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IDIOME – Neue Prosa im Netz | Florian Neuner

Literatur & Kritik

Man muß die mitunter arg kraftmeiernde Prosa in Carl Weissners, des jüngst verstorbenen, für die radikalere US-amerikanische Nachkriegsliteratur so eminenten Übersetzers, spätem deutschsprachigen Début Manhattan Muffdiver nicht für das Gelbe vom Ei halten, um die Prägnanz und Überzeugungskraft der folgenden literaturkritischen Einlassung (18. April 1:33 PM im fiktiven E-Mail-Tagebuch) würdigen zu können:

Das ist die angeblich große amerikanische Literatur von heute, auf deutsch (aber auch im Original schon scheiße); jedes Beispiel von der ersten Seite:

„Meine Gedanken rasten erbärmlich.“ Denis Johnson, Jesus‘ Son (übersetzt hat der deutsche Verleger persönlich).

„Pappbecher kamen seltsam vorbeigehüpft.“ Don DeLillo, Falling Man, Kiepenheuer & Witsch.

Genug! Kotztüten raus!

Zu Protokoll (II)

Eine in der vergangenen Woche in der ZEIT erschienene Rezension beleuchtet den traurigen Tiefstand des Niveaus der Debatten um die Gegenwartsliteratur in den sogenannten großen Feuilletons, auch des literarhistorischen und -theoretischen Wissens von Leuten wie dem Literaturkritiker Ijoma Mangold, der besagten Text verantwortet. Es handelt sich um einen neuen Aufguß des schon lange beliebten Avantgarde-Bashings. Doch gilt die Polemik keineswegs Jürg Laederach oder Franz Josef Czernin – nein, Ziel ist ausgerechnet Felicitas Hoppe. Für oder gegen die Autorin läßt sich gewiß einiges vorbringen. Aber man wird ihren Namen doch kaum nennen, wenn es um besonders avancierte Positionen heutigen (Prosa)Schreibens geht. Für Mangold freilich ist auch ihre Position schon zu steil. Er glaubt, daß die „hymnische Rezeption“ ihres neuen Romans Hoppe „den Charakter eines Manifests“ hat:

Dieser Roman mag mit großem Geschick Locken auf einer Glatze drehen, aber er tut dies in Wahrheit gar nicht um der Locken willen, sondern er ist Politik, Literaturpolitik: Er will das Drehen von Locken auf einer Glatze zum wahren poetischen Glaubensbekenntnis erklären.

Mit dem „Drehen von Locken auf einer Glatze“ meint der ZEIT-Kritiker offenbar jede Art von reflexiver Literatur und erzählender Prosa, die ihre Fiktionalität auf Meta-Ebenen mitverhandelt – im Gegensatz zu autobiographisch scheinbar beglaubigter Romanschreiberei über Kindheiten in den siebziger Jahren oder in Agenturen und im Nachtleben gestresste Großstadt-Existenzen. Daß Hoppe hier als Beispiel für angeblich zu Artifizielles, Ausgedachtes herhalten muß, liegt vermutlich daran, daß Mangold die Bücher, in denen derlei längst konsequenter und konzeptuell anspruchsvoller durchexerziert wurde, gar nicht kennt. Nur nebenbei: Was er hier als Scheingefecht herbeiredet, wurde vor Dezennien einmal tatsächlich und auf weitaus höherem Niveau diskutiert: als Formalismusdebatte etwa Anfang der fünfziger Jahre in der DDR. Mangold aber behauptet:

Im vergangenen Jahrzehnt haben sich alle genuin literaturkritischen Debatten (also nicht: Grass und Israel) immer um die Frage gedreht: Kunst oder Leben? Konstruktion oder Erlebnis? Form oder Inhalt? Künstlichkeit oder Authentizität? Von Maxim Biller über Volker Weidermanns Lichtjahre bis zu Helene Hegemann und Charlotte Roche arbeitete man sich an dieser unfruchtbaren Alternative ab, als gäbe es das eine ohne das andere. Als wäre es für ein ganzes, reiches Leben sinnvoll, sich für eine Seite zu entscheiden. Als hätte die Literatur nicht wie in des Vaters Haus viele Wohnungen. Als wäre es nicht völlig klar, dass Bücher aus Buchstaben bestehen, und als wäre es nicht ebenso offensichtlich, dass diese Buchstaben, je kunstvoller sie gesetzt sind, uns manchmal wahrer als das Leben erscheinen.

