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no. 24: wildwüchsige autobiographien -> autobiographische narrationen
 

Jede Narration ist Dihärese

Eine Reaktion auf Galen Strawson

von Stephan Packard

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* literatur
* druckbares
* diskussion

In Auseinandersetzung mit Galen Strawsons Unterscheidung zwischen 'diachronischer' und 'episodischer' Selbstwahrnehmung -- d.h. zwischen der Konstitution des eigenen Ichs mit Hilfe einer durch die Zeit kontinuierlich erzählten Geschichte und der Bildung einer eigenen Identität allein mittels Konzentration auf das gegenwärtige Erleben -- entwickelt der Artikel eine alternative Konzeption: Die für das episodische Ich charakteristische Doppelung aus aktueller Selbstempfindung und dem Bewußtsein von der Existenz eines hiervon unterschiedenen Ichs in der Vergangenheit bzw. Zukunft, ist selbst wiederum typisch für autobiographische Narrationen, in denen Erzähler-Ich und erzähltes Ich aufeinander treffen.

 

Menschen denken in Erzählungen: Die Beobachtung ist kaum von der Hand zu weisen, aber Galen Strawsons Zweifel zeigen, wie wenig damit gesagt ist.

Da Erzählungen existieren und da sie nicht existieren könnten, ohne von Menschen gedacht zu werden, denken Menschen offensichtlich narrativ. Mehr noch, es läßt sich beobachten, daß Menschen von sich selbst narrativ denken. Aber zu leicht wird diese einfache Tatsache zu einer Universalie verallgemeinert. Daß manche menschlichen Gedanken narrativ sind, heißt noch nicht, daß alles oder alles erfolgreiche Denken narrativ sein oder alle Selbstentwürfe nach Narrativität streben müssen. Strawson führt vor, wie viele der Argumente für die starke Narrativitätsthese reine Existenzbeweise sind und nur nachzeichnen, daß irgendwo einmal narrativ gedacht wurde -- und nicht, daß dies überall geschieht und keine Alternativen existieren. So kann er die empirisch stärkere Position einnehmen, indem er die Allaussage abschwächt: Nicht alle Menschen versuchen, narrativ von sich zu denken, sondern nur manche; und was die doppelte ethische Modalität dieser psychologischen These angeht, so verneint er sowohl, daß alle Menschen narrativ von sich denken können, als auch, daß sie es sollten. Manche sind von Natur aus nicht dazu gemacht, so seine These, und es wäre sogar falsch, diese Menschen zu einem narrativen Selbstverständnis bewegen zu wollen.

Strawson präsentiert damit Diachronizität als eine begriffliche Teilung, eine porphyräische Dihärese: Wie sich die Dinge in die belebten und die unbelebten aufteilen lassen und die Lebewesen wiederum in die vernunftbegabten und die unvernünftigen, so sollen die Vernünftigen in Episodiker und Diachroniker auseinanderfallen. In Strawsons Ontologie ist der schwierige Begriff der Narrativität selbst zwar recht vielfältig differenziert in die Diachronizität der kontinuierlichen Selbstwahrnehmung, die Formfindung, das Geschichtenerzählen und das Fabulieren der Revisionisten, so daß es Fälle von Menschen geben kann, die diachronisch, aber nicht formfindend; die Geschichtenerzähler, aber keine Revisionisten sind. Diachronizität aber zerteilt die Menschheit in zwei komplementäre Teilmengen, in +D und -D. Freilich können Diachroniker nicht-diachrone Episoden erleben und Episodiker einen zeitweilig diachronen Zugang zu früheren oder späteren Zuständen ihres kontinuierlichen Selbst finden, aber dennoch handelt es sich grundsätzlich um eine 'individual difference variable', ja um eine genetisch veranlagte. Während Diachroniker daran glauben, daß sie in einem besonderen Sinn dieselbe Person sind wie in ihrer entfernten Zukunft und Vergangenheit, und dazu neigen, ihr Leben und ihr Selbst in der Weise einer Narration wahrzunehmen, haben Episodiker eine andere genetische Disposition. Sie kommen von sich aus nicht auf den Gedanken, sich selbst über ihre Vergangenheit oder Zukunft zu verstehen, und wir tun nicht gut daran, es von ihnen zu verlangen. Soweit Strawson.

