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no. 23: bewußtseinserweiterungen -> peter noll
 

Das Individuum in der verwalteten Welt

Peter Nolls Diktate über Sterben und Tod

von Matthias Bormuth

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Max Frisch gab posthum das Tagebuch seines Freundes Peter Noll heraus, das angesichts des plötzlich in sein Leben drängenden Todes nicht nur die Wirklichkeit des Sterbeprozesses durchdenkt. Der Jurist entwickelt ebenso Überlegungen, die die Rolle des Individuums in der modernen Industriegesellschaft -- exemplarisch verdichtet in den eigenen Lebenserfahrungen -- kritisch betrachten.

 

Peter Noll, Strafrechtsprofessor in Zürich, erfährt mit 54 Jahren, daß er an einem unheilbaren Blasentumor leidet. Die Möglichkeit, sich operativ behandeln zu lassen, um die Chance auf ein längeres Überleben zu wahren, schlägt er zur Verwunderung seiner Ärzte aus:

"Ich will nicht in die chirurgisch-urologisch-radiologische Maschine hineinkommen, weil ich dann Stück um Stück meiner Freiheit verliere. Mit Hoffnungen, die zusehends kleiner werden, wird mein Wille gebrochen, und am Schluss lande ich dann doch in dem bekannten Sterbezimmer, um welches alle einen großen Bogen machen. Vorraum des Friedhofs."

Vier Wochen später, am 23. Januar 1982, erfährt Noll nach weiteren Untersuchungen, daß nur eine Totalentfernung der Blase das Überleben mit einer Wahrscheinlichkeit von 30% garantieren könne; anderenfalls werde er in rund neun Monaten sterben. So geschieht es: ohne den chirurgischen Eingriff verstirbt Peter Noll am 9. Oktober 1982. Trotz Metastasenbildung hatten ihm starke Schmerzmittel ein erträgliches Leben ohne Krankenhausaufenthalte ermöglicht.

Noll protokollierte seit dem 28. Dezember 1981 seine Krankengeschichte. Seine Absicht war es, umfassend und exemplarisch von seinem Sterbeprozeß Rechenschaft abzulegen; die Diktate über Sterben und Tod sollten später publiziert werden und andere Menschen provozieren, ebenfalls über die Wirklichkeit des Todes nachzudenken: "Du sollst aus deinem Fall ein Gesetz machen, und das kannst du nur, wenn dein Fall exemplarisch ist, und er ist es nur, wenn du lange genug über ihn nachgedacht hast." Der Jurist suchte wie ein "Gesetzgeber" die idealtypische Regel für "viele Fälle" zu finden, die -- weiter im Bild gesprochen -- helfen könne, dem "Einzigartigen" gerecht zu werden. Später überfielen ihn Zweifel, ob seine Aufzeichnungen diesen Zweck erfüllen, ob sie eine interessierte Leserschaft finden würden: "Niemand hält den Tod als solchen für ein Problem, außer dass er eben das Ende des Lebens markiert, und ich komme mit ihm auch nicht weiter. Krebsbücher gibt es schon eine ganze Menge." Aber seinen Zweifeln zum Trotz hat Noll sein Vorhaben bis wenige Tage vor seinem Tod durchgeführt und die Gedanken notiert, die ihm angesichts seines Zustandes und der Aussicht kamen, bald sterben zu müssen. Bewußt enthielt er sich der systematischen Schreibweise; gleichwohl lassen sich in dem Tage- und Denkbuch wiederkehrende Perspektiven ausmachen, die über das Thema von Sterben und Tod hinaus das Leben des Individuums in einer modernen Gesellschaft betreffen.

Das persönliche Motiv für seinen Entschluß, seine Notate nach seinem Tod veröffentlichen zu lassen, sah Noll nicht im antiken "Drang zur eigenen Verewigung"; sondern er stellte die eigene Durchschnittlichkeit in den Vordergrund: "Ich will nur meine Situation als durchschnittlich und zugleich exemplarisch vorführen, damit die Leser sehen, dass es Sinn hat, sich mit Sterben, Tod und Jenseitsvorstellungen auseinanderzusetzen."