Man muß wohl mit der Betriebsblindheit eines Feuilleton-Redakteurs geschlagen sein, um den künstlichen Aufruhr um die Machwerke von Biller, Hegemann & Co., den man selbst mitinszeniert hat, für die „literaturkritischen Debatten“ der letzten Jahre zu halten. Und zumindest hoffe ich, daß es auch an den germanistischen Instituten noch nicht so weit gekommen ist, daß man dort über Bücher wie die von Volker Weidermann diskutiert. Mir wurde schon im ersten literaturwissenschaftlichen Proseminar der grundsätzlich fiktionale Charakter von literarischen Texten nahegebracht. Mit literaturwissenschaftlichem Grundwissen jedenfalls würden sich diese Schein-Oppositionen echt vs. papieren erübrigen. Felicitas Hoppe aber unterstellt Mangold ein naives Calcul:

Alle, so lautet die Prämisse von Hoppe, schreiben diese autobiografisch beglaubigten Romane, mit echtem Blut, mit echten Tränen, mit echtem Sperma, bei denen sich der Leser am wahren Leben weidet – das könnt ihr auch von mir haben, hier schreibe ich euch meine Autobiografie, und dann werdet ihr begreifen, dass der Schriftsteller, je häufiger er „ich“ sagt, nur desto mehr lügt. Weil es in der Literatur nicht um die Wahrheit, sondern um die Einbildungskraft geht.

Der Buchhandel schafft sich ab

Die Zeiten sind lange vorbei, als es in jeder Universitäts- oder größeren Stadt mindestens eine auf Literarisches spezialisierte Buchhandlung gab, die eine Reihe von Literaturzeitschriften vorrätig hielt. Dort konnte man in das Schreibheft oder die horen blättern, um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, ob einen der thematische Schwerpunkt interessierte, prüfen, ob einem die Autorenauswahl der aktuellen manuskripte behagte. Die Hefte sind schließlich nicht ganz billig, und nicht jeder hat das große Herz des Lyrikers, der mir einmal erzählte, er würde jede Zeitschrift sogleich abonnieren, die ihn abdrucke. Sicher, die an Zeitschriften Interessierten haben inzwischen mitbekommen, daß sich der Gang in die Buchhandlungen nicht mehr lohnt und informieren sich im Netz – ein richtiger Ersatz ist das aber nicht. Das Literarische Quartier Alte Schmiede in Wien hat auf diesen Mißstand dankenswerterweise mit der Einrichtung einer „Galerie der Literaturzeitschriften“, einem öffentlichen Leseraum, reagiert.

Als die ersten IDIOME herauskamen, bin ich mit dem Heft in die sogenannten besseren literarischen Buchhandlungen in Berlin, Wien und anderswo gegangen, um festzustellen, daß es wohl erfolgversprechender ist, das sprichwörtliche Sauerbier anzubieten. Wer überhaupt bereit war, zwei, drei Hefte in Kommission zu  nehmen, der räumte sie in den hintersten Winkel des Ladens, um sich ein Jahr später darüber zu beklagen, keine oder zu wenige Exemplare verkauft zu haben. Es war ein Elend, und ich sparte mir diese frustrierenden Ausflüge als Bittsteller bald ganz. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich spreche nicht von Buchkaufhäusern oder modischen Läden, die mehr Café oder Lounge sein wollen, ich spreche von jener Handvoll Buchhandlungen, die als kulturell wertvoll und engagiert gelten. Es ist traurig zu beobachten, wie der Buchhandel sich selbst abschafft, wo es doch nur ein Überlebensrezept gäbe: konsequente Spezialisierung, ein Sortiment, das man nicht in jeder Fußgängerzone findet – vielleicht sogar eine gewisse Auswahl an Literaturzeitschriften. Stattdessen orientiert man sich, wenn man nicht gleich auf den Non-Book-Bereich setzt, ängstlich am mainstream.

Die IDIOME, die in kaum einer Buchhandlung zu finden sind, können gleichwohl in jeder bestellt werden, selbstverständlich auch direkt beim Verlag. Gleichzeitig arbeiten wir aber auch daran, zumindest einige Vertriebsstellen abseits des Buchhandels zu schaffen. Im Moment sind das die Galerie MAERZ in Linz und die Kneipe von Bert Papenfuß in Berlin, Rumbalotte Continua.

Demnächst: IDIOME Nr. 5

In Kürze erscheint die 5. Ausgabe der IDIOME mit Bildern von Urs Jaeggi und einer Reihe von Texten, die einmal mehr unter Beweis stellen sollen, wie weit das Feld der Neuen Prosa ist. In einem einleitenden Essay macht Jürgen Link sich Gedanken über die „ästhetischen Potentiale der Simulation“ und also über die Frage, welche zeitgenössische Relevanz Fiktionen haben können – jenseits des Mainstreams und seiner „heilen erzählwelt“, von der Gerhard Rühm schon vor Dezennien treffend sagte, daß sich dort Autoren wie „frühgealterte Kinder“ tummelten, „bestärkt vom verständnisinnigen lob des durchschnittsdebilen“. Simulation ist auch ein Stichwort, das in die Mitte der Poetik von Jürgen Ploog führt, der in einem ausführlichen Werkstattgespräch Auskunft über sein Verständnis von Cut-up gibt und darüber, wie er als Schriftsteller den Herausforderungen des digitalen Zeitalters zu begegnen versucht.

Auch wieder dabei: eine Reihe von Autoren, die IDIOME-Lesern inzwischen wohl bekannt sind und für die sich die Herausgeber anhaltend interessieren: Crauss, Zsuzsanna Gahse, Ulrich Schlotmann, Stefan Schweiger oder Christian Steinbacher. Erstmals in den IDIOMEN vertreten sind u.a. Ulrich Bogislav, Max Höfler, Felix Philipp Ingold und Barbara Köhler. Und aus Heidelberg hat uns wieder ein fulminanter Text von Jörg Burkhard erreicht, der einmal mehr die Hoffnung nährt, daß Literatur im guten Fall doch (noch) in der Lage sein könnte, es mit der permanenten Katastrophe der Weltlage aufzunehmen. Jürgen Ploog sagt in dem Werkstattgespräch – nicht ohne Hoffnung für die avancierte Prosa auf lange Sicht: „Ich denke, wir befinden uns in der Anfangsphase einer Krise, und in der Anfangsphase verstärken sich oft reaktionäre Tendenzen. Man versucht, das wegzuschieben, bis irgendwann die unausweichliche Erkenntnis kommt, was tatsächlich vor sich geht. Vierjährige gehen heute schon mit dem Computer um. Wie die dann lesen und was sie lesen, das ist die große Frage. Und die Hauptfrage ist: Werden sie überhaupt noch lesen? Wenn ihnen ästhetische Modelle aus dem 19. Jahrhundert angeboten werden, dann bestimmt nicht mehr. Das ist meine Überzeugung.“

Roman?

Es gibt vermutlich keine gesicherten empirischen Erkenntnisse darüber, ob die Käufer belletristischer Bücher wirklich so blöd sind, reflexartig und bevorzugt immer nach jenen Druckerzeugnissen zu greifen, auf denen „Roman“ steht. Die Verlage haben sich jedenfalls angewöhnt, so gut wie alles als Roman zu etikettieren, was in ungebundener Sprache verfaßt ist und den Umfang von etwa 100 Seiten übersteigt. Der Roman ist ein Konzept des 19. Jahrhunderts, das vom literarischen Modernismus im letzten Jahrhundert zur Explosion gebracht wurde. Seither kann ernsthaft nur noch mit den Trümmern gearbeitet werden, die nach dieser Explosion liegengeblieben sind. Das Konzept war, die Zeit und ihre geistigen Strömungen vermittels exemplarischer Figuren-Konstellationen abzubilden, was schon bei Dostojewskij zu höchst komplexen und umfänglichen Konstruktionen geriet. Daß konventionelle Romane noch immer als ernstzunehmende Auseinandersetzungen mit den gegenwärtigen Krisen, der „Globaliserung“ oder was auch immer durchgehen, beleuchtet in erster Linie das Niveau der Literaturkritik. Mit „interpersonal-interaktionistischen Geschichten“ (Jürgen Link) ist heute kein Staat mehr zu machen.

Der Karin Kramer Verlag ist gewiß unverdächtig, mit dem Etikett „Roman“ Jürgen Schneiders Buch potentiellen Käufern als Mainstream-Produkt unterjubeln zu wollen. Es muß damit also eine andere Bewandtnis haben. Schneider hat mit RMX einen 170-seitigen, mit zahllosen Fußnoten gespickten Text montiert, der sich hauptsächlich aus Mediensprache speist und sein Material also aus all den Zeitungen und Magazinen schöpft, die dazu gemacht sind, daß ihre Leser nichts über die Welt oder gar über politische Zusammenhänge erfahren. Es geht in diesen Bruchstücken um Modetrends, um die Kunstschickeria, um Boulevard-Prominenz, Pop, die gerade angesagten Philosopheme oder das oberflächliche Bild, das westliche Medien von der Demokratischen Volksrepublik Korea zeichnen. Lesend wird man in einen Strudel hineingezogen, so daß man bald schon nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht zwischen Christoph Blocher und Cindy Sherman.

Wenn ein Buch es heute unternimmt, die Gegenwart in Worte zu fassen, dann kann das überzeugend nicht mehr mit interpersonal-interaktionistischen Kolportagen geschehen. Dann muß es sich die Sprache der hegemonialen medialen Diskurse direkt vornehmen, so unappetittlich das auch manchmal sein mag. Und wenn diese Texte zerschnitten und dekontextualisiert vorgeführt werden, dann geben sie da und dort am Ende vielleicht doch das preis, was sie verbergen sollen. Bei der Lektüre von RMX ist man hin und hergerissen zwischen Ekel und Amusement. Virtous führt Jürgen Schneider durch eine Geisterbahn, in der es aber auch etwas zu lachen gibt und in der durch die unerwarteten Konfrontationen und Konstellationen immer wieder Erkenntnisse aufblitzen. In einem eher metaphorischen Sinne ist RMX vielleicht sogar ein Roman – oder präziser: Schneider hat eine ästhetische Strategie gefunden, die das leisten kann, was früher Romane geleistet haben und was all die Bücher nimmermehr leisten, die Geschichten von Bankern, Philosophen oder wem auch immer auftischen.

IDIOME in Zürich

In der Reihe „Teppich: offen“, die augenblicklich am Theater Neumarkt in Zürich stattfindet, hatte ich vor einer Woche die Gelegenheit, gemeinsam mit den Schweizer Autorinnen Annette Hug und Elisabeth Wandeler-Deck die IDIOME vorzustellen. Das war im Grunde überfällig, richten die „Hefte für Neue Prosa“ ihren Blick doch immer schon auf den gesamten deutschsprachigen Raum. Elisabeth Wandeler-Deck war bereits im 1. Heft vertreten, wo sie auf die von Lisa Spalt und mir veranstaltete Umfrage „Prosa ist …“ reagierte:

