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no. 24: wildwüchsige autobiographien -> psychopathie
 

Auch nicht Schlächter

Psychopathie als Mainstream

von Julius Popp / Carsten Schinko

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* literatur
* druckbares
* diskussion

Unter den Gesetzesbrechern faszinieren, verängstigen und provozieren uns ganz besonders die, die wir Psychopathen nennen. In all ihren Erscheinungsformen bevölkern sie unsere imaginären Welten, ganz gleich, ob es sich dabei um real existierende Personen oder um fiktionale Figuren handelt. Doch was und wer ist heute ein Psychopath? Ein psychisch gestörter Mensch? Die Personifizierung einer gesellschaftlichen Störung? Erfüllt diese im strengen Sinne a-soziale Gestalt gar eine Funktion in einer Gesellschaft, die ihm so bereitwillig Platz in allen Medien zur Verfügung stellt?

 

Enter: American Psycho

"Also, zum einen müssen wir der Apartheid ein Ende setzen. Und das nukleare Wettrüsten stoppen, dem Terrorismus und dem Hunger auf der Welt Einhalt gebieten. Eine starke nationale Verteidigung sicherstellen, die Ausbreitung des Kommunismus in Mittelamerika verhindern, auf eine Nahost-Friedenskonferenz hinarbeiten, militärische Einsätze der USA in Übersee verhindern."

Die to do-Liste des blendend aussehenden, in feinsten Zwirn gekleideten Mitzwanzigers will kein Ende nehmen. Kaum hat er den beim Dinner Anwesenden die Eckpfeiler einer halbwegs akzeptablen Außenpolitik seines Landes näher gebracht, widmet er sich der Malaise im Inneren: "That affects us!" Nun irritieren Themen wie Altersversorgung, Aidsproblematik, Umweltverschmutzung, Erziehung den zuvor unbeschwerten small talk.

Der junge Mann, der hier als moralische Instanz in Erscheinung tritt, um den Ethikkatalog für das späte 20. Jahrhundert zu verkünden, heißt Patrick Bateman. Er ist the boy next door -- so nennt ihn jedenfalls seine Freundin Evelyn, Gastgeberin der Runde, in Anspielung auf seine zur Schau gestellte Tugendhaftigkeit, der allem Anschein nach weder Geld, noch soziales und urbanes Umfeld etwas anhaben können.

Nur wenige Romanseiten nach dieser moralischen Aufwallung läßt Bateman ganz anderen Energien freien Lauf. Rasch erweist sich der Vorzeige-Yuppie als brutaler Menschenschlächter. Wir wissen es längst: der Junge von Nebenan ist der American Psycho, von Bret Easton Ellis 1991 zum Helden seines Skandalromans erhoben. Fortan bestimmt ein Blutrausch ohne Gleichen das ansonsten nahezu ereignislose Treiben. Bald schon läßt der Leser davon ab, die Opfer zu zählen, ein Impuls, dem er zu Anbeginn der Lektüre noch gefolgt war.

 

Ordnungen & Öffnungen

Nun sind Desperados, Serienmörder und Schlächter seit langem ein Faszinosum. Ja, man kann sagen, daß hinter all seinen Erscheinungsformen der Psychopath zu einer mythischen Gestalt geworden ist, dessen Wege wir mit angstgenährtem Thrill und lustvollem Schauer verfolgen. In großer Vielfalt ist er präsent in unseren imaginären Welten, ganz gleich ob als real existierende Person oder als fiktionale Figur. Theater, Literatur, Film, sämtliche Pflege- und Brutstätten des kulturellen Imaginären, waren und sind hingezogen zu jenen abseitigen Gestalten und deren immer neuen Transgressionsversprechen. Trotz dieser Virtualisierung des Bösen macht es freilich einen Unterschied, ob uns solche Figuren beim nächtlichen Nachhauseweg begegnen können oder nicht. Insofern gilt es zu fragen: was und wer ist heute ein Psychopath? Gibt es Gesellschaftsformen, die das Realwerden dieser im strengen Sinne a-sozialen Gestalt begünstigen? Und erfüllt er gar eine Funktion in einer Gesellschaft, die ihm so bereitwillig Platz in allen Medien zur Verfügung stellt?