Nolls historisches Vorbild für die Selbstdarstellung eines gewöhnlichen Menschen, der sich als exemplarischen Menschen betrachtet, war Michel de Montaigne, der um 1580 mit seinen Essais den Typus des unabhängigen Intellektuellen schuf. Der französische Jurist lernte ohne Abhängigkeit von gesellschaftlichen Gruppen sich selbst als sterblichen Menschen zu betrachten; der Jurist ist fasziniert von Montaignes philosophischer Haltung und Lebensführung:

"Wieder einmal Montaigne gelesen. Sein Denken war so frei, dass die Weisheit wie von selber kam. Jemand setzt sich in einen Turm, hundert Meter vom Haus der Familie entfernt, und denkt und schreibt, ein halbes Leben lang. Ein besseres Leben kann man sich eigentlich nicht vorstellen, befreit von allen Zwängen und Pflichten, nur der lustvollen Selbstdisziplin des Denkens folgend. Ständig hat er mit dem Tod sich beschäftigt, und seine Weisheit beweist, dass diejenigen, die sagen, der Tod sei kein Thema, dumm sind."

In Montaignes Essais findet Noll ironisch gebrochen das Motiv seiner Weigerung wieder, sich um der möglichen Teilheilung willen dem medizinischen Behandlungssystem zu unterwerfen:

"Die allgemeine Entwicklung von Heilungen geht immer auf Kosten des Lebens: man zerschneidet uns, man zerstückelt uns, man schneidet uns Glieder ab, man nimmt uns die Nahrung des Blutes: ein Schritt weiter, und wir sind gänzlich geheilt."

Ähnlich hatte Noll seine Kritik an der "passiven Patientenrolle" beschrieben:

"Ständig wird etwas mit ihm gemacht, doch nie auf Grund seiner eigenen Entschlüsse, sondern immer auf Grund von diagnostischen oder therapeutischen Erwägungen der Ärzte oder ganz einfach wegen der Organisation des Betriebs."

In diese Situation will der Individualist nicht kommen; er will die "Rolle des Gesunden und des Normalen" so lange als möglich einnehmen, dabei wohl wissend, "todkrank, aber eben nicht Patient" zu sein. Zweifelsohne wertet Noll die persönliche Handlungsfreiheit wie Montaigne als ein sehr hohes Gut, das die ärztliche Hoffnung auf möglichste Lebensverlängerung in seiner Entscheidung überwiegt.

Neben dem Wunsch, solange als möglich frei entscheiden zu können, motiviert Noll seine kritische Haltung gegenüber der medizinischen Welt. Ebenso ist es Nolls Skepsis gegenüber jeglichem Machtgebaren, das gerade in bürokratisch geordneten Strukturen eine immense Wirkung entfalten kann. Die Medizin steht in Gefahr, das Individuum in ihrem bürokratisch strukturierten "Ritual des Sterbens" zu verwalten, genauso, wie die Kirche und ihre "Bestattungsbeamten" dazu neigten, die "Realität des Sterbens und des Todes" zu verdrängen. Wie er sich der klinischen Routine, eine unheilbare Tumorerkrankung möglichst lange zu behandeln, demonstrativ entzieht, so sucht Noll ebenso die individuelle Entscheidung gegen die alltägliche Gewohnheit im kirchlichen Umgang mit dem Sterben:

"Der Gemeinde soll mitgeteilt werden, was ich denke über Sterben und Tod und wie ich das Sterben erlebt habe. Es soll eine Aufforderung an das Publikum sein, sich mit dem -- abgesehen von der Geburt -- wichtigsten Ereignis auseinanderzusetzen."

Diesen Anspruch entfalten Nolls Diktate über Sterben und Tod in umfassender Weise, indem sie über die medizinischen Zusammenhänge hinaus verschiedene Perspektiven entwerfen, in denen der moderne Mensch seine persönliche Freiheit gegenüber der Versuchung, in fremde Machtgewohnheiten einzuwilligen, zu verteidigen hat. Seine größte Sorge gilt der Möglichkeit, unter bürokratisch legitimierten Ordnungs- und Machtstrukturen, wie er sie in Gesellschaft, Universität, Kirche und Medizin biographisch erfährt, nicht zum Mittel degradiert zu werden, sondern die Möglichkeit eigener Zwecksetzungen zu behaupten. Noll kritisiert die Neigung, sich den bürokratischen Herrschaftsstrukturen im Glauben anzupassen, sie würden den besten Handlungsablauf garantieren. Aber da sie der individuellen Entscheidung kaum Raum beließen, mißtraut er ihrer Eigendynamik grundsätzlich:

