Adam Johnson: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do – Ein neues Lieblingsbuch

Wenn sich ein Roman neu in die Liste der Lieblingsbücher einreiht, dann hat das schon eine gewisse Bedeutung: Die lieb gewonnene Geschichte muss sich in meinem Fall an so unterschiedlichen Werken wie Henry Millers Sexus-Trilogie, Frischs Gantenbein, der unendlichen Geschichte und schließlich gar dem mächtigen „Moby Dick“ messen. Unter ganz anderen Vorzeichen ist dies zuletzt vor fünf Jahren Mark Z. Danielewskis „Das Haus“ gelungen – ein Leseabenteur sondergleichen, welches mir noch heute eine Gänsehaut aufzieht.

Natürlich stehen auf der einen Seite echte Klassiker, deren literarischer Wert sich mindestens über Jahrzehnte hinweg bewiesen hat, und auf der anderen Seite spannende und stilistisch bzw. formal herausragende Romane, bei denen sich erst zeigen wird, ob sie mehr als ein, zwei Generationen von LeserInnen begeistern können. Nichtsdestotrotz sollten solche Listen ohnehin nicht für die Ewigkeit aufgestellt werden, handelt es sich doch selbst z.B. beim „Kanon“ eines Reich-Ranicki auch nur um eine subjektive, unverbindliche Empfehlung an LiteraturliebhaberInnen. Adam Johnsons Roman „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ ist jedenfalls ein bemerkenswertes Buch, das einen – unmöglich nachvollziehbaren, aber durchgehend glaubhaft wirkenden – Einblick in den Alltag der nordkoreanischen Bevölkerung gibt, und dabei einen moralisch zwar streitbaren aber doch unbestrittenen Helden in einem packenden Abenteuer präsentiert.

Johnson_Jun-Do_2013In zwei Teilen, die auch nach der Lektüre eigentlich nur schwer (aber eben nicht unmöglich!) zusammen zu führen sind, erzählt der Autor das Leben von Pak Jun Do, der als Sohn eines Waisenhausaufsehers aufwächst – ein Halbwaise unter lauter Waisen. Als solche handelt es sich bei diesen Kindern in etwa um Zugehörige der untersten Kaste Nordkoreas – eine Bürde, die sie Zeit ihres Lebens nicht ablegen können. Jun Do wird als Vierzehnjähriger vom Staat eingezogen, um fortan „als Tunnelsoldat in der Kunst des lichtlosen Kampfes ausgebildet“ (Seite 16) und acht Jahre später einem geheimen Kommando zugeteilt zu werden, das sich der Entführung japanischer ZivilistInnen in die Demokratische Volksrepublik Korea widmet. Auf diese Art zu einem mehr oder weniger gehorsamen und die gesellschaftlichen Abläufe nur sachte hinterfragenden – also scheinbar weitgehend typischen – Bürger erzogen, endet Jun Dos Weg vorerst auf einem Fischkutter, der ihm als Tarnung für eine nachrichtentechnische Spionagetätigkeit dient: Er horcht mit seinem Funkgerät in die Welt hinaus, um verdächtige und gefährliche Entwicklungen frühestmöglich der militärischen Führung bekannt geben zu können. Viel wichtiger jedoch ist ihm die Möglichkeit, mittels Funkempfänger (und -sender) einem gewissen Eskapismus zu frönen – unter anderem, indem er jede Nacht auf die romantisch-sehnsüchtigen Erzählungen des Rudermädchens wartet: einer Amerikanerin, die gemeinsam mit einer Ruderkollegin unterwegs ist, die Welt zu umrudern.

Sein Alltag und die abenteuerlichen ersten zwei Drittel des Romans sind darüber hinaus von der väterlichen Figur seines Kapitäns, dem einer Freundschaft nahe kommenden Verhältnis zum Zweiten Maat des Schiffs, dem Kampf gegen einen Hai, gefährlichen Begegnungen mit amerikanischen Patrouillen nahe der japanischen Küste und einer fantastischen Reise nach Texas geprägt. In deren Rahmen sollte Jun Do eigentlich nur eine unbedeutende Rolle spielen und das primäre Ziel, das kapitalistische Amerika durch eine Abordnung koreanischer Draufgänger einmal ordentlich vorzuführen, leise stützen – eine Rechnung, die nicht vollends aufgeht. Allem Einsatz für den großen und den geliebten Führer (Kim Il Sung und Kim Jong Il – die Story spielt im vergangenen Jahrzehnt) zum Trotz endet Jun Do – und damit der erste Teil des Romans -, schließlich als Gefangener im Arbeitslager. (Wie es das koreanische Klischee eben so besagt, das Adam Johnson über fast 700 Seiten leider nur zu glaubhaft bestätigt…)