In gewisser Weise gibt bereits die griechische Antike Momente der Faszination für das Deviante und Abnorme zu erkennen: der Spektakelcharakter von Inzest und Mord, wesentliche Elemente der Tragödie, ließe sich nur schwerlich leugnen. Allerdings sind diese transgressiven Elemente in narrative Formen eingebettet. Die Arbeit des Mythos, klassischste dieser Formen, besteht idealerweise in der immer neu inszenierten Öffnung und Schließung der Ordnung, die, zeitlich begrenzt, herausgefordert wird, aber ein ums andere Mal die Gemeinschaft einschwört und somit ihren Zusammenhalt sichert. Daß die reibungslose Erzählökonomie des Mythos mit schöner Regelmäßigkeit durchkreuzt wurde, belegen über die Jahrhunderte hinweg zahlreiche Beispiele. Lange vor der ziellosen Blutspur des American Psycho finden sich formale oder inhaltliche Exzesse, die mit allzu schlichten Formeln der moralischen Erbaulichkeit aufräumen. Ordnungen, so scheint es, waren bald nur noch dazu da, mit barocker Üppigkeit oder asketischer Gründlichkeit zerstört zu werden -- eine Zersetzungsdynamik, die auch sicher geglaubte Annahmen zur Zurechenbarkeit im Umgang miteinander einschließt: Wo beginnt eine Handlung, wo endet sie; was berechtigt uns, den Fluß der Zeit mit räumlichen Begriffen zu dämmen, von Anfang, Mitte und Ende zu sprechen? Gibt es ein intentionales Zentrum, eine klare Adresse, die dann auch für das Handeln im Sozialen zur Rechenschaft gezogen werden kann? In den Antworten darauf mischt sich seit jeher formalästhetisches Kalkül mit ethischen Entwürfen.

Ist ein Aufbegehren gegen die Zwänge des Mainstreams, also dessen, was als psychisch normal gilt, denk- und tolerierbar, dann wird dieses spätestens seit dem 19. Jahrhundert am ehesten dem Künstler zugestanden. Als Hofnarr der Moderne darf er an und mit der Grenze spielen, diese gelegentlich sogar überschreiten, zumindest so lange sein Tun nur Kunst bleibt. Die stellvertretende spielerische Überschreitung der Grenze hat seither als Funktion der Kunst nicht nur nicht ausgedient; vielmehr sind die Grenzüberschreitung, die Provokation und der Skandal auch heute noch untrennbar mit dem Bild und der sozial attribuierten Rolle des modernen Künstlers verbunden. Man liebt sie, die verrückten Künstlertypen, mit ihren Spleens, ihren wilden Frisuren, dem dekadenten Lebensstil, den Mätressen und Drogen. Manchen 'antisozialen' Verhaltensauffälligkeiten vermögen sie so zu einem gewissen Chic zu verhelfen. Doch bleibt es ein Balanceakt und ein Kokettieren mit dem Risiko, für obszön, pornographisch und sittenwidrig erklärt zu werden.

 

Moral der Moderne

Auch die Sozial- und Kulturwissenschaften, denen ein solcher Freiraum nur bedingt zugestanden wird, haben sich von allzu schlichten Versprechen gesellschaftlicher Kohärenz längst verabschiedet. Begriffe wie Postmoderne oder Kulturrelativismus stehen für ein nicht mehr zu leugnendes Kontingenzbewußtsein -- die Dinge könnten auch ganz anders sein, ja dieses Anderssein ist der Schatten, der das Denk- und Sagbare, das Offensichtliche immer schon begleitet. In seinen Beobachtungen der Moderne geht Niklas Luhmann soweit, in der fundamentalen Unsicherheit, die mit allerorts aufscheinenden Möglichkeitshorizonten einhergeht, den "Geburtsfehler der Moderne" zu sehen. Gerade die Moral, gerne als sozialer Kitt und Ordnungsgarant aufgerufen, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen, ist von diesem Mangel nicht ausgenommen -- ja sie ist ein hervorragender Schauplatz des immer neuen Aushandelns. Paradigm Lost lautet daher der nüchterne Befund des Systemtheoretikers, wenn die Sprache auf die Moral kommt. Gemeint ist mit der lapidaren Formel die vergebliche Suche nach Letztbegründungen im nachmetaphysischen Zeitalter und vor allem die Hinfälligkeit, Gesellschaft über ein solch heimeliges Vokabular zu zentrieren.

Begrifflich derart entlastet, kann moralische Kommunikation zwar durchaus als universelles und fundamentales Phänomen der Vergesellschaftung angesehen werden. Immer da, wo sich Menschen mit "Achtungs- oder Mißachtungsbekundungen" begegnen, wird moralisch kommuniziert -- ohne daß jedoch klar wäre, "ob Ego und Alter einer moralischen Symmetrie unterliegen. Nur dann nämlich erzeugt Moral das, was man ihr als Bestimmung unterstellt: soziale Bindung." Zudem ist dieses Anerkennungsgeschehen eine Sache zwischenmenschlicher Interaktionen, die zwar unablässig inszeniert werden mögen, sich aber eben im Schatten der primären Inklusionsinstanzen abspielen, allen voran den Code-gestützten Funktionssystemen. Nicht nur die Kunst operiert oft und gerne in Abgrenzung zu dem, was landläufig als moralisch integer gilt, auch Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und andere Funktionssysteme verrichten ihre Arbeit fern der Moral. Sie haben den Menschen gerade nicht mehr als komplettes Wesen mit Wünschen, Ängsten und Begehren im Blick, sondern adressieren und bebildern diese im strengen Sinne als Dividuen. So interessiert sich die Wirtschaft nur für Haben/Nicht-Haben und entfaltet entsprechend ihre unübersetzbaren Inklusionsraster. Insofern ist auch der von Schulden Geplagte in eben dieses Wirtschaftssystem inkludiert. Er wird auf seine Zahlungsfähigkeit hin beobachtet, nicht mehr, nicht weniger. Und da das Geschehen in den weiteren Funktionssystemen analog abläuft, nur eben mit alternativen Codierungen, läßt sich die moderne Gesellschaft als eine polyzentrale beschreiben, als eine ohne Mitte -- nicht ohne Zentrierungsenergien und den entsprechenden Zumutungen an den einzelnen, der aus dieser widersprüchlichen Adressierung seinen eigenen Sinn 'machen' soll und muß.

Was aber bedeutet eine derartige Ausnüchterung für das Phänomen der Psychopathie, für die Möglichkeit einer Grenzziehung zwischen begrüßenswerten und abzulehnenden oder gar inakzeptablen Handlungen und Gesinnungen? Wenn das Individuum seine Vergesellschaftung nur noch als changierendes Adressencluster erfährt, wenn die Multiinklusionen sich nicht mehr von selbst zu einer akzeptablen Form der Person aufrunden, dann ist damit der Entfremdung und anderen Semantiken des Leidens an der Moderne Tür und Tor geöffnet. Die strukturell bedingte Heimatlosigkeit und die ver-rückten Erwartungshaltungen können einen da schon mal verrückt machen. Doch solange der Ablauf der Funktionsoperationen nicht gestört wird, kann das aus sozialer Integration verabschiedete "Exklusions-Individuum" allerhand Idiosynkrasien pflegen. Auf den zersplitterten Monitoren der Groß-Systeme ist der potentiell psychisch Gestörte zunächst einmal unsichtbar. Auf die Idee, Krankheiten oder Störungen einzelner auf gesamtgesellschaftliche Strukturen zu beziehen, kommt man so nicht. Die Diagnose des Pathologischen wäre dann, ganz unmetaphorisch, an die Medizin zu delegieren, als ein Schema der Wissenschaft, dessen kommunikative und beobachtungstheoretische Komplexität bestenfalls in organisatorischen Settings zu überprüfen wäre.

 

Schirm-Herrschaft

Am anderen Ende der sozial- und kulturwissenschaftlichen Positionen ließen sich die Arbeiten von Michel Foucault ausmachen, der die Delegation der Frage nach Normen und die Autorisierung der Medizin nicht gelten lassen will. Zwar teilt Foucault mit Luhmann die Ansicht, daß den Gesellschaftskritikern der archimedische Punkt abhanden gekommen ist, eine Mitte der Gesellschaft ist auch in seinen Schriften nicht auszumachen. Statt aber das Problem des Individuums ins Außersoziale zu verfrachten, beschreibt er ein ganz anderes Monitoring, eines das sehr wohl noch mittels Normierungen und Grenzziehungen operiert, wenn auch ohne kritisch fixierbaren Fluchtpunkt der Herrschaftsform. Die moderne Mikrophysik der Macht wirkt ebenso umfassend wie unbemerkt und kapillar, sie verteilt sich über den sozialen Raum und erzeugt kontingente Effekte, die umfassender und wirkungsvoller sind als alles, was von einer konsistenten Position, einem, gar personengebundenen, Machtzentrum auferlegt werden könnte.

Nicht mehr das absolutistische Gebot, abgesegnet durch Gottesgnadentum, kann dann über den einzelnen verfügen, etwas anderes übernimmt dessen Platz: "Die Norm wird zum Kriterium, nach dem die Individuen sortiert werden." Spektakulär ist folglich nicht der Aufführungscharakter der Überwachung und Abstrafung, spektakulär ist bestenfalls die Effektivität und Ubiquität jener Kontrollmaschinerie ohne Ingenieur. Es ist "eine unaufhörliche Sichtbarkeit und permanente Klassifizierung, Hierarchisierung und Qualifizierung der Individuen anhand von diagnostischen Grenzwerten." Armee, Schule, Werkstatt, Gefängnis: alle diese Institutionen lassen sich im Hinblick auf diese Abrichtung vergleichen. Und doch erfährt ein Ort des Geschehens hier eine gewisse Aufwertung, wenn es um die Definitionshoheit geht. "Sobald sich eine Normgesellschaft entwickelt, wird die Medizin, die ja die Wissenschaft vom Normalen und Pathologischen ist, zur Königsdisziplin." Drastische Umwertungen sind die Folge: "Der Irre ist nicht der Sohn der Hexe, sondern der Psychiater ist der Nachfolger des Inquisitors." Derart problematisiert, können Diagnosen und Grenzziehungen nur noch als willkürliche Akte der Exklusion beobachtet werden.

 

Ein Unbehagen in der Kultur?

Was liegt nun näher, als den Psychopathen als das ungesunde Produkt einer Zeit zu sehen, die aus den Fugen geraten ist, als Abfall einer krankenden Gesellschaft? Oder als Zeichen für ihre Unfähigkeit, Randständiges, vom Mainstream deutlich Abweichendes zu integrieren? Der Psychopath -- Konstrukt und Opfer? Moral und Mitte der Gesellschaft -- beliebig und relativ, nach Bedarf von unterschiedlichsten Interessensgruppen und Populisten besetzt und instrumentalisiert? So mancher Moralist -- letztendlich nichts weiter als ein Lobbyist?

Die Versuchung ist groß, mit befreiender Geste die soziale Ordnung wenn nicht für willkürlich zu erklären, so doch für gestaltet im Sinne und im Dienst der Mächtigen und Gewinnern dieser Ordnung selbst, als ideologisch unterlegtes, von den Machthabern vorgegebenes Gesetz oder, nach Foucault, als Geflecht von Mikrostrukturen der Macht. Dann wären Moralvorstellungen nicht viel mehr als das historisch gewachsene, lokale Kolorit von Epochen und Kulturen, oder, nach Luhmann, von Funktionssystemen, ebenso auswechselbar und vergänglich wie diese.

Verunsichert wehren viele ab, legen ihr Veto ein. Sie bestehen auf die Gewißheit, daß es doch einen Kern der sozialen Norm geben muß, der transkulturelle, universelle Gültigkeit besitzt; einen Sinn für das Richtige und Falsche, der jedem angeboren ist; der uns immer und überall als zuverlässigen Kompaß für das Wesentliche im Zwischenmenschlichen dient. Und: Wer diese Ordnung oder zumindest ihren universellen Kern immer und immer wieder nicht achten kann oder will, dem wird man wohl eine antisoziale oder psychopathische Störung attestieren können.

Doch bevor sie gewissermaßen vulgär und zu einer Kategorie sozialer Bewertung und Abwertung wird, ist die "psychopathische Störung" in erster Linie eine psychiatrische Diagnose. Es lohnt sich, diesen Begriff, wie er von der Psychiatrie heute mit einem wissenschaftlichen Anspruch emotionaler Distanz und moralischer Neutralität formuliert wird, genauer zu betrachten.

Die Psychiatrie ist bestrebt, den erwähnten Vorwurf zu widerlegen, sie sei eine zivilisierte Art und Weise der Neuzeit, sich ihrer lästigen Zeitgenossen zu entledigen, ein Instrument des Mainstreams zur Rechtfertigung und Durchsetzung seiner Norm, im schlimmsten Fall ein Werkzeug der Unterdrückung und Ausgrenzung. Zumindest teilweise und zeitweise mag dieser Vorwurf für die Geschichte und die Gegenwart der Psychiatrie berechtigt sein. Doch spätestens seitdem 1793 Pinel die Irren der Anstalt Bicêtre im wörtlichen Sinn von ihren Ketten befreite und dafür eintrat, daß man "diese Menschen nicht als Schuldige, sondern als Kranke behandeln" solle, sind die Psychiater zunehmend bemüht, auch die Belange des von der psychischen Störung betroffenen einzelnen wahrzunehmen, und nicht nur diejenigen einer Mehrheit seiner Mitmenschen. Die individuelle -- nicht die gesellschaftliche -- Störung und ihre Behandlung sollten nun Gegenstand psychiatrischen Interesses und Handelns werden. Zu diesen Bemühungen gehört auch die anhaltende Suche nach allgemein und kulturübergreifend gültigen diagnostischen Kriterien.

Das heutige, vorläufige Ergebnis: von Experten mit entsprechender Definitionsmacht im Konsens formulierte Symptombegriffe zur Beschreibung pathologischen Erlebens und Verhaltens, Instrumente zur Erfassung von Krankheitszeichen und diagnostische Kriterienkataloge und Leitlinien wie ICD-10 (World Health Organisation: International classification of diseases) und DSM IV (American Psychiatric Association: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) zur operationalisierten Zuordnung dieser Symptome einer bestimmten psychischen Erkrankung.

Doch wird das Pathologische eben in Bezug zur Norm definiert. Die Wertstruktur einer Kultur, aus der heraus diagnostiziert wird, und die dazugehörigen Konzepte von Gesundheit und Krankheit bestimmen weiterhin die Praxis. Die Diagnosestellung aus der Kultur heraus impliziert den Anspruch, in diese Kultur hinein zu heilen, und das heißt, auch normativ zu wirken. Das gilt besonders für die Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen, und nicht zuletzt für die "dissoziale" (ICD-10) bzw. "antisoziale" (DSM IV) und die "psychopathische" Persönlichkeitsstörung. Die Diagnosestellung meint den einzelnen, das Individuum, kann sich aber nicht vom fundamentalen Dilemma befreien, daß sie die sozialen Rollen des Betroffenen immer mit einzubeziehen hat und im sozialen Kontext gestellt wird. So beschreibt sie nicht nur Störungsmerkmale des einzelnen, sondern definiert seine Charakteristika als pathologisch oder nicht innerhalb des kulturellen Bezugsrahmens, des aktuellen Mainstreams. Da aber in dieser Gleichung die meisten, wenn nicht alle Bezugsgrößen ebenfalls Variablen sind, gilt jede individuell gestellte Diagnose auch dem Umfeld, in dem sie gestellt wird.

In der Praxis ist ein wesentliches Kriterium zur Unterscheidung des Normalen vom Krankhaften, daß die Erlebens- oder Verhaltensweisen deutlich von den kulturell erwarteten Normen abweichen und Leiden beim Betroffenen und/oder seinen betroffenen Mitmenschen hervorrufen. Doch auch dieses Kriterium unterliegt historischem Wandel. Viele komplexe, früher als pathologisch gewertete Verhaltensweisen werden heute nicht mehr als Symptome von Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert. Mit dem Wandel sozialer Normen und Werte wurden bis vor wenigen Jahrzehnten übliche Diagnosen wie 'sexuelle Haltlosigkeit' unzeitgemäß, andere, vor kurzem erstmals definierte, wie 'Borderline-Persönlichkeitsstörung' modern und sind aus dem Inventar des Pathologischen kaum noch wegzudenken.

Das Störungsbild der psychopathischen Persönlichkeit wird beschrieben als durch einen Mangel an Empathie gekennzeichnetes, vermindertes Angstempfinden sowie eine eingeschränkte Fähigkeit, die Grenzen anderer und soziale Regeln zu respektieren und aus Bestrafung zu lernen. Die manchmal schwer ausgeprägte Störung verbirgt ihr wahres Gesicht hinter einer "mask of sanity", so eine frühe psychiatrische Beschreibung, die den Betroffenen als normal, angepaßt und unauffällig erscheinen läßt -- auf den ersten Blick. Hinzu kommt, daß sich der Betroffene selbst kaum von seiner Störung gestört fühlt. Betroffen und gestört wird schließlich irgendwann vor allem seine soziale Umgebung sein.

Um die Diagnose zu sichern, wurde eine Psychopathy Checklist (PCL) entwickelt, die in revidierter Form (PCL-R) inzwischen über kulturelle Grenzen hinweg als diagnostisches Instrument im Einsatz ist. Man sollte sich PCL-R jedoch nicht als ein mathematisch genaues Meßinstrument vorstellen. Die damit ausgewerteten Informationen sind Ergebnisse eines klinischen Interviews, der Selbsteinschätzung des Getesteten, der Verhaltensbeobachtung durch den Untersucher und zusätzliche Informationen aus Akten oder anderen Quellen. Auch hier ist der Vorwurf noch möglich, der subjektive Anteil der Informationen sei zu groß und die Interpretation potentiell tendenziös.

Härtere Daten müssen her! Wenn sich biologisch-physikalisch meßbare Auffälligkeiten finden ließen, die klinisch beschriebenen Phänomenen des Erlebens und Verhaltens entsprechen, wäre eine widerspruchs- und einwandfrei gestellte Diagnose immerhin denkbar. Man untersuchte und fand: Bei Menschen mit der klinischen Diagnose einer psychopathischen Persönlichkeitsstörung zeigten strukturell-morphologische Untersuchungen des Gehirns eine Volumenminderung im Kortex des Schläfenlappens. Nach experimenteller Emotionsinduktion stellten bildgebende Untersuchungen Änderungen der Hirnaktivität in der präfrontalen und temporalen Hirnrinde und im Mandelkern dar, in Strukturen des Gehirns also, die bekanntermaßen an der Steuerung von Emotionen beteiligt sind. Eine Funktionsstörung des Mandelkerns kann mit vermehrtem Auftreten negativer Affekte und mit einer herabgesetzten Wahrnehmung sozialer Reize einhergehen, was das Lernen über Belohnung oder Bestrafung im sozialen Kontext beeinträchtigt. Diese Befunde entsprächen den Verhaltensauffälligkeiten, denen die Untersuchten ihre Diagnose verdanken: fehlendes Mitleid oder Mitgefühl für andere, Überschreiten sozialer Grenzen und Regeln und weniger Angst vor sozialer Sanktionierung.

Ist damit alles geklärt? -- Noch lange nicht! Was läßt sich daraus für die Ätiologie und für die Diagnostik der Psychopathie folgern? -- Noch nicht sehr viel. Es sind die Richtung weisende und vielversprechende, aber nur vorläufige Ergebnisse, ihre Aussagekraft bleibt zunächst sehr begrenzt. Jedenfalls kann der experimentelle Nachweis eines veränderten Stoffwechsels in bestimmten Hirnarealen zu einem bestimmten Zeitpunkt allenfalls als ein Hinweis oder ein Erkenntnisbeitrag, aber noch nicht als umfassende Erklärung über kausale Zusammenhänge gedeutet werden. Letztere dürften schließlich doch etwas komplexer sein, selbst dann, wenn man ausschließlich den Erklärungsansatz der gestörten Hirnfunktion gelten lassen möchte.

Die Versuchung des biologischen Reduktionismus bleibt. Eine physikalisch-technisch meßbare Störung im Kopf des Psychopathen vermag die Gesellschaft von einer Mitverantwortung an der Devianz und am Pathologischen zu entlasten -- und womöglich auch ihr funktionsgestörtes und fehl handelndes Mitglied. In der juristischen Praxis wird bisher in aller Regel von keiner Einschränkung der Schuldfähigkeit bei der Psychopathie ausgegangen, wie sie durch eine biologisch begründete und bei der freien Entscheidung behindernde Erkrankung möglich wäre. Für eventuelle Straftaten muß der Psychopath seine Verantwortung übernehmen, wenn er mit dem Gesetz in Konflikt geraten und dessen langer Arm seiner habhaft geworden ist. Lediglich in den extremen Fällen einer Störung, die mit einer erheblichen Beeinträchtigung im Alltag einhergeht und nach psychiatrischer Meinung die Bezeichnung "schwere andere seelische Abartigkeit" verdient, steht eine eingeschränkte Schuldfähigkeit zur Diskussion. Ansonsten wird davon ausgegangen, daß der Delinquent auch anders, nicht kriminell hätte handeln können.

 

American Psycho -- There is no exit...

Bret Easton Ellis' American Psycho wird uns als ein solcher extrem schwerer Fall präsentiert. Doch zunächst scheint Patrick Bateman in seinem Alltag zu bestehen und sich seiner Umgebung gut anpassen zu können. So gut, daß er überhaupt kein eigenes, potentiell irgendwie störendes Profil bietet. Wenn er in täglicher Arbeit an sich selbst Reinheit, Perfektion, Körperkontrolle anstrebt, dann mit dem Ziel, alles Eigene, Individuelle zu verhindern, bis schließlich nur noch ein abstraktes Ideal, die perfekt konstruierte äußere Erscheinung, übrig bleibt. Es gilt, die Semantik, Mode und Ikonographie seiner Zeit und seines Milieus zu 100 Prozent zu beherrschen, ganz darin aufzugehen. Was ihm recht gut gelingt: "Den wahren Patrick Bateman gibt es nicht", sinniert Bateman beim Abziehen seiner peeling-mask of sanity. Dahinter verbirgt sich nicht etwa ein wahres Gesicht, sondern gar keines. Kann man mehr soziale Anpassungsfähigkeit und -willen verlangen?

Das mag zunächst erstaunen, schließlich liegen die Defizite des Psychopathen angeblich im sozialen Verhalten und Erleben. Allerdings wird soziale Kompetenz in Batemans Wall-Street-Welt nicht etwa als kooperatives Miteinander, schon eher als individuelles Durchsetzungsvermögen anderen gegenüber definiert. Belohnt, ermutigt und bestätigt wird nicht, wer sich vorsichtig, konservativ, rücksichtsvoll und empathisch zeigt, sondern der räuberische Typus: risikobereit, unternehmungs- und angriffslustig, rücksichts- bis skrupellos.

In dieser Welt fällt Bateman kaum auf, schließlich ist sie bevölkert mit Gestalten, die sich kaum von ihm unterscheiden lassen und mit denen er ständig verwechselt wird. Denn er läßt sich, wie seinesgleichen, praktisch ausschließlich über die Check-Listen der gesellschaftlichen Konvention beschreiben, die ständig als Referenzpunkte, als Verhaltensrichtlinien, als Codex einer wohlsituierten Kaste abgerufen werden. Deren Grenzen sind recht eng bemessen und werden durch regelmäßige Konfrontation mit New Yorks armer Bevölkerung -- Junkies und Penner -- stets in Erinnerung gerufen. Fallen letztere zunächst aus dem Kreis der Erlesenen hinaus, so wird bald klar, daß selbst diese Begegnungen durch Images von sexy Armut überformt werden: überdimensionale Plakate, die für Les Misérables werben, dominieren das Stadtbild. Selbst die eingangs erwähnten moralischen Imperative werden listenförmig -- als ein Diskurselement unter anderen -- in Umlauf gebracht. Die Vorteile, die Bateman aus dem gekonnten Vortragen der to do-Liste zieht, beruhen darauf, daß er nichts vom Aufgelisteten und auch sonst nichts anderes wirklich meint. Sie sichern ihm zunächst vor allem ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit, der wohl entscheidenden Ressource in einer Zeit, der die konsensuellen Kriterien für das Gute und Wahre abhanden gekommen sind.

Schwächere zu erniedrigen, psychisch und physisch zu quälen und, diskreter, sogar umzubringen, all das läßt sich für Bateman problemlos in dieser Welt ausleben. Wenn er, zunächst gänzlich unmetaphorisch geschlechtlich und mit Folterwerkzeugen in seine Opfer eindringt, so geschieht dies womöglich in der Sehnsucht nach einer unverstellten Präsenz, einem Kontakt jenseits symbolischer Vermittlung. Irgendwann aber, als das Bedürfnis zu töten sich eingenistet hat und immer weiter ausbreitet, um schließlich sein gesamtes Erleben zu bestimmen, verliert er die Fähigkeit, ihm bislang zu Vorteil reichende 'Defizite' wie Skrupellosigkeit und fehlende Angst ausgewogen einzusetzen. Der anfängliche Lustgewinn, den ihm die Gewalttaten bereiteten, läßt sich nicht mehr ohne weiteres erreichen, er braucht mehr und mehr, bis nur noch der unstillbare Hunger nach Penetration und Zerstörung geblieben ist. Von nun an bestimmt das Pathologische über Bateman. Er hat die vermeintliche Freiheit der moralischen Enthemmung endgültig verloren.

Batemans Versuch, sich aus diesem Alptraum zu befreien, muß scheitern. Das öffentliche Entblößen seiner pathologischen und mörderischen 'Natur', sein Geständnis, Menschen zerstückelt und sogar gegessen zu haben, wird von seiner Umwelt unbeirrt verleugnet. Entsetzen, Diagnose und Exklusion werden Bateman verweigert. Das Aufbrechen der Sprache in der radikalen Form der physischen Auslöschung des Gegenübers als potentiellem Kommunikationspartner mag zunächst als Befreiung vom Terror der Norm, als subversive Geste imponieren. Verbindendes und Verbindliches sind abgelegt und das Individuum entfaltet sich schrankenlos in der Befriedigung eigener Interessen und Bedürfnisse. Doch sein radikales, den anderen vernichtendes Ausleben des Körperlichen erweist sich keineswegs als kettensprengende Transgression. Es ist lediglich die andere, vermeintlich vernachlässigte Seite der Wall-Street-Kultur, die schließlich desto nachdrücklicher ihre Existenzberechtigung einfordert. Sein Ausbruchsversuch aus den gesellschaftlichen Konventionen führt Bateman unweigerlich an den Fluchtpunkt zurück. "This is not an exit." Und dann, als das wuchernde Pathologische ganz seine Person eingenommen hat, ist er in der Mitte angekommen. Für seine soziale Umgebung ist in diesem Augenblick alles so normal, wie es nur sein kann. Im Fernsehen redet sich der mächtigste Mann der Welt, ehemaliger Schauspieler und mittlerweile amerikanischer Präsident, gerade schamlos aus der Iran-Contra-Affäre heraus -- eine Botschaft, die medial in die ganze Welt getragen wird.

 

autoreninfo 
Dr. med. Julius Popp (geb. 1970) studierte Medizin an den Universitäten Tübingen und Bordeaux. Nach neurologischer und psychiatrischer Tätigkeit in Berlin und Montpellier ist er nun als Arzt und Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Klinik für Psychiatrie, Uniklinikum Bonn beschäftigt. Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit sind die Entstehung, Früherkennung und Behandlung von Gedächtnisstörungen. Darüber hinaus gilt sein Interesse der Darstellung psychiatrischer Themen in Medien und Populärkultur. Er ist Autor und Regisseur mehrerer Kurz- und Dokumentarfilme.
E-Mail: Julius.Popp@ukb.uni-bonn.de
Dr. Carsten Schinko (geb. 1970) studierte Amerikanistik, Soziologie und Erziehungswissenschaften an den Universitäten Heidelberg und Hamburg. Er promovierte 2005 an der Universität Tübingen mit einer Arbeit, die afroamerikanische Literatur- und Kulturtheorien und die notorisch kulturblinde Systemtheorie auf Konfrontationskurs bringen wollte. Derzeit ist er Dozent für Amerikanistik an der Universität Stuttgart und überlegt sich, warum amerikanische Populärkultur trotz global grassierender Anti-Amerikanismen so populär ist, und was Demokratie und Humor miteinander gemein haben.
E-Mail: cschinko@web.de

 

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