"Die meisten halten es für beruhigend, dass überall die Apparatschiks die Macht haben; denn diese meint man, machen keine Dummheiten. Das Gegenteil ist der Fall. Die Dummheit oder Verrücktheit ist zwar keine individuelle, jedoch, was viel schlimmer ist, eine kollektive, kolossale, im System unentrinnbar angelegte. Niemand trägt dafür die Verantwortung. Die Systeme handeln völlig logisch und konsequent und werden logisch und konsequent die totale Vernichtung herbeiführen."

Noll bezeichnet die bürokratisch verwaltete Welt, welche nach die Handlungsmacht verteilt und kontrolliert, als gottlos, da sie ohne die Möglichkeit der persönlich verantworteten Gewissensentscheidung auszukommen scheint. Das selbständige, nur einer höheren Person, Gott verantwortliche Individuum ist in ihr überflüssig, nur mehr der soziale Rollenträger zählt; dagegen heißt es:

"Mit Gott kannst du gegen die ganze Welt allein sein, mutig, hochmütig, demütig. Die gottlose Welt, die wir ja nun wirklich haben, ist eine Welt der Machtsysteme, in denen keiner sich auflehnt, alle sich anpassen, alle die anonyme Macht und den gedankenlosen Zwang eines nichtdenkenden Apparats oder Systems vermehren. Da ist mir sogar die Vorstellung eines Vatergottes lieber. Welche Art von Gewissen er auch immer schaffen mag, es ist immer noch besser als die Gewissenlosigkeit, die den Sachzwängen, den Machtapparaten, den anonymen Systemen sich anpasst."

Diese Position paßt zur soziologischen Perspektive Max Webers, welcher die moderne Gesellschaft durch die polare Spannung zwischen charismatischen Persönlichkeiten und rational konsequenter Bürokratie beschrieb. Nur die Fähigkeit, sich durch individuelle Gewissensentscheidungen von tradierten Norm- und Rollenvorgaben zu lösen, bewahre die Gesellschaft vor einer zunehmenden Verkrustung durch einen betriebsblinden Machtgebrauch. Wie Weber interessiert sich Noll für die alttestamentarischen Propheten, deren persönliche Nähe zu Gott und Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Interessen es ihnen ermöglichte, über Jahrhunderte unliebsame Kritik am gesellschaftlichen Machtmißbrauch zu üben:

"Die einzige Organisation des Geistes, die ohne Verlust an Geist einigermaßen funktioniert hat, war diejenige der Propheten im alten Juda, immerhin eine Epoche von gut fünfhundert Jahren, bewundernswert, weil es eine Art institutionalisierten Geist gab, die dennoch frei blieb und immer wieder Einfluss hatte auf die Macht."

In der Nachfolge der jüdischen Propheten sieht er Jesus und Sokrates, die sich in ihrem Gewissen allein einer göttlichen und persönlichen Instanz verpflichtet fühlten, so daß sie die Kraft zu freien Entscheidungen besaßen:

"Wie kann jemand als einziger gegen alle sein und doch bestehen? Stets bedarf er einer höheren Instanz, die allen anderen überlegen ist. Diese kann immer nur Gott sein, auch wenn dafür andere Zeichen eingesetzt werden, zum Beispiel das Daimonion bei Sokrates, sein Gewissen, sein Weltgewissen. Dafür aber braucht es einen einigermaßen definierten und inhaltlich strukturierten Gott, einen Gott, der sich solidarisiert mit menschlichen Anliegen und unterscheidet zwischen Gut und Böse. Eine unbestimmte Neigung zum Religiösen und Numinosen oder zum Mystischen kann nie eine solche Haltung produzieren, die eben nicht nur oder überhaupt nicht der psychischen Selbstbefriedigung dient, sondern der allgemeine Ungerechtigkeit vermindern will."