Prosa ist. Das kann behauptet werden. Das wurde behauptet. Plötzlich war sie da, kurz und gut, man hat sie gemacht. Wie schön. Prosa, ja, sie, sie, behauptet sich durch dick und auch durch ein schütteres Gebüsch, da ist alles möglich. Gemacht hat sie sich über die Zeit hinweg, die eine Zeit begründete und andere Zeiten gab es und daher wechselhaftes Wetter. Prosa ist eine Freundschaft von Satz zu Satz bei drückendes Hitze. Unklare Ausgangslage. (…)

In der aktuellen IDIOME-Ausgabe ist Wandeler-Deck mit dem Text „Haben Sie auch schon Schokolade geträumt?“ vertreten. Annette Hugs Auftritt in Zürich war ein Ausblick in die Zukunft der IDIOME. Sie las aus einem Text, der in Heft 5 nachzulesen sein wird. Ich leitete die Veranstaltung mit einer Lesung von Dieter Roths „Prosa“ ein, abgedruckt in Heft 2. Annette Hug und Elisabeth Wandeler-Deck zählen zu den Autorinnen und Autoren, die sich im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Teppich“ in Zürich zu öffentlichen Arbeitsgesprächen über unveröffentlichte Texte treffen.

Florian Neuner liest „Prosa“ von Dieter Roth:

 

Elisabeth Wandeler-Deck liest aus: „Haben Sie auch schon Schokolade geträumt?“:

 

Annette Hug liest aus: „Institution“:

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Vermuteter Treffpunkt des Comités für Neue Prosa in Düsseldorf-Rath

Zu Protokoll (I)

Ich kenne Jürg Laederachs neuen Band Harmfuls Hölle nicht. Ronald Pohl spricht immerhin von „einem Meisterwerk dieses deutschsprachigen Literaturherbstes“. Aber gleichgültig, ob man nun geneigt ist, mit Pohl in Laederach den „Hochseilartisten unter den deutschsprachigen Prosakünstlern“ zu sehen oder nicht – die Rezeption des Buches ist typisch für den Umgang mit neuer Prosa in den tonangebenden Medien. Da Harmfuls Hölle nun einmal als Hardcover bei Suhrkamp erschienen ist, kommt man dort nicht umhin, sich mit dem Werk zu beschäftigen – und faßt es mit demonstrativ spitzen Fingern an. So die Schweizer Kritikerin Pia Reinacher in einem sogenannten Kritikergespräch im „Büchermarkt“ des Deutschlandfunks vor wenigen Tagen. Das sympathische Plädoyer für die Moderne ihres Deutschlandfunk-Kollegen Hajo Steinert focht Reinacher nicht an, die sich mit dem ebenfalls an dem Gespräch beteiligten Martin Ebel einig war in ihrem von Vorurteilen geprägten Halbwissen über die „Lautmaler“ und „Sprachspieler“ und deren „Inhaltslosigkeit“. Folgender Dialog entspann sich zwischen den Kritikern:

Pia Reinacher: Wieso man das Buch eigentlich gar nicht zusammenfassen kann und eigentlich auch nicht wiedergeben, was der Inhalt ist, ist, daß die Sprache eigentlich gar nicht Träger einer Botschaft ist, sondern Selbstzweck. Also, man müßte eigentlich diese Erzählungen mündlich hören: Sie sind lautmalerisch, sie arbeiten mit Neologismen, mit Assoziationen … es sind einfach Sprachpirouetten. Die Frage ist nur: Hat das dieses Ergebnis, wie es z.B. die Lautgedichte von Jandl oder Mayröcker hatten, die Wiener Gruppe, an der er sich ja auch orientiert, die dann die Sprache destruierten, um einen Sinn zu erschließen, indem er die Sprache neu zusammensetzt und eben durch lautmalerische Reihungen irgendein Ergebnis zu bringen, eine Botschaft? Und das kann man hier eigentlich nicht sagen, oder. Was wir eigentlich so komisch finden, ist, daß es um sich selber dreht und man nach 10, 20 Seiten es genervt weglegt.

Hajo Steinert: Ja, aber große Literatur der Moderne, von James Joyce angefangen, Literatur, die, wie Sie sagen, Frau Reinacher, als Selbstzweck betrieben wird, die keine Botschaft vermittelt: Das ist doch eigentlich ein großes Kompliment, wenn das Literarische an sich dasteht. Denn Botschaften haben wir in der Politik, haben wir in der Werbung, haben wir auf dem Theater. Hier ist wirklich reine Literatur, literature pure.

Reinacher: Aber wenn wir das lesen, wird uns eigentlich bewußt, daß Laederach schon ein älterer Herr ist und daß eigentlich die Zeit voranschreitet und diese Hörgewohnheit, die wir da entwickeln müssen, wir die gar nicht mehr haben. Es kommt einem ziemlich altmodisch vor.

… womit Pia Reinacher (gerade mal 9 Jahre jünger als Laederach, aber offenbar fest entschlossen, den Zug der Zeit nicht zu versäumen) auch noch die unterste Schublade des dümmlichen Avantgarde-Bashings aufzog, sich mit ihrem großspurigen „wir“ stets zur Anwältin der an Sprachkunst vermeintlich desinteressierten Mehrheit aufschwingend: mit der contrafaktischen Behauptung, es sei zeitgemäßer oder gar „moderner“, die modernistische Literatur des 20. Jahrhundert zu ignorieren und zu den Romanen und Erzählmustern des 19. Jahrhunderts zurückzukehren. Denn gemäß dieser verqueren Logik ist Innovation und Nonkonformismus ja altmodisch; zurück in die Zukunft des literarischen Neo-Biedermeiers.

Der sogenannte Nebenkanon

D. Holland-Moritz erfuhr seine ästhetische Sozialisation im Westberliner underground der achtziger Jahre. Man tut ihm gewiß nicht unrecht und zieht nicht voreilig eine Schublade auf, wenn man das betont, bilden die Szene-Erfahrung auf der Insel Westberlin und seine popkulturelle Sozialisation im Rheinland der siebziger Jahre doch vom Autor auch in seinen Gegenwärtiges kommentierenden Einlassungen ständig präsent gehaltene Referenzpunkte. Nach Fan Base Pusher legt Holland-Moritz mit Promoter. Ein Magazin nun einen weiteren Band vor, in dem er – mal eher tagebuchartig, mal zu Miniatur-Essays sich aufschwingend, mal Materialien als nackte Zitate für sich sprechen lassend – über Ereignisse vornehmlich der Berliner Kulturszene raisonniert, und zwar in erster Linie dort, wo Veteranen jener Achtziger-Jahre-Szene hervortreten, arriviert inzwischen oder kaputt oder beides: in der Galerie der Laura Mars Grp., im „Goldenen Hahn“ oder in der Galerie Nord; Holland-Moritz ist ihr treuester und geduldigster Chronist. Immer wieder kommt er auch auf die von ihm mitorganisierten Veranstaltungen des Vereins perspektive literatur berlin e.v. zu sprechen. Der Tatsache, daß ich der Redaktion der gleichnamigen Grazer Zeitschrift, die Holland-Moritz‘ wichtigstes Medium darstellt, drei Jahre lang angehörte, erklärt wohl, warum er sich – sozusagen am Rande des skizzierten Feldes – auch hin und wieder meinen Aktivitäten zuwendet. Zur ersten Berliner IDIOME-Präsentation im Februar 2008 bemerkt Holland-Moritz:

In die Waagschale des Nebenkanons geworfen als ein Fang, der bereitwillig ins Netz geschwommen kam und an den Haken genommen von Jörg Drews in der Literaturwerkstatt der Kulturbrauerei: Idiome – ein Heft pro Jahr zum Stand neuer Prosa, hrsg. von Florian Neuner und Lisa Spalt in Oberösterreich, eine Textsammlung gegen den Mainstream aus den anderen avancierten Foren: ,,Da brauchen wir Foren“, bemerkt auch Drews und beklagt den Standard marktgerechter Prosa: Die könne ja zum Beispiel die komplexen wirtschaftlichen Vorgänge um sie herum gar nicht mehr bewältigen, die psychologisiere ja auch nicht mehr, und ob da nicht mehr nicht-narrative Konzepte gefragt seien. Nur, wie betreibt man Menschenfischerei abseits der traditionellen Fanggründe des Romans (auf ohnehin restringierenden Walwanderwegen) und seiner künstlichen, antibiotikaverseuchten Lachsfarmen?