Schon Aristoteles warnt uns in seiner Auseinandersetzung mit der Dihärese (Analytica Posteriora II 5), daß eine solche bloß begriffliche Aufteilung in Alternativen noch keine Erkenntnis darüber verbürgt, was ein Ding eigentlich sei. Deduktiv zwingend ist die Dihärese erstens nur, wenn sie ihren Oberbegriff restlos dividiert: Darum ist es entscheidend, daß Diachronizität und Episodizität kontradiktorische Gegenbegriffe sind, deren einen man nicht verneinen kann, ohne den anderen zu behaupten. Und eine vollständige Deduktion "ist es dennoch nicht", so Aristoteles weiter, "sondern wenn überhaupt, so bringt man auf andere Weise eine Kenntnis zustande. Und dies ist in keiner Weise abwegig, denn auch wer eine Induktion durchführt, demonstriert vielleicht nicht, macht aber dennoch etwas klar. [...] So wie [...] wann immer jemand sagt, daß wenn diese Dinge der Fall sind, dieses notwendig ist, es möglich ist zu fragen warum, so auch bei den auf Begriffsteilungen beruhenden Definitionen." Dazu muß aus anderen Gründen belegt sein, weshalb sich dieser Oberbegriff und diese Distinktion zueinander verhalten sollen: "Was ist ein Mensch? Lebewesen, sterblich, mit Füßen versehen, zweifüßig, ohne Flügel; warum, in Hinsicht auf jeden Zusatz?" (Ibid., 91b)

Hält die Anwendung der Unterscheidung von Diachronizität und Episodizität auf den Oberbegriff der Menschen eine solche Nachfrage aus? Diachrones und episodisches Denken sind ihrem Wesen nach zunächst als eben dies bestimmt: Als zwei Arten des Denkens. Wenn wir vorsichtig sind und zunächst nur annehmen, daß damit zwei verschiedene kognitive Vorgänge beschrieben sind, ohne daß notwendigerweise jeder Mensch vollständig der einen oder der anderen Kognition gehört, können wir vielleicht besser verstehen, was diese Differenz bezeichnet. Natürlich müssen, wie die Erzählungen, so auch diese beiden Denkprozesse an Menschen gebunden sein, die sie denken. Aber es ist nicht gesagt, daß das Vorkommen einer der beiden Kognitionen den Menschen bestimmt. Vielleicht läßt sich nur beobachten, daß ein gewisser Mensch irgendwo einmal diachronisch gedacht hat, ohne daß er das überall tut. Es gibt Alternativen.

 

Kognitive Dihärese

Eine dieser Alternativen betrifft die Vorstellung, Diachronizität sei genetisch veranlagt. Wenn ein Mensch episodisch und diachronisch denken kann, zu verschiedenen Zeiten oder gleichzeitig, ist er offenbar zu beidem befähigt; dann entscheiden auch keine Beschränkungen seiner Fähigkeit darüber, welche Denkweise zum Einsatz kommt. Suchen wir also nach äußeren Beweggründen für die Entwicklung und den Einsatz beider kognitiver Techniken. Viele Überlegungen der Vertreter der Narrativitätsthese legen ohnehin nahe, daß narratives Selbstverständnis kulturell gefördert werden kann: So weisen etwa Mark Freeman und Jens Brockmeier in ihrem Aufsatz über "Narrative integrity" in Anlehnung an Gurewich darauf hin, daß das griechische Altertum keine Autobiographien in ihrem Sinne gekannt habe; dieses besondere autobiographische Selbstverständnis habe erst mit Augustinus' Confessiones wirklich Fuß gefaßt. Diese Verankerung stärkt auch die ethische Dimension der These, indem sie narrative Selbsterkenntnis eng mit christlicher Bekehrung, Selbstprüfung und der Neuausrichtung des eigenen Lebens auf bestimmte moralische Werte hin verbindet. Wenn aber historische Differenzen zwischen der Verbreitung von diachronem Selbstverständnis im vor- und nachaugustinischen Zeitalter bestehen, dann ist es unwahrscheinlich, daß sich diese Entwicklung auf genetische Veränderungen zurückführen läßt. Wenn andererseits Strawson recht hat und die genetische Veranlagung über die Diachronizität der Menschen bestimmt, dann müßten wir annehmen, daß der kulturelle Wandel ungeachtet der tatsächlichen Verhältnisse den Menschen Autobiographien für ihre Selbstfindung verschrieben hat und damit an ihrem wirklichen Leben bestenfalls vorbeigegangen ist, schlimmstenfalls Selektionsdruck zugunsten von Diachronizität ausgeübt haben könnte.

