Der zweite Boden
Welche Reaktionen erwarten wir von uns, bei einer permanent ungefilterten Konsumation von Nachrichten, durch die sich die nackte Zerstörung als roter Faden zieht? Die Antwort ist leicht: Wir werden empfindlich unruhig. Letztens zu beobachten in Amsterdam – wo ein „erkennbar geistig Verwirrter“ die Schweigeminute zur Gedenkfeier für die Opfer des 2. Weltkrieges, mit einem Schrei unterbrochen hatte. Innerhalb weniger Sekunden stob die anwesende Menge auseinander, um sich vor den vermeintlich fallenden Bomben und Schüssen in Sicherheit zu bringen. (Wobei sich die Bombe später als verloren gegangener Koffer eines Teilnehmers, und die Schüsse als das Geräusch der umkippenden Absperrungen entpuppten.)
Endlich ist es offensichtlich – das permanente Konsumieren von Nachrichten über Krieg und Terror schafft eine Form der Wahrnehmung, die unsere Angst so hoch potenziert, dass wir ihr freien Lauf lassen wo friedlichstes Schweigen herrscht. Von einer Sekunde auf die andere ist sie parat – vom Hundertsten ins Tausendste bringt sie uns – und beeinflussbar wir kaum eine andere Kraft macht sie uns nebenbei.
Dieses Ereignis führt uns vor Augen, wie groß die mediale Reichweite geworden ist, und wie leicht die Projektionen vom Bildschirm in unseren Alltag rutschen. Oder anders gesagt: Wir sehen die Welt kaum noch durch unsere eigenen Augen, sondern immer häufiger durch eine von der Flut an Nachrichten und Meldungen erzeugten, unsichtbaren Brille, die umso besser ihre Wirkung entfaltet, je mehr wir denken resistent gegen sie zu sein.
Mein persönlicher zweiter Boden tut sich heute genau da auf, wo ich mir das Grundrecht einer eigenen, möglichst selbständigen Wahrnehmung gestatten möchte. Soll heißen: Ich füge einen Quadratmeter Platz, in Form einer kleinen Nussschale, in die hohen Wogen aller Nachrichten ein, und warte in Ruhe ab. Solange, bis ich wieder das Gefühl habe, meine eigenen Bilder mit meinen eigenen Augen zu sehen.
„Ihr bekommt ja noch viereckige Augen“, pflegte mein Vater früher gerne zu sagen, wenn wir Kinder zu viel Zeit vor dem Fernseher verbrachten.