Das ganze Leben – Ruth Cerha: Traumrakete

Dave, Musiklehrer mit amerikanischen Wurzeln, lebt in Wien. Mit seiner Frau Janet hat er drei Kinder: Max und Mel sind schon fast erwachsen und gehen zunehmend eigene Wege, nur Nesthäkchen Noah, von allen nur Nobbs genannt, braucht seinen Vater noch in großem Maße. Die beiden haben ein sehr enges Verhältnis und verbringen viel Zeit miteinander. Während Janet als erfolgreiche Chirurgin viel arbeitet und abends oft müde und abgespannt ist, leidet Dave unter Depressionen, weshalb er sich oft im Krankenstand befindet. In Daves und Janets Ehe kriselt es schon lange. Dave fühlt sich als Versager, der es seiner Frau niemals recht machen kann, während Janet mit Daves schwankenden Stimmungen, seinen Problemen und den Schwierigkeiten mit sich selbst schlicht überfordert ist. Die beiden sind sehr unterschiedlich, was ihr Zusammensein nicht einfacher macht.

Dave geht seit einiger Zeit zu einem Therapeuten, mit dem er seine Träume bespricht. Diese sind in der Geschichte sehr präsent und werden konkret wieder gegeben. Als Dave in einer Dokumentation von der Möglichkeit des luziden Träumens erfährt, nimmt er sich vor, in seine Träume einzugreifen, um sie vielleicht besser verstehen zu können, denn sie werfen viele Fragen auf. An die „Traumrakete“ lassen auch die Träume Noahs denken. Mit einer Rakete fliegt er des Nachts, von einem imaginären Freund namens Ben begleitet, durchs Weltall. Nobbs, der in seinen Träumen fliegen und fliehen will, Dave, der sich Letzteres manchmal in seinem echten Leben wünscht, hier finden sich früh im Roman Parallelen.

Ruth Cerha ist mit ihrem Roman „Traumrakete“ ein ungemein vielschichtiger Roman gelungen, der das gesamte Leben ihres (Anti-)Helden vor dem Leser ausbreitet. Daves Gefühl des Versagens begleitet ihn schon seit seiner Kindheit, hat er doch von seinem Vater stets das Gefühl vermittelt bekommen, nicht stark genug zu sein und seinen Ansprüchen nicht zu genügen. Eine prägende Erfahrung, die sich nicht so leicht abschütteln lässt.

Es ist wunderbar zu lesen, wie dieser Dave in den verschiedenen Rollen, die jeder von uns im Leben einnimmt, agiert und stets versucht, alles gut und richtig zu machen, seine inneren Dämonen zu bekämpfen. Vor allem lesen wir dabei von Dave als Vater auf der einen Seite, von Dave als Sohn auf der anderen. Es ist erhellend und berührend, wie das eine das andere bedingt, wie er das eine nicht ohne das andere sein kann. Sowieso sind die Szenen, in denen Dave mit Nobbs zusammen sind, Lieblingsszenen in diesem Roman und es wird deutlich, dass nicht nur Noah Dave braucht, sondern in einem Maße, das so nicht sein sollte, Dave auch Nobbs.

Auch die Unterhaltungen, die Dave mit seinem Therapeut Morrison führt, sind ungeheuer kurzweilig und interessant. In gewisser Hinsicht ist „Traumrakete“ dann auch die Geschichte eines Rätsels, das es zu lösen gilt. Wer ist die Frau im Trenchcoat, die in Daves Träumen vorkommt? Cerha fügt dem Roman hier noch eine Ebene hinzu, wenn Dave im wahrsten Sinne des Wortes auf Reisen geht, auf die Suche. Die Autorin nimmt sich dabei auch erzählerisch Freiheiten, durchkreuzt schon mal die Erwartungen des Lesers, behält ihre verschiedenen Erzählfäden stets souverän in der Hand und führt sie zu einem befriedigenden Ende.

Wenn man viel liest, hat man oft das Gefühl, Geschichten so oder ähnlich schon gelesen zu haben, was nur natürlich ist, da es eben nicht unendlich viele Themen gibt. Das ist immer dann unproblematisch, wenn ein Autor, eine Autorin seine / ihre Geschichte gut, anders, überzeugend erzählt. Der Mann in seinen Vierzigern, der Typ Versager, zu dem man auch Dave zählen konnte, das hat es natürlich zuhauf gegeben. Und Dave nervt manchmal vielleicht etwas in seiner Passivität, ist dann aber als Figur zu überzeugend gezeichnet und zu vielschichtig, als dass es wirklich anstrengend würde. Es ist höchst amüsant, welche Beschimpfungen er in bestimmten Situationen seinem Gesprächspartner gegenüber denkt – nur spricht er diese nicht aus. Man beginnt mehr und mehr zu verstehen, wie das Leben für Janet mit diesem Mann an ihrer Seite sein muss, deren Innensicht wir aber kaum kennenlernen.

Eine für mich ganz neue Komponente fügt Cerha ihrem Roman schließlich mit der Ebene der Träume hinzu und mit Daves Versuchen, seine Träume aktiv zu beeinflussen. Träume in Romanen langweilen mich normalerweise schnell, hier sind sie fesselnd zu lesen, und sie sind wichtig, um das Bild Daves und seiner Probleme, seines ganzen Lebens abzurunden.

Ruth Cerha hat mit „Traumrakete“ einen bemerkenswerten Roman geschrieben, der mich gefesselt und gefangen genommen hat, der mich in seiner Fülle und Dichte überzeugt hat und in der Art, wie Cerha all ihre Themen mit Leichtigkeit verbindet und zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügt. Zusammengefasst könnte man „Traumrakete“ als Roman über das Leben an sich und seine Wege, über Familie, Ehe und Freundschaften beschreiben (es gibt noch einige weitere überzeugende Figuren in der Geschichte). Über den Versuch, mit allem, dem wir uns täglich ausgesetzt sehen, zurechtzukommen und sein Bestes zu geben, was immer das für den Einzelnen auch bedeutet.

Ruth Cerha: Traumrakete, Frankfurter Verlagsanstalt, 2018, 384 Seiten, 24 Euro


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