Sparsamer wäre es, anstelle von zwei differierenden Quellen für diachrones Denken in Kultur und Individuum nur eine Quelle anzunehmen, die sich im anderen Bereich spiegelt. Der Anthropologe und Linguist Terrence Deacon hat vorgeschlagen, Richard Dawkins' Memetik -- die das evolutionäre Verhalten von sozialen und kommunikativen Formen beschreibt, die sich entweder über große Populationen von Menschen reproduzieren oder von anderen, besser angepaßten Formen verdrängt werden -- in dieser Weise zu vereinfachen: Statt Meme, die Gene dieser zweiten Evolution, in sich reduplizierenden Exemplaren sozialen Verhaltens zu suchen, sieht er sie in exterioralen, materiellen Zeichen, in den Repräsentamen und kulturellen Artefakten, in deren Kontext sich die Entwicklung jedes neu entstehenden menschlichen Gehirns vom Embryo an adaptiv verhält -- und ein ähnlicher Gedanke liegt auch Deacons Aufassung vom Sprachursprung zugrunde: Aus vorangehenden Generationen stammende Veränderungen in diesen Exoskeletten der Kultur könnten sich so in den Phänotypen der Menschen spiegeln, ohne daß das Genom auf diese Änderungen reagiert; es muß nur alle erforderlichen Fähigkeiten grundsätzlich bereitstellen.

Welche Exteriorialität könnte das Design für diachrones Selbstverständnis speichern? Welcher Anforderung könnte der Geist gerecht werden, indem er seine Fähigkeit zur Diachronizität entwickelt? Erstens kommt dafür der Bedarf nach Selbstdarstellung in zwischenmenschlicher Kommunikation in Frage. Man könnte etwa annehmen, zur Vermittlung bestimmter Arten von Information sei es notwendig, für diese eine besondere Form zu finden, und die Form einer Geschichte eigne sich eben besonders gut, individuelle Charakteristika zu codieren. Strawson kommt dieser Auffassung recht nahe, wenn er die Eigenschaften des Geschichtenerzählers von 'begabten Journalisten und Historikern' verwirklicht sieht, die informieren, indem sie Geschichten erzählen. Mehr noch, viele der Existenzbeweise für narratives Selbstverständnis enthalten eine solche kommunikative Vermittlung: Jerome Bruner etwa, den Strawson als einen der entschiedensten Propagaten der starken Narrativitätsthese anführt, beruft sich häufig auf Studien, in denen er mit Kollegen "spontane" Autobiographien gesammelt hat. Versuchspersonen wurden aufgefordert: "Erzählen Sie uns Ihre Lebensgeschichte." (So etwa in "Self-making and world-making", 25.) Wenigstens für diese Fälle, in denen die Spontaneität immerhin eingeschränkt gewesen zu sein scheint, könnte ein Artefakt vorliegen: Vielleicht wird die Fähigkeit zum Geschichtenerzählen gar nicht aufgerufen, wenn Menschen versuchen, ihr Leben für sich zu konzeptualisieren, sondern genau dann, wenn sie sich bemühen, es anderen mitzuteilen. Diese Form der Selbstbeschreibung könnte damit ein rein sprachliches Phänomen sein und sich in der lingualen Kompetenz der Geschichtenerzähler erschöpfen.

Indessen ist die besondere Formfindung, die sich im Geschichtenerzählen niederschlägt, von der bloßen Diachronizität verschieden. Laut Strawson kann man Diachroniker sein und dennoch außerstande, über sein Leben in einer solchen geschlossenen Form zu reflektieren; er führt Stendhal als Beispiel an, der zwar Material sammelte, in dem er als kontinuierliches Selbst über Vergangenheit und Gegenwart hinweg erscheint, dies jedoch nur in 'chaotischen' Texten niederschreiben konnte. Diese zweite Anforderung, auf die Menschen mit diachronen Denktechniken reagieren könnten, trifft wohl ins Zentrum der starken Narrativitätsthese: In dieser Vorstellung verwenden Menschen Diachronizität tatsächlich, um sich ein Konzept von ihrem eigenen Leben zu machen. Davon muß eine dritte Anforderung unterschieden werden, die der ethischen Modalität der Narrativitätsthese entspricht: Hiernach reagieren Menschen zwar nicht auf das bloße Bedürfnis, ihr Leben begrifflich zu fassen, diachron; wohl aber auf die Aufgabe, ihr Leben auf das Gute hin zu orientieren. In diachroner Kognition spiegelt sich dann weder wesentlich zwischenmenschliche Kommunikation noch das menschliche Leben, sondern das Gute oder wenigstens die Relation dazu.

Wichtig ist, daß in keinem dieser Modelle diachrones Denken unmittelbar die Struktur einer äußeren, kulturübergreifenden Realität widerspiegelt. Die Quelle der diachronen Struktur liegt also nicht in einer Wahrheit des Lebens als solchem, dem die Kognition mit einem adäquaten Abbild nachzukommen sucht. Wenn sich Diachronizität an einer reinen Wahrheit orientiert, dann an der des Guten, dem das Leben gerade nicht vollständig entspricht. Insofern aber das Leben konzeptualisiert werden soll, stellt diachrones Denken immer eine von mehreren Optionen dar. Das gilt nicht erst für Strawsons Gegenüberstellung des Diachronikers und des Episodikers, sondern schon für die Vertreter der Narrativitätsthese. Wer ihr in seiner ethischen Modalität anhängt, läßt ohnehin verschiedene Konzeptualisierungen des Lebens zu: Er könnte sonst die gute nicht von der schlechten Wahl unterscheiden. Und auch die Anhänger der starken Narrativitätsthese sehen im narrativen Selbstverständnis eine Alternative zu anderen Zugängen zur Wirklichkeit. Bruner etwa entwirft die "Selbst-Erzählung" als Alternative zum "logischen Denken" schlechthin; "ganz verschieden" sei sie "von vernünftigem Schlußfolgern: die Form des Denkens, die nicht der Konstruktion von logischen oder induktiven Argumenten, sondern der von Geschichten oder Erzählungen zugrundeliegt." ("Life as Narrative", 691) Will man nicht dem logischen Denken jede strukturelle Affinität zur Wahrheit absprechen, kann narratives Denken dann nicht der einzige Weg zur Wahrheit sein.

In dieser Hinsicht hat Strawson in seinen Überlegungen zum Revisionismus die Vertreter der ethischen Narrativitätsthese vielleicht zu sehr in Schutz genommen, wenn er sagt, daß sie "ethisches Gelingen kaum wesentlich von falschen Darstellungen abhängig machen wollen" und also nicht daran glauben, daß die Selbstwahrnehmung in Narrationen das Fabulieren begünstigt, indem das eigene Leben geschönt (oder, wie Strawson zurecht ergänzt, pessimistisch geschwärzt) wird. Denn insofern narratives Denken eine von mehreren realitätsadäquaten Alternativen darstellt, ist die Entscheidung für diese Option stets auch eine Anverwandlung und damit eine Veränderung, eine Selektion und kreative Integration eines auch anders gegebenen Materials.

In einer solchen Optionalität läßt sich in den drei verschiedenen Modellen die Dihärese zwischen Episodizität und Diachronizität statt auf die Menschheit auf die Menge der menschlichen Kognitionen anwenden: Ein einzelner Mensch könnte damit nacheinander oder sogar zugleich episodische und diachrone Verstehensprozesse unterhalten.

