Sprache im technischen Zeitalter (Spr.i.t.Z.) Nr. 236, Dezember 2020
Editorial
„Action“ ist ein ziemlich unbeholfener, aber geläufiger Begriff, um Filme und Serien zu kategorisieren, in denen es hoch her geht. Während in Hollywood, auf Netflix und auch in einigen Genres der Pop-Musik eine möglichst explizite Darstellung von Gewalt eher dafür prädestiniert, als massentauglich durchzugehen, finden wir diese Selbstverständlichkeit in der Literatur nicht. Wie lässt sich Gewalt schreiben? Emma Braslavsky, Katja Brunner, Özlem Özgül Dündar, Sherko Fatah und Ulrike Almut Sandig reflektieren in ganz unterschiedlichen Essays, wie Gewalt in ihrem literarischen Schaffen zur Sprache kommt. Kann man Gewalt zum Thema machen und wird sie so im Text gebändigt? Wie schreibt sich die Erfahrung von Gewalt, wie schreiben sich gewaltförmige Verhältnisse zwangsläufig in Texte ein? Wann läuft man Gefahr, Strukturen von Herrschaft literarisch nur zu reproduzieren und damit vielleicht auch zu affirmieren? Zu diesem Schwerpunkt hat außerdem der Verleger und Übersetzer Maximilian Gilleßen einen Aufsatz beigesteuert, der sich mit dem französischen Schriftsteller Pierre Guyotat befasst, dessen Werk in Frankreich teilweise verboten war und von Kritikern als Literatur für „Gewalttouristen und sexuelle Profilneurotiker“ verschmäht wurde. Gilleßen legt die radikale Poetik eines „materialistischen Schreiben“ frei. Und als literarischen Beitrag drucken wir Philipp Böhms Erzählung „Playhouse“, für die er mit dem Preis der Literaturbiennale Wuppertal ausgezeichnet wurde. Hier sitzen abgestumpfte Jugendliche, die ein merkwürdiges deutsch-englischlateinisches Kauderwelsch sprechen in einer Art Gated Community um eine abgeschlagene Hand herum und dröhnen sich zu, während von draußen ein furchterregender Karneval immer näherkommt.
Im Rest des Heftes findet sich viel Lyrik. Wissenschaftlich betrachtet von Kaltërina Latifi, die sich mit techno-organischer Metaphorisierung in der deutschen Lyrik auseinandersetzt. Dazu neue Gedichte des Lyrikers und Romanautors Lutz Seiler. In der Kolumne Auf Tritt Die Poesie stellt Matthias Göritz die belarussische Dichterin Volha Hapeyeva vor. Es folgt ein Geburtstagsgruß des Dramatikers und Filmemachers Werner Fritsch an Walter Gröner zum Siebzigsten, aus dessen Büchern Fabrikler, Leser und Poet und Ein rasend hingehauchtes Herbstlicht wir eine kleine Auswahl an Gedichten drucken. Am Ende dieser Ausgabe stehen Ingo Schulzes Laudatio auf den bosnischen Schriftsteller Dževad Karahasan, der dieses Jahr mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main ausgezeichnet wurde, sowie Karahasans Dankesrede.