Eine seltsame Kinderkrankheit, deren Symptome zudem nicht bei den Betroffenen, sondern bei den Menschen in deren direktem räumlichen Umfeld auftreten, bei diesen aber starke Kopfschmerzen, Schwindel und Erbrechen auslösen: Das hat die Welt noch nicht gesehen. Clemens J. Setz nimmt dies zur Ausgangssituation für einen so skurrilen wie spannenden und witzigen Roman, in dessen Zentrum ein (ehemaliger) Mathematiklehrer und sein (früherer) Schüler Robert stehen. Wobei das mit dem Zentrum nicht ganz so einfach ist, denn zwar ziehen in „Indigo“ so einige Geschichten ihre Kreise, jedoch nicht einzig um diese Hauptprotagonisten, deren zweiter auch noch den Namen des Autors trägt – auch wenn sich die anderen Figuren diesen Namen oft kaum merken können.
Der Mathematiker Setz, der diesen Machenschaften, die er anfangs kaum einzuschätzen vermag, auf die Spur kommen will, macht sich dabei u.a. auf eine Reise nach Brüssel. Er will einen gewissen Ferenc ausfindig machen, dessen Name sich wie ein großes Fragezeichen durch das ganze Buch und über die Jahre der erzählten Handlung zieht. Und der möglicherweise weiß, was wirklich mit den Indigokindern geschieht, die aus dem Internat verschwinden, in das es Setz für sein Unterrichtpraktikum verschlagen hat. Der erwähnte Robert wiederum, der sich über einige Geschehnisse seiner Indigokindheit – und der mittlerweile überwundenen Krankheit – nicht im Klaren zu sein glaubt, sucht seinen früheren Lehrer auf, nachdem er einen schier unglaublichen Artikel über ihn gelesen hat, um dessen Wahrnehmung der Internatszeit zu erfahren. Soweit der Rahmen, so gut der Plot.
Clemens J. Setz also lebt in einer nicht allzu fernen österreichischen Zukunft, die sich v.a. dadurch vom Hier und Jetzt unterscheidet, dass die Gesellschaft noch weit mehr als heute von iObjekten durchsetzt und geprägt ist. Zeitungen z.B. scheinen in dieser Zeit nicht nur regelmäßig aktualisierte intelligente Computerchens zu sein, sondern darüber hinaus auch noch eine iSeele zu besitzen. Eine solche Seele wiederum scheinen Vertreter der modernen Medizin den indigogeborenen Kindern teils abzusprechen, um deren waffengleichen Einsatz zu rechtfertigen.
Es wird sich niemand verunsichert fühlen müssen, wenn er am Ende des fast 500-seitigen Romans nicht sicher ist, eine umfassende Aufklärung über Setz, Robert, die verschwundenen „Dingos“, wie die Kinder immer wieder abschätzig genannt werden, oder auch über das Entstehen und die Heilung der Krankheit erhalten zu haben. Ein, zwei weitere Lesedurchläufe werden neue Details und Lösungsansätze offenbaren – oder gerade eben nicht. Es wird dennoch niemand unbefriedigt aus dieser rasant erzählten, tiefgründigen und sensationell originellen Geschichte treten, in der zumindest enthüllt wird, wie Setz’ (des Autors!) Romanerstling „Söhne und Planeten“ zustande gekommen ist. (Man könnte „Indigo“ wohl auch als Verkaufsschrift für Setz’ frühere Werke lesen.) In den Erzählungen, aus denen sich – neben Briefen, Berichten, Reflexionen und Buchauszügen – der Roman zusammensetzt, werden sich nicht nur, aber besonders Fans des Adam-West-Batman, der ersten beiden Star-Trek-Serien (Kirk & Picard) sowie Bibi Blocksberg wiederfinden: Der Nerdfaktor steigt mit jeder Seite.
Das klingt in Summe erschreckend, ist in Wahrheit aber schrecklich genial – und sehr geil zu lesen: Ein tatsächlich schwer zu beschreibendes Stück Literatur. Man sollte diesen Setz genossen haben.
(Gesondert gilt es die schöne Gestaltung dieses Buchs hervorzuheben: Schutzumschläge sind in der Tat überbewertet und oft sogar lästig.)
„Indigo“ ist im September bei Suhrkamp erschienen und kostet 22,95 Euro.
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Bei mir steht das Buch noch im Regal, aber ich freue mich jetzt schon darauf. Die beschriebenenEindrücke machen mich nur noch neugieriger :)
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Bisher habe ich mich noch nicht an dieses Buch herangetraut! Setz wirkt auf mich fürchterlich intelligent und ich fürchte manchmal seinen Büchern nicht gewachsen zu sein. Diese Rezension macht aber Lust, “Indigo” vielleicht doch mal in die Hand zu nehmen! :)
Das schöne an Büchern ist ja, dass man sie zur Not noch mal ins Regal stellen und später neu beginnen kann, wenn man sie doch einmal zu schwierig findet ;) Ging mir jahrelang mit Dietmar Dath so, heute einer meiner Lieblingsautoren. Pack den Setz ruhig mal an, lohnt sich! Viel Spaß
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