Von dieser, einem religiösen und philosophischen Individualismus verpflichteten Sichtweise her, entwickelt Noll seine Gesellschaftskritik, die er in seinem Verhalten angesichts der tödlichen Krankheit exemplarisch umzusetzen versucht. Er unterscheidet mit Max Weber Ideen, welche das Individuum durch den persönlichen Umgang mit einer höheren Instanz zu finden hat, von Interessen, welche sich im gesellschaftlichen Leben aus Ideen entwickeln und bürokratischen Handlungsgewohnheiten unterliegen. Das soziologische Schicksal, sich zu bürokratisch starren Systemen ohne individuellen Bewegungsspielräumen zu verwandeln, trifft alle Ideen: "Das Dilemma ist: Der Geist bedarf der Aktualisierung und Überlieferung, die Überlieferung bedarf der Organisation. Die Organisation bringt immer Macht hervor und die gleichen Typen an die Macht."

Jedoch kann der Machtapparat trotz oder gerade wegen der bürokratisch verwalteten und im Regelwerk erstarrten Interessen einen sozialen Schutzraum bieten, der es ermöglicht, individuell engagiert Ideen wie jene der sozialen Gerechtigkeit umzusetzen; Noll zeigt dies am Beispiel politisch aktiver Kirchen:

"Man nenne mir doch einen anderen Apparat, der soviel für die Unterdrückten und Erniedrigten tut wie die echt frommen Pfarrer und Laien in den christlichen Kirchen, zum Beispiel in Lateinamerika und in Südafrika, denen der Apparat Kirche doch wenigstens einen gewissen Schutz verleiht. Das spricht nicht für den Apparat als Apparat, sondern dafür, dass dieser Apparat sein Gewissen nie ganz wird verlieren können."

Auch hierin gleicht er Weber, der diese Möglichkeit mit Ideen weichenstellend auf Interessenentwicklungen einzuwirken, betonte.

Die Voraussetzung hierfür ist die persönliche Bindung an eine gesellschaftsunabhängige Gewissensinstanz, die genug Autorität besitzt, um das eigene Handeln wider die soziale Rollenvorgabe zu ermöglichen. Noll geht es hierbei, um mit dem Soziologen David Riesmann zu sprechen, um den "innengeleiteten Menschen", der sich von der weithin angepaßten Masse dadurch entscheidet, daß er über ein inneres Reservoir an starken Ideen und Wertvorstellungen verfügt. Die Gefahr, daß diese ebenfalls in Rollenschemata veräußerlicht werden, gerade wenn man sie konsequent zu verfolgen trachtet, hatte Noll angedeutet. Systematisch hat erstmals Max Weber diesen dilemmatischen Zirkel in Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus untersucht. Das rational konsequente Denken und Handeln wird zum Selbstzweck, da es sich von seinem ursprünglichen Motiv löst, sich der Auserwähltheit durch Gott als würdig zu erweisen. Grund hierfür ist der äußere Erfolg, der, folgt man Weber, anfangs nur locker das Handeln umgab, während er später zum eisernen Käfig wurde, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.

Insofern verwundert es nicht, daß Noll, der aus dem Schweizer Protestantismus stammt und sich als religiösen Menschen begreift, in seinen Diktaten alternative Wege zum rein rationalen Denken sucht, das in Gefahr steht, das Individuum vollkommen zu vereinnahmen. Er sucht deshalb die Tendenz zum abstrahierenden Denken dadurch zu mildern, daß er sie mit "Einmaligem und Individuellen" verknüpft, das sich der Abstraktion verweigert. Dieses Besondere besitzt für Noll einen höheren Wert als das Allgemeine; von dieser Wertposition her ist seine Kritik an der gesellschaftlichen Bürokratie- und Machtentfaltung zu verstehen. Das handlungsfreie Individuelle weist auf den "lichten Geist" hin, während die schematisch verwaltete Welt ihm als "gottlos" erschien:

"Vielleicht sind die Sinnoasen, die ja immer durch das Einmalige und Individuelle hervorgebracht werden, winzige Fenster, durch die man den Geist sieht oder wehen spürt, der am Ende allem Sinn geben wird. Dann werden auch die verlorenen Objekte der Evolution wieder eingesammelt; ihre Fehlentwürfe werden als grosse Malereien erkannt werden. Man wird sehen, dass die unvollendeten Skizzen genauso vollendet sind wie das Vollendete."