Im Gegensatz zu dieser linear und aus einer äußeren Perspektive erzählten üppigen Einführung, der „Geschichte von Jun Do“, bietet das ein Jahr später angesiedelte „Geständnis des Kommandanten Ga“ – ehemals Minister und zugleich lästiger, aber lange unantastbarer Gegenspieler Kim Jong Ils, der schon früher Erwähnung fand – drei Perspektiven, die zeitlich hin und her springen: Einmal die gewohnte Außensicht, dann den nüchternen Bericht eines weitgehend sich auf psychologische Werkzeuge stützenden Folterknechts, des „Biografen“, und schließlich die regelmäßigen Lautsprecherdurchsagen, mit denen die koreanischen „Bürger“ von früh bis spät in und um ihre Wohnungen zwangsbeglückt werden.

Im Zentrum dieses wahnwitzigen literarischen Meisterstücks steht die Frage, wer denn dieser Kommandant Ga war und ist, bzw. ob es sich bei dem Gefangenen tatsächlich um das im ganzen Land bekannte und verehrte Taekwondo-Genie handelt, das einer verbreiteten Legende nach mit eigenen Händen gegen einen Bären gekämpft und überlebt hat. An dieser Stelle nähern wir uns der Frage der Identität, wie sie schon Max Frisch in „Stiller“ behandelt hat – mit dem Unterschied, dass dort ein Einzelner versuchte, das Weltbild aller zu beeinflussen, während hier der Bär, den Ga seinen VerhörerInnen aufbindet, aufgrund der Tatsache, dass auch Kim Jong Il die Geschichte stützt, zur nicht widersprechbaren Volkswahrheit erhoben wird.

Kurz gefasst wohnt der/die LeserIn von nun an einer extrem spannenden Story um Liebe, Glauben, Loyalität und Verrat bei, in der der eben genannte Führer immer wieder als gewöhnungsbedürftig netter, nahbarer, witziger und intellektuell ansprechender Kumpeltyp auftritt. Eskapismus spielt – wie auch das Rudermädchen – eine viel bedeutendere Rolle als im ersten Romanteil, und wird im Unterschied zu diesem nun auf eine höchst reale, lebensgefährliche Ebene gehoben. Und bei all dem, soviel sei verraten, hält Jun Do plötzlich die Fäden in der Hand.

Es handelt sich bei diesem Buch um ein literarisches Wagnis und eine Fiktion, auf die es sich einzulassen lohnt – sei es um über ein Land zu reflektieren, dessen gefährliche Politik uns alle tangiert, und über das die meisten von uns wohl viel weniger wissen, als sie glauben. Oder einfach nur, um einer packenden Geschichte beizuwohnen. Denn, zur Erinnerung: Hier wartet ein potenzielles neues Lieblingsbuch.


„Das geraubte Leben des Waisen Jun Do” im März bei Suhrkamp als Suhrkamp Nova Hardcover erschienen und kostet 22,95 Euro.

7 Gedanken zu “Adam Johnson: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do – Ein neues Lieblingsbuch

  1. Ich habe es als sehr interessant empfunden, deine Besprechung zu diesem Roman zu lesen, den auch ich vor kurzem gelesen und besprochen habe. Mir erging es ähnlich wie dir, auch ich war sehr begeistert, auch wenn ich mir mit den Passagen, in denen der Geliebte Führer erwähnt wird, doch etwas schwer getan habe. Dennoch ein sicherlich sensationelles Leserlebnis! :-)

  2. Besten Dank! Natürlich bleibt einem bei den meisten der doch etwas skurrilen Auftritte des literarischen Kim Jong Il das Lachen im Halse stecken – ins Gesamtbild des Romans fügt sich diese Führerfigur aber ganz gut ein… Als reiner Unterhaltungsroman geht “Jun Do” natürlich nicht durch, da heißt es schon: nachdenken und reflektieren ;-)

  3. Pingback: Bernhard Madlener » „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“

  4. Ich kann gut nachvollziehen, dass dieses Buch seinen Weg in die Reihe deiner Lieblingsbücher gefunden hat. Auch ich war begeistert und fasziniert von der verwobenen Geschichte, den Einblicken in eine Welt, in die es keinen Einblick gibt, der Sprache, den Figuren, der Konsequenz, mit der alles geschieht (meine Rezension gibt’s hier: http://www.leselink.de/buecher/abenteuerromane/das-geraubte-leben-des-waisen-jun-do.html ). Immer wieder war ich überrascht, wie Johnson erzählt, und dass das tatsächlich funktioniert (z.B. bei der Einführung von gleich zwei neuen Erzählperspektiven mitten im Buch). Auch ich kann diesen Roman uneingeschränkt empfehlen,

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