Lesung. Wie war das für dich?
Erst dachte ich, Tomas Espedal wäre ein harter, grummeliger Kerl, ein anstrengender Künstler. So ein Genie-Typ. So sehe ich ihn auch. Er dürfte sich alle Arroganz der Welt erlauben, weil ich ihn schlicht für obergenial halte. Trotzdem hatte ich regelrecht Angst. Ich hatte sogar zwei Albträume. Einmal, dass keine Leute zur Lesung kommen und dann, dass er mir eine Flasche Schnaps, die wir ihm als Dankeschön schenken wollten, an den Kopf wirft und dabei über unsere Vorurteile schimpft und flucht, dass er keinen Bock mehr hätte, immer als die saufende Literaturintelligenz betrachtet zu werden. Nichts davon ist natürlich eingetreten. Der Kram sagt ja ohnehin höchstens was über mich aus. Am Abend bevor Espedal hier bei uns zu Gast sein sollte, war ich beim Matthes & Seitz Sommerfest, wo er auch gelesen hat. Nach der Lesung bin ich gefühlt todesmutig auf ihn zu, habe mich brav vorgestellt, wollte es eigentlich vor allem hinter mich bringen und habe gesagt, ich wäre Maria, blabla, dass wir ja morgen die Lesung bei uns im Laden haben, blablabla. Da schaute er mich an, lächelte breit und sagte: »Maria! What a pleasure. I’ve heard a lot about the nice bookstore!« Blabla. Freundliches Schulterklopfen. Keine Genervtheit, keine Überspanntheit, kein Herabblicken. Ich war fassungslos. Espedal war wie ein … Gärtner, ein ganz freundlicher Mann, herzlich und zugewandt. Es war so entspannt und schön. Ich hab mich fast gar nicht wieder eingekriegt. Wie beim Zahnarzt, wenn das gefühlte Loch gar nicht existiert: „Er hat gar nicht gebohrt!“. Auch bei unserer Lesung am nächsten Abend war er total unprätentiös, allen gegenüber offen und hat danach in aller Ruhe Bücher signiert und Schwätzchen gehalten, wunderschön ins Gästebuch geschrieben. Es war fantastisch. So jemanden zu Gast haben zu dürfen, der so klug, so grandios und dann auch noch so verdammt sympathisch ist, das ist das Höchste.
Wenn jemand bislang weder Espedal und Knausgård gelesen hat. Welchen Autor würdest du zuerst empfehlen? Oder gibt es das „Zuerst“ so gar nicht? Ist wohl eher eine Typfrage, oder?
Ja, das ist wirklich schwierig. Ich finde, man kann die auch durchaus parallel angehen. Bei Knausgård tut manchmal eine Pause regelrecht not. Doch auch Espedal nimmt dich so mit, dass man zwischendurch dringend mal atmen und was anderes lesen muss. Es gibt für mich keine Einteilung in entweder Espedal-Groupie oder Knausgårdian. Espedal tut auch nicht weniger „weh“. Er erwischt dich nur anders. Erstmal ist es vielleicht eine Zeitfrage. Ein Einlassen erfordern beide. Aber, bevor hier alles so anstrengend und nach schwerer Müh und Plag klingt, die beiden Herren sind lichte Gestalten am Firmament der Literatur. Sie sind für mich Vorbilder in ihrer konsequenten Selbstauseinandersetzung. Sie machen Mut und zeigen beide auf ihre Weise, dass Schreiben und Lesen quasi Leben retten können.
Die Klappentexterin dankt Maria-Christina für das wunderbare, geistreiche Gespräch! Und wurde erfolgreich vom Knausgård-Fieber angesteckt.
Wer noch mehr über Karl Ove Knausgård erfahren möchte, wird bei Mara von Buzzaldrins Bücher fündig. Kürzlich gab es bei ihr ein Karl Ove Knausgård FAQ.
Alle Bücher von Tomas Espedal findet ihr bei Matthes & Seitz.
Und von Karl Ove Knausgård bei Luchterhand und btb.
Wer Karl Ove Knausgård live erleben möchte, hat dazu in
Hamburg (29.09.)
Wien (30.09.)
Zürich (1.10.)
Berlin (2.10.)
die Möglichkeit. Ich weiß allerdings nicht, ob es noch Karten gibt. Genaue Infos bekommt ihr hier direkt beim Verlag.
Und wieder ein fabulöser Hinweis dem Geist seltene Nahrung zu gönnen. Ich freue mich jetzt schon. Danke dir.
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Sehr erfreut! Hat auch großen Spaß gemacht, über die beiden Norweger zu reden. Während der eine mir vertraut ist, ist der andere noch eine fremde Landschaft, die ich nun lesend erkunden möchte. Dir ebenfalls viel Freude damit!
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Welcher ist dir noch der Fremde ? T. Espedal ?
Viel Freude beim entdecken & erkunden & aufnehmen.
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Hat dies auf Filter Bubble rebloggt.
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Ein schönes Gespräch. Meint ein Knausgård-Liebhaber. 😉
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Ja, besten Dank, das freut eine Noch-Nicht-Knausgård-Leserin sehr. Hast du denn schon Tomas Espedal gelesen?
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„Wider die Natur“ hatte ich mal angefangen, aber keinen Zugang gefunden. Espedal sollte ich jedoch eine weitere Chance geben und es noch mal mit ihm probieren.
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Ich liebe Espedal, kann seine Bücher sehr empfehlen! Mit KOK habe ich diese Woche angefangen („Sterben“), bin jetzt auch angefixt, aber noch finde ich Espedal besser. Danke für das schöne Interview!
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Oh, da bin ich gespannt! Auf dieses Experiment lasse ich mich als Espedal-Fan demnächst auch ein. Dann weiterhin eine spannende KOK-Erkundungstour!
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Hallo, ist ja schon ein Weilchen her diese sehr sehr schöne Rezension bzw. das Interview. Ich befürchte, es kommt nach „Träumen “ nix mehr…….habe jedenfalls recherchiert und da hieß es, man habe aus ursprünglich 6 Bänden 5 gemacht. Hm…….Jedenfalls bin ich großer Fan sowohl von Knausgard als auch von Espedal. Ich habe Knausgard in Hamburg im Max Liebermann Studio gesehen und muss sagen : Passt ! Er ist so wie ich ihn mir vorgestellt habe, etwas schüchtern, aber trotzdem ein ganzer Kerl 🙂
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