Es geht um die Wahrnehmung der Welt in ihren Einzelphänomenen, welche durch die moderne Lebenswelt in ihrer gedankenlosen Machtstruktur kaum mehr gelingen kann. Die Tatsache, plötzlich den individuellen Tod gewärtigen zu müssen, fordert Noll heraus, sich darauf zu besinnen. Er sucht nicht nur seinen "eigenen Tod" zu sterben, wie Rilke das sagt, sondern nimmt diese Situation zum Anlaß, darüber hinaus den individuellen Gewissens- und Handlungsspielraum als notwendige Bedingung des gesellschaftlichen Lebens einzuklagen. Dies hat für seine Vorstellung, wie man nachdenken solle, wichtige Folgen:

Das Denken muß anschauliche und emotionale Bezüge besitzen, wenn es nicht der Gefahr der Abstraktion erliegen will: "kein Denken, das über das Fühlen hinausgeht. Die Tanne vor dem Haus, der Berg dahinter, die Frau neben dir, die fühlbaren Ereignisse seien dir genug."

Das individuelle Denken muß sich einer gesellschaftsunabhängigen inneren Instanz verpflichtet fühlen, um sich von scheinbaren Sachzwängen der bürokratischen Maschine lösen zu können. Für Noll ist sie im Begriff "Gott" repräsentiert, auch wenn er ihn im Sinne der christlichen Dogmatik begrifflich fixiert:

"Dies führt zum Gedanken an Gott als oberste Berufungsinstanz, die den einzelnen frei und stark machen kann, auch wenn die ganze übrige Gesellschaft gegen ihn ist. Diese -- wichtigste -- psychologische Funktion Gottes wird von den Psychologen nicht gesehen, auch vom ziemlich religionsfreundlichen Erich Fromm nicht, obwohl dieser sich unermüdlich auf die Beispiele von Propheten, von Sokrates und Jesus beruft."

Das individuelle Denken muß die eigene Relativität anerkennen können, ohne die Möglichkeit eines verborgenen Absoluten damit ausschließen zu müssen. Positiv heißt das, daß alles, was man für wahr hält, unter den wandelbaren Voraussetzungen des eigenen Gewissens steht. Nur so ist gewährleistet, daß die religiöse und philosophische Tradition nicht zur unkritisierbaren Kruste wird, die alle individuelle Entfaltung in einer veränderten Zeit durch ihre erschlagende Autorität im Keim erstickt. Diesen Zusammenhang erläutert Noll am christlichen Bekenntnis, das fälschlicherweise den Glauben an absolute Tatsachen wie die Auferstehung fordere:

"Angenommen, Jesus wäre nicht auferstanden, warum sollte dann sein Tod sinnlos gewesen sein und warum sollte Gott nicht trotzdem die Welt erlösen können? Insofern ist die Freiheit Gottes zugleich die Gewissensfreiheit des einzelnen. Interessanterweise wird diese Credo-Haltung gegenüber dem Alten Testament überhaupt nicht eingenommen. Die Aussagen der Propheten darf man historisch relativieren, und auch die Juden haben es immer so gehalten, ohne dass damit ein Schwund an gedanklicher Substanz verbunden wäre, im Gegenteil. Mit der Relativierung kratze ich den Schutt weg, der über dem Absoluten liegt, und vom Absoluten her kann ich die Aussage aktualisieren, natürlich nur für die jeweilige Zeit."

So kann die Vorstellung einer falschen Gewißheit zu religiösen, sozialen und medizinischen Ideologien führen, die bürokratisch sanktioniert sind und alle Handlungsfreiheit nehmen. Insofern zeigt sich Noll äußerst skeptisch gegenüber denkbaren Dogmen, rationalen Letztbegründungen des Handelns, da ihr abstrahierender Charakter den Raum des individuellen, gewissenhaften Entscheidens stark beschneidet. Das Denken selbst schränkt er deshalb auf die Funktion ein, nicht Zwecke zu setzen, sondern ihre technische Umsetzung rational sinnvoll zu ermöglichen:

"Immer wieder die Frage, was das Denken eigentlich leisten kann, und wieder die Antwort: sehr wenig. Es kann vor allem das Handeln nicht motivieren, sondern nur für vorgegebene Motive: Überlebensdrang, Machtsucht, Genussucht usw., