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no. 23: bewußtseinserweiterungen
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resonanzen |
Poetische Psychonautik: Thomas Klings Gedicht RATINGER HOF, ZETTBEH (3)von Frieder von Ammon |
Unter dem Titel Resonanzen beginnt in dieser Ausgabe eine neue Rubrik, die der Lyrik gewidmet ist, und zwar der Lyrik in der ganzen Fülle ihrer Erscheinungen, ohne Begrenzungen zeitlicher oder räumlicher Art. Resonanzen meint dabei zweierlei: Einmal das Mitschwingen und Mittönen der Dichtung in den Diskursen, mithin ihren klingenden Beitrag zum Thema der jeweiligen Ausgabe; und zum anderen den Widerhall, den das oder die jeweils präsentierten Gedichte in dem ihnen an die Seite gestellten, sie analysierenden und interpretierenden Text finden. Die Stimme der Dichtung soll auf diese Weise deutlich hörbar gemacht werden. |
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Als Samuel Taylor Coleridge sein gut zwanzig Jahre zuvor geschriebenes Gedicht Kubla Kahn auf Drängen Lord Byrons im Jahr 1816 endlich veröffentlichte, stellte er ihm eine Einleitung voran, in der er schilderte, unter welchen Umständen der Text entstanden war: |
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"Im Sommer 1797 hatte sich der Verfasser wegen seiner damals schlechten Gesundheit auf ein einsam gelegenes Landgut zwischen Porlock und Linton, an der Exmoor-Grenze von Somerset und Devonshire, zurückgezogen. Während eines leichten Unwohlseins hatte man ihm ein schmerzstillendes Mittel verschrieben, durch dessen Wirkung er auf seinem Stuhle in dem Augenblick einschlief, als er den folgenden Satz oder doch Worte des gleichen Inhalts aus Purchase's Pilgrimage las: 'Hier nun ließ der Khan Kubla einen Palast errichten, und einen ausgedehnten Garten darum. Und so wurden zehn Meilen fruchtbaren Bodens in eine Mauer verschlossen.' Der Verfasser lag gegen drei Stunden in einem tiefen Schlaf, der ihn wenigstens seiner äußeren Sinne beraubte. In dieser Zeit hatte er aber die lebhafte Gewißheit, er könne nicht weniger als zwei- oder dreihundert Verszeilen gedichtet haben, wenn man etwas wirklich eine Dichtung nennen kann, bei dem alle Bilder vor seinem Auge als Gegenstände auftauchten und sich gleichzeitig die entsprechenden Worte einstellten, ohne eine Empfindung oder ein Bewußtsein des Schaffens. Beim Erwachen schien es ihm, als habe er noch eine genaue Erinnerung des Ganzen, er nahm Feder, Tinte und Papier und schrieb sogleich und schnell die Zeilen nieder, welche hier aufbewahrt sind." |
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Dieser Text gilt zu Recht als ein zentrales Dokument moderner Poetik, denn in ihm wird die wahrnehmungsverändernde und vor allem: poetisch produktive Wirkung einer Droge -- eine frühere Version der Vorrede verrät, daß es "zwei Gran Opium" waren, die Coleridge eingenommen hatte -- erstmals programmatisch von einem Dichter beschrieben. Zwar sind Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der Darstellung angebracht, da sie so deutlich stilisiert ist und auch das darauf folgende Gedicht keineswegs wie das fragmentarische Protokoll einer Opiumfantasie wirkt, doch spielt dies im Grunde gar keine Rolle: Wichtig ist allein die Tatsache, daß hier etwas zum Thema wird, was bislang nicht literaturfähig gewesen war. Noch der von Coleridge bewunderte Schiller -- von dem man ja weiß, daß er zur Stimulation seiner produktiven Kräfte durchaus Drogen wie schwarzen Kaffee, Alkohol und den Geruch faulender Äpfel nutzte -- wäre nicht auf die Idee gekommen, dies zum Gegenstand eines Gedichtes zu machen. |
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Von diesem Moment an also gab es in der Literatur einen -- sich rasant entwickelnden -- Diskurs über Drogen: Thomas De Quinceys (auf Coleridge Bezug nehmende) Confessions of an English Opium-Eater erschienen 1821 und wurden in kurzer Zeit zu einem internationalen Erfolg. 1826 veröffentlichte Alfred de Musset seine Übersetzung des Buches ins Französische, 1830 schrieb Honoré de Balzac einen eigenen Essay über das Opium. In den Jahren darauf verfaßten unter anderen Edgar Allen Poe, Théophile Gautier und Alfred Lord Tennyson Texte, die den Opiumkonsum thematisierten; zur selben Zeit bildete sich in Paris der Club des Hachichins, dem -- neben dem Gründer Gautier -- so prominente Autoren wie Alexandre Dumas, Gérard de Nerval und Charles Baudelaire angehörten, die ihre Haschisch-Experimente jeweils auch literarisch verarbeiteten. So publizierte Baudelaire 1860 seinen einflußreichen Essay Les Paradis artificiels, der nicht nur für die nächste Autoren-Generation, etwa für Arthur Rimbaud und Joris-Karl Huysmans, wegweisend wurde. Insgesamt ist der Diskurs über Drogen einer der zentralen literarischen Diskurse des 19. Jahrhunderts, das man auch darum das "Jahrhundert des Rausches" genannt hat. Das 20. Jahrhundert hätte diese Bezeichnung jedoch ebenso verdient: Zu nennen sind Autoren wie Georg Trakl, Walter Benjamin, Jean Cocteau, Henri Michaux, Gottfried Benn, Klaus Mann, Aldous Huxley, Ernst Jünger und die Beat-Poets, unter ihnen vor allem William S. Burroughs. Wie bei ihren Vorgängern im 19. Jahrhundert sind auch bei diesen Autoren Literatur und Leben oft schwer voneinander zu trennen: Burroughs und Mann waren lange Zeit heroinabhängig, Trakl starb an einer Überdosis Kokain, Huxley und Jünger machten Selbstversuche unter anderem mit LSD und Meskalin. Von Jünger stammt auch der sich auf seine Selbstversuche beziehende Begriff des Psychonauten, des Seelenfahrers. Es bietet sich an, diesen Begriff abzuwandeln und ihn auf den Drogen-Diskurs der Literatur überhaupt anzuwenden: literarische oder poetische Psychonautik -- dies wäre eine passende Bezeichnung für diese vielstimmige und dicht vernetzte Tradition, die mit Coleridge ihren Anfang nahm und heute noch immer nicht abgeschlossen ist. |
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Ein besonders gelungenes und noch nicht gebührend bekannt gewordenes Beispiel aus dem späten 20. Jahrhundert ist das folgende Gedicht des im vergangenen Jahr verstorbenen deutschen Dichters Thomas Kling. Es eröffnet seinen 1989 erschienenen Band geschmacksverstärker: |
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RATINGER HOF, ZETTBEH (3) |
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Bereits das Motto stellt einen Bezug her zu einem der bekanntesten Texte der poetischen Psychonautik: Benns Kokain-Gedicht O, Nacht -: von 1916. Dieses Gedicht beschreibt die Zeitspanne vom Moment nach der Einnahme der Droge -- "O, Nacht! Ich nahm schon Kokain, / Und Blutverteilung ist im Gange" -- bis zum Einsetzen ihrer Wirkung. Die Droge erscheint dabei als Möglichkeit, um zu einem grenzenlosen "Ichgefühl" zu gelangen: "O, still! Ich spüre kleines Rammeln: / Es sternt mich an -- Es ist kein Spott --: / Gesicht, ich: mich, einsamen Gott, / Sich groß um einen Donner sammeln." Daß Kling sich auf dieses Gedicht beruft, ist einerseits als eine Hommage an den Vorgänger zu verstehen; ein anderes Kokain-Gedicht Benns hat er auch in seine Gedichtanthologie Sprachspeicher aufgenommen. Indem Kling aber das Kokain durch Flugbenzin ersetzt, macht er -- mit einem ironischen Augenzwinkern -- gleichzeitig deutlich, daß das zitierte Gedicht überboten werden soll, denn natürlich ist Flugbenzin eine wesentlich härtere und vor allem gesundheitsschädigendere Droge. Kling schreibt sein Gedicht also einerseits traditionsbewußt in die poetische Psychonautik ein -- kein Zufall ist der Reim zwischen "Kokain" und "flugbenzin": die Texte reimen sich gleichsam aufeinander --, markiert aber andererseits selbstbewußt, daß er sich von dieser absetzen, sie erneuern, gleichsam auf den neuesten Stand bringen werde. |
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Ein weiterer Bezug zum Drogen-Diskurs der Vergangenheit ergibt sich durch die Nennung der Tänzerin Anita Berber: Diese war im Berlin der 20er Jahre (also auch dem Berlin Benns) Mittelpunkt eines Zirkels von Intellektuellen -- unter ihnen Klaus Mann --, die den Kokain-Konsum praktizierten und propagierten; 1923 beispielsweise war sie in dem Tanzstück Cocaine zu Musik von Camille Saint-Saëns aufgetreten. 1925 hatte Otto Dix dann sein berühmtes Bildnis der Tänzerin Anita Berber angefertigt, das sie als von der Droge gezeichnete femme fatale zeigt. Wenn Kling in seinem Gedicht auf diese Frau verweist, kündigt er zum einen die exzentrisch-ekstatischen, kokainberauschten Tänzerinnen im Ratinger Hof an, zum anderen verleiht er seinem Text so noch mehr historische Tiefenschärfe. |
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Es stellt sich nun die Frage, ob und wie es ihm gelungen ist, die Tradition der poetischen Psychonautik zu aktualisieren. |
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Das Gedicht evoziert Geschehen und Stimmung im Laufe einer beliebigen Nacht in einem bekannten Düsseldorfer Szenelokal, eben dem Ratinger Hof, und zwar auf eine überaus plastische, sinnlich-unmittelbare Weise. Der Leser meint direkt an dem Treiben beteiligt, mithin Teil einer durch Drogenkonsum und Musik enthemmten Masse von Menschen in der "schrille[n] Klausur" des Lokals zu sein. Diese Wirkung der Unmittelbarkeit ist indes das Ergebnis genauesten kompositorischen Kalküls: So wird etwa die Musik im Lokal durch über den Text verteilte, repetitive rhythmische Einheiten (zum Beispiel "gekeckerte -fetzen" -- "beschädigtes leder" -- "verderbliche ware" -- "gesperberte föhnung" -- "gefletschte pupillen") und auffallende Klangfiguren (etwa dunkle Vokalfolgen wie in "paar / kanaken plattmachn") geradezu körperlich erfahrbar gemacht, ebenso das Gewirr der Menschen und Stimmen durch die fugenlos und in rascher Folge aneinandergereihten Beschreibungen verschiedener Personen beziehungsweise durch die Zitation unterschiedlicher, nicht näher zugeordneter Stimmen. Auch die variierende Typographie, die ungewöhnliche Anordnung und unregelmäßige Länge der Zeilen sowie die zahlreichen Zeilensprünge (beispielsweise "sich überschlagendes, -lapp / endes keckern" und "kiesel im / geschiebe") tragen zu dieser Wirkung bei. Stakkatohaft, überstürzt und unvermittelt werden die verschiedenartigen Sinneseindrücke und Wahrnehmungsfragmente wiedergegeben. Inhaltlich wird diese Reizüberflutung nur von assoziativen Zusammenhängen und der Einheit des Ortes wie der Zeit zusammengehalten, formal durch Wiederholungen sowie die erwähnten Klangfiguren und rhythmischen Leitmotive. |
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Und das Thema Drogen? Zum einen wird hier, anders als bei Benn, eine ganze Fülle verschiedener Drogen genannt: Kokain ("»paar lines gezogen«"), Tabletten ("vollgestopft mit guten / pillen"), Alkohol ("leberschäden") und eben Flugbenzin. Das Spektrum hat sich mithin extrem erweitert, hier scheint in der Tat alles verfügbar zu sein. Zum anderen geht es bei Kling nicht um ein einsames Drogenerlebnis, sondern um einen kollektiven Rausch, nicht um ein durch Kokain gesteigertes "Ichgefühl", sondern im Gegenteil um einen durch Drogen bewirkten fortschreitenden Ich-Verlust, das Aufgehen eines Einzelnen in einer Masse von Berauschten. Dem entspricht die Sprechsituation des Gedichtes, die sich graduell verändert: von einem expliziten ("ich nahm schon / flugbenzin ...") über ein implizites Ich oder Du ("das ist dein auftritt!") hin zu einem Wir ("wir / stülpen unsere mäuler um"). Das Ich kommt dem Text gleichsam sukzessive abhanden. Zudem wird es an keiner Stelle näher faßbar, es bleibt konturenlos, eher passives Wahrnehmungszentrum als handelndes Subjekt. Das Gedicht vollzieht also, anders als dies bei Benn und in vielen anderen primär deskriptiven Drogen-Texten der Fall ist, den in ihm dargestellten Rausch auf der Ebene der Darstellung mit: Analog zu dem Gast im Ratinger Hof verliert auch der Text sein Ich in der Menge der Menschen und Sinneseindrücke. Diese Entindividualisierung geht andererseits jedoch mit einer auffallenden Intensivierung der Wahrnehmung einher, einer für die meisten Drogen typischen Wirkung. Gerade hier liegt eine der großen Stärken des Gedichtes, das auch in diesem Punkt das Was des Dargestellten im Wie der Darstellung aufzugreifen scheint: Die zahlreichen Neologismen und Wortspiele bewirken nämlich eine Engführung aller inmitten der Menschen-Masse wahrgenommenen Handlungen, Bilder, Worte, Sprechakte und Subtexte. In Wortschöpfungen wie "yachtinstinkt", "blickfick", "barbieverpuppung" und "panzerglasig" verdichten sich so divergente thematische Felder wie Reichtum, Triebhaftigkeit, Sexualität, Narzißmus, Regression, Entfremdung, Einsamkeit, Gewaltbereitschaft und Trunkenheit zu regelrechten Motiv-Clustern, die trotz ihrer Vieldeutigkeit von enormer Anschaulichkeit und Suggestivkraft sind. Dieses Verfahren der verdichtenden Engführung überzeugt auch deshalb, weil der Drogenkonsum so nicht, wie bei Benn, glorifiziert, er auf der anderen Seite aber auch nicht moralisch verurteilt wird. In erster Linie geht es gar nicht um Drogen, sondern um Erscheinungsformen des Menschlichen in einer bestimmten extremen Situation. Vollends die letzten Zeilen mit ihrem barock anmutenden Memento Mori-Gestus weiten das Spektrum des Gedichtes von der lustvoll-anarchischen Inszenierung des Rausches aus zu einer eindringlichen, illusionslosen Beschwörung der -- um mit einem berühmten Gedicht von Andreas Gryphius zu sprechen -- "großen Sterblichkeit". |
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Insofern sollte man den Text auch nicht darauf reduzieren, was er zweifellos unter anderem ist, nämlich eine authentische Momentaufnahme der Düsseldorfer Subkultur in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Daß auch Kling ihn nicht ausschließlich so verstanden wissen wollte, verrät der Titelzusatz ZETTBEH, der auf den exemplarischen, also über seinen eigentlichen Gegenstand hinausweisenden Charakter des Textes hindeutet. Und das mit Recht: Das Gedicht RATINGER HOF, ZETTBEH (3) kann als beispielhafte Darstellung der conditio humana zwischen Rausch und Depression, Daseinslust und Todesangst gelesen werden. In der Tradition der poetischen Psychonautik, die es fortführt und bereichert, -- und nicht nur in ihr -- hat es darum einen festen Platz verdient. |
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(Veröffentlichung des Gedichts von Thomas Kling mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags.) |
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autoreninfo
Dr. Frieder von Ammon, studierte Neuere deutsche Literatur, Musikwissenschaft und Komparatistik in München und Portland, Oregon. Promotion 2004 mit der Arbeit Ungastliche Gaben. Die 'Xenien' Goethes und Schillers und ihre literarische Rezeption von 1796 bis in die Gegenwart. 2004-2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Münchner Sonderforschunsgbereich 573 (Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit). Seit 2008 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur von Prof. Dr. Friedrich Vollhardt an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Lyrik, Paratextualität, Literatur und Musik, Satire und Weimarer Klassik. Mitherausgeber der Münchner Reden zur Poesie.
Homepage: http://www.friedrichvollhardt.de/ E-Mail: frieder.vonammon@gmx.net |
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