Man könnte sich darunter in einer ersten Näherung etwa modular getrennte, aber interagierende Funktionen des Geistes vorstellen, die jeweils diachrone oder episodische Manipulationen vornehmen, und deren episodische oder diachrone Outputs miteinander konkurrieren und sich genau dann durchsetzen, wenn sie den memetischen Anforderungen des exteriorären Kontexts angepaßt sind. Damit sie sinnvoll diachron oder episodisch heißen können, müssen alle in Frage kommenden Vorgänge die Konzeptualisierung des Selbst betreffen; und sie hießen dann zurecht diachron, wenn sie das Selbst als kontinuierliche Existenz über Zeit hinweg verstünden, dagegen episodisch, wenn sie das Selbst in einer synchronen Situation konzipierten.

Diese erste Näherung bedarf einer weiteren Klärung, denn es bleibt von entscheidender Bedeutung, daß die Dihärese die ihr zugrundeliegende Menge der das Konzept vom Selbst betreffenden Kognitionen vollständig aufteilt. Das Gegenteil von Diachronizität ist durch die Abwesenheit von Diachronizität, oder aber das Gegenteil von Episodizität durch die Abwesenheit von Episodizität vollständig beschrieben. Strawsons Schreibweise in -D und +D legt nahe, daß es die diachrone Alternative ist, die einen positiven Gehalt hat: Episodisches Denken wäre dann genau insofern episodisch, als es nicht mit diachronem Denken interagiert; diachrones Denken bestünde gerade in der Beteiligung, nicht dem ausschließlichen Vorhandensein, diachroner Konzeptualisierungen.

Aber ist es nicht gerade diese Beteiligung, die Interaktion zwischen episodischem und diachronem Selbstverständnis, die Strawson als die grundlegende Erfahrung des Episodikers beschreibt? Auch ein Episodiker hat laut Strawson sehr wohl ein Bewußtsein für die Tatsache, daß er in einem bestimmten Sinne derselbe Mensch ist, dem in der Vergangenheit dieses und jenes zugestoßen ist, und um dessen Zukunft er sich sorgt, wenn er in der Gegenwart gezielt handelt. Gegenüber dem Diachroniker zeichnet sich der Episodiker dadurch aus, daß er noch ein zweites Selbst von sich konzipiert, ein Selbst als "innere, mentale Einheit" -- und dieses Selbst* wird nicht mit dem kontinuierlichen Selbst des diachronen Denkens für identisch gehalten. Der Diachroniker kennt demnach entweder kein Selbst* oder kennt es zwar, identifiziert es aber mit dem kontinuierlichen Selbst. Der Episodiker weist nicht nur diese Identifikation von sich, sondern er scheint sein Selbst* nicht zuletzt gerade in der Abgrenzung zum kontinuierlichen Selbst zu konzipieren; und er tendiert sogar dazu, sein Selbst*verständnis moralisch für wertvoller zu halten als das kontinuierliche Selbstverständnis der anderen. Damit bleibt er sich der Alternative offenbar bewußt. Dieses doppelte Selbst des Episodikers ließe sich gerade als Funktion gleichzeitig ablaufender diachroner und episodischer Kognitionen erklären.

 

Narrative Dihärese

Die episodische Erfahrung lebt dann von einer ständigen Spannung im Selbstverständnis: Die episodische Identität oszilliert über die Distanz der nur optionalen, aber nicht verwirklichten Identifikation zwischen dem Kontinuum des Selbst und dem episodischen Selbst*. In dieser Spaltung wiederholt sich noch einmal die Dihärese zwischen Diachronizität und Episodizität als eine Trennung zwischen zwei zugleich unterhaltenen, getrennt bewußtseinsfähigen Konzepten von der eigenen Person. Strawson erinnert sich daran, wie Strawson einmal aus einem Boot gefallen ist: Diese Erinnerung steht ihm zur Verfügung, und ihm stehen zugleich Konzepte zur Verfügung, die es ihm erlauben zu glauben, daß der Stürzende in einem Sinne er selbst ist; darüber hinaus aber verfügt er über eine weitere Konzeption seines Selbst*, die es ihm erlaubt, seine kontinuierliche Existenz in der Zeit von seiner Selbst*wahrnehmung in der Gegenwart zu trennen. Dabei stellt sich ihm jedoch bewußtseinsfähig die Frage nach ihrer Identität oder Nichtidentität: Daß sie beide mit einer materiellen Person korrespondieren, ist dieser gemischten Kognition nicht fremd.