Butter bei die Fisch, folgende Aufrufe in der kleinen Auktionshalle an der Knaackstraße:

Florian Neuners Prosa-Stadtgänge sind Ausdrücke einer Stagnation, ein zuweilen aufmüpfig vor sich hin brummelnder Ruhrgebiets-Stream of consciousness, zwischen Reklamen, Bistros, Kneipen und Bordellen auflaufend und auch deren Kundschaft nicht ausklammernd;

Ulrich Schlotmanns manieristische Entwendungen aus dem idiomatischen Wörterbuch deutscher Sprachkonvention haben Humor, provozieren mitunter in ihrer Vulgarität, erreichen ihr Publikum, aber leider nur in der Performance;

Stefan Schweiger, der mit seinen Splittern den philologischen Mulch der Geistesindustrie zu neuem organischem Rohstoff recycelt – leider steigt sein Publikum aus, das ist ja immer so eine Sache;

Lisa Spalts Entwicklung von Krimi-Elementen in einem Meta-Ansatz, der sich interlinear hineinschiebt in brachliegende Räume der Rezeption, vorgemacht von diversen Autoren in der New Wave der Science Fiction seinerzeit.

Man könnte diese Texte wie >treibende Inseln< träumen, die an Sandbänken vorbei einen Fluß hinab ins Schwemmland driften. Vielleicht, um sich mit einem Flamingo-Reservat zu verflechten oder doch nur, um in die Binsen zu gehen?

Mit dem sogenannten Nebenkanon ist es so eine Sache – eine Debatte, die mir gut aus perspektive-Zeiten erinnerlich ist: Nebenkanon, das sind oder dorthin streben die, die vermeintlich ein klitzekleines Stück weiter arriviert sind als man selbst, für Außenstehende in aller Regel gar nicht wahrnehmbar. So zu argumentieren setzt voraus, die „feinen Unterschiede“ sehr stark und zudem plausibel zu machen, warum das Publizieren in der einen staatlich subventionierten Literaturzeitschrift eine größere anti-kanonische credibility für sich beanspruchen darf als in einer anderen, warum die in der literarischen Reihe des Ritter Verlags erscheinenden Texte keinen „Nebenkanon“ bilden wollen, sehr wohl aber die von Urs Engeler oder wem auch immer herausgegebenen. Vor der Folie des von Holland-Moritz so gerne beschworenen undergrounds freilich würde derlei Rabulistik ohnehin nicht verfangen und als durchschaubares Ablenkungsmanöver abgelehnt werden müssen wie die gesamte am Rand des Hochkultur-Literaturbetriebs ausgehaltene Kleinverlags- und Zeitschriften-Szene. Dann gälte es, sich andere, tatsächlich unabhängige Wege des Publizierens zu bahnen, ernsthaft an so etwas wie Gegenöffentlichkeit zu arbeiten …

Aber Holland-Moritz geht noch weiter und suggeriert mit dem Bild von der Auktionshalle, es sei damals nicht bloß um das Réussieren im „Nebenkanon“ gegangen, sondern gar um einen Vorstoß dorthin, wo die Fleischtöpfe tatsächlich (oder vermeintlich) stehen. Denn mit einem Platz als Quoten-Experimenteller am Katzentisch des Betriebs hat sich ja auch noch niemand eine goldene Nase verdient. Nicht ohne Häme verweist Holland-Moritz darauf, daß dieses von ihm unterstellte Ziel doch unerreichbar bleiben muß und beruft sich dabei auf das Publikum, das an jenem Abend übrigens zahlreich erschienen war und mit dem die IDIOME-Herausgeber durchaus argumentieren könnten, wenn sie der Meinung wären, daß der Erfolg irgendjemandem recht gibt – und suggeriert, daß es gegen Stefan Schweigers hochreflexive Prosa spricht, wenn diese beim ein- bzw. erstmaligen Hören möglicherweise nicht ohne weiteres aufgefaßt werden kann und gegen Ulrich Schlotmanns Texte, daß dieser sie publikumswirksam darzubieten versteht (was ihn nebenbei mit Holland-Moritz verbindet).

Ich weiß bis heute nicht, warum Lisa Spalt und ich mit den IDIOMEN damals in die literaturWERKstatt eingeladen wurden, die sich in letzter Zeit kaum noch für Sprachkunst außerhalb des stets wohlbestellten Lyrik-Schrebergartens interessiert. Von diesem Ereignis bleibt retrospektiv in erster Linie das Glück, Jörg Drews ein Jahr vor seinem Tod begegnet zu sein und die Dankbarkeit, daß er seinen Namen hergab für ein junges Zeitschriften-Projekt, das er unterstützenswert fand. Mit dem „Nebenkanon“, das darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, gab ein Jörg Drews sich allerdings gar nicht erst ab: Er stritt für die Anerkennung von Hartmut Geerken, Dieter Roth oder Paul Wühr als den relevanten Figuren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur – nicht neben, sondern anstelle von Grass, Walser & Co. Davon ist seine Rezensionssammlung Luftgeister und Erdenschwere ein schönes Zeugnis, die man als eine alternative Literaturgeschichte der Nachkriegszeit lesen kann.

IDIOME an der Ruhr


Photo: Erwin Wiemer

Am 4. November durfte ich im Atelierhaus Alte Schule in Essen gemeinsam mit Urs Jaeggi die aktuelle 4. Ausgabe der IDIOME vorstellen. Die Künstlerin Doris Schöttler-Boll hat dort einen überaus lebendigen Ort für Begegnungen und Debatten geschaffen und bringt es fertig, Brücken nicht nur zwischen akademischen Diskursen und den Künsten zu schlagen, sondern auch zu interessierten Laien. Das habe ich woanders so noch nicht erlebt. Seit 1999 veranstaltet Schöttler-Boll im Atelierhaus, das auch ihr Wohn- und Arbeitsort ist, die Reihe »Personen Projekte Perspektiven«, die der Bochumer Künstler Matthias Schamp als einen »Salon des 21. Jahrhunderts« bezeichnet hat. Die Liste der Gäste ist beeindruckend und umfaßt u.a. Elke BippusHarun Farocki, Claudia Gehrke, Jürgen Link, D.E. Sattler, Timm Ulrichs. Auch Urs Jaeggi war von Anfang an mit dabei.

Anders als bei den IDIOME-Veranstaltungen in den Wiener und Berliner Literaturhäusern fand ich in Essen ein nicht nur interessiertes, sondern auch debattenfreudiges Publikum. Karl-Heinz Gajewsky ist die Dokumentation des Abends in Essen-Steele zu verdanken, an dem Tim Cierpiszewski auch seine in den IDIOMEN Nr. 4 abgedruckte Bildserie projizierte. Seit einigen Jahren arbeitet Gajewsky an einem ständig wachsenden Audio-Archiv, mit dem er das literarische Leben im Ruhrgebiet dokumentiert. Man findet dort nicht nur alle namhaften, im Ruhrgebiet lebenden Autoren von Jürgen Link bis Wolfgang Welt, sondern auch Vorträge und Diskussionen, etwa Rolf Parrs Essener Antrittsvorlesung mit dem Titel »Wie Walter Höllerer den Literaturbetrieb neu erfand« – und diese Ausschnitte aus der IDIOME-Veranstaltung:

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