Strawson behauptet nun, eine episodische Erfahrung animiere eher nicht dazu, sie und das Leben überhaupt narrativ zu verstehen. Aber ist nicht gerade diese Spannung der optionalen Identifikation ein wesentliches Moment der Erfahrung von Erzählungen? Und gibt es dann überhaupt noch wirkliche Diachroniker -- gibt es Menschen, die diese Spannung nicht erfahren?

Daß die Erfahrung dieser kognitiven Dihärese selbst narrativ ist, wird nicht nur dadurch plausibel, daß etliche der Kronzeugen, die Strawson als Episodiker anführt, Autobiographen sind: Henry James, Virginia Woolf, und eben nicht zuletzt Stendhal, worauf John Eakin in einem Beitrag hingewiesen hat, der auch deshalb bemerkenswert ist, weil Eakin darin sich selbst gegen Phelans Beschreibung verteidigt, wonach er Anhänger der starken Narrativitätsthese und Diachroniker sei -- er habe vielmehr sehr wohl wesentlich episodische Erfahrungen von verschiedenen 'Selbsten'. Vor allem scheint es, als wäre die Verhandlung über diese Spannung der Identität zwischen Person und Charakter, zwischen Kontinuum und Situation des Selbst eine der wesentlichen Kennzeichen narrativer Aktivität. Strawsons Unterscheidung zwischen kontinuierlichem Selbst und gegenwartsbezogenem Selbst* löst jene Spannung anders auf, die Ricoeur zwischen den Polen von idem und ipse beschrieben hat (Bd. 1, 488f.). Während Strawson die narrative Begabung auf die Seite der Konzeption des kontinuierlichen idem stellt, weist Ricoeur gerade die Fähigkeit zur Integration mehrerer diachroner Zustände des Selbst als Kennzeichen der narrativen Identität des ipse aus.

Wenn uns Strawson berichtet, daß er aus einem Boot gefallen ist, dann tut er das in diesem Sinne wesentlich in der Form einer Erzählung, und zwar gerade weil er dabei unterscheidet zwischen dem Selbst*, dem diese Informationen zur Verfügung stehen, das aber nicht an der Episode beteiligt ist, sondern sie erzählt; und dem anderen Selbst, zu dem er nicht zuletzt durch die interne Fokalisierung, die Sicht 'von innen', Zugang gewinnt. Mehr noch, sobald er jene Episode in dieser Form gefaßt hat, kann er spekulieren, wie sie statt dessen in einer anderen narrativen Option zu verwirklichen wäre: Denn er charakterisiert die Weise, in der er erzählt, als "nicht so, als würde ich einen Film von meinem Sturz sehen, den ein Dritter aufgenommen hätte ('von außen')." Die verschiedenen Fokalisierungen und die Möglichkeit einer Oszillation zwischen ihnen erwachsen gerade aus der problematisierten grundlegenden Oszillation zwischen Selbst und Selbst*.

Damit beruht Strawsons Introspektion zwar ganz wesentlich auf einem episodischen Anteil an seiner Kognition. Sie weist ihn jedoch nicht eindeutig als Beispiel für einen Menschen aus, der nicht narrativ denkt. Offen bleibt indessen die Frage, inwiefern es auch 'reinere' Diachroniker gibt, bei denen die Interaktion zwischen episodischer und diachronischer Kognition nicht in eine solche narrative Spannung mündet, sondern durch eine einfache Identifikation beider Selbstkonzepte aufgelöst wird. Auf jeden Fall existieren theoretische Reflexionen über narratives Selbstverständnis, die sich lesen lassen, als würde der narrative Selbstentwurf die narrative Dihärese schließen: Zwischen der starken (+D +F +G +R) Position und jener (+D +F +G -R), die eine solche Überbrückung der Identitätsspannung nicht einmal als Fabulation betrachtet. Aber entsprechen ihnen auch rein diachronische Lebenserfahrungen? Eine solche Erfahrung dürfte kein Selbst* konzeptualisieren, ohne es sofort mit einer aktiv als kontinuierlich vorgestellten Konzeptualisierung des Selbst zu verbinden. Mir scheint die Existenz solcher Menschen unwahrscheinlich; auszuschließen ist sie wohl nicht.

Ist eine solche unwahrscheinliche entspannte Narration vom eigenen Selbst das Ziel der narrativen Ethiker, die demnach darauf beharren müßten, der Mensch könnte die narrative Dihärese jederzeit schließen und sollte es auch tun, um sein Leben auf das Gute auszurichten? Man könnte einen solchen Standpunkt etwa formulieren als den Wunsch, das eigene Leben nicht als Narration zu erzählen, denn dazu gehört die narrative Dihärese zwischen kontinuierlichem Selbst und Selbst*, sondern als Narration zu leben. Es lohnt sich jedoch, zwischen der Ausrichtung auf das Gute und dem Guten begrifflich zu unterscheiden, gerade weil es dadurch möglich wird, die beiden sinnvoll miteinander zu identifizieren, wie es Strawson etwa von MacIntyre zitiert, der erklärt, "das gute Leben [sei] das Leben, das mit der Suche nach dem guten Leben für einen Menschen zugebracht wird." Wenn die Orientierung auf das Gute der Schließung der narrativen Dihärese bedarf, muß das Gute deshalb noch nicht eine geschlossene Dihärese voraussetzen. Eine durchaus wiederholbare Schließung mag gerade in ihrer bewußten Problematisierung der Dihärese jene Reflexion über das eigene Leben enthalten, die eine Neuorientierung auf das Gute hin erlaubt.

Augustinus steht für Strawson ganz oben auf der Liste der auffälligsten, der ostentativsten Diachroniker, und es ist unbestreitbar, daß seine Confessiones moralische Bekehrung narrativ fassen. Aber gerade in der Weise, in der sie Narration für ethische Orientierung nutzen, scheinen sie die narrative Dihärese bewußt und produktiv durchzuspielen. "Da mihi castitatem et continentiam, sed noli modo." schreibt Augustinus an einer vielzitierten Stelle: "Gib mir Keuschheit und Genügsamkeit, aber noch nicht gleich!" (8:7) Diese wunderbare Beobachtung stellt die Reflexion auf der Messerschneide zwischen dem episodischen und dem diachronen Denken vom Selbst aus. Wenn wir uns in dieser Weise einer Besserung entziehen, deren Notwendigkeit wir intellektuell bereits eingesehen haben, nutzen wir die Gelegenheit, unser Gewissen mit dem diachronen Bild von einem kontinuierlichen Selbst zu beruhigen, das keusch geworden sein wird, um zugleich an einer bequemen Gegenwart für das Selbst* festzuhalten, das sich nicht um ein gleiches Selbst* in der Zukunft sorgt. Weder ein rein diachroner noch ein rein episodischer Entwurf würde diese Ausflucht erlauben.

Aber auch der Vorwurf gegen diese Ausrede und die Möglichkeit, sie zu erkennen und fallen zu lassen, bedarf der Interaktion zwischen beiden Seiten der Dihärese. Weder eine bloß episodische Konzeption vom Selbst, die nur den jetzigen Zustand bewerten könnte, ohne Änderungen über Zeit zu planen, noch eine bloß diachrone Auffassung, die den jetzigen Mangel vollkommen durch die Zukunft entschuldigen könnte, erlaubt diese durchaus narrative Einsicht.

 

autoreninfo 
Dr. Stephan Packard ist Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in München. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Semiotik und Medienwissenschaft, Affektsemiologie, Figurationen im politischen Drama sowie Zensur und textuelle Kontrolle. Veröffentlichungen: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse. Göttingen: Wallstein 2006.
E-Mail: s.packard@lrz.uni-muenchen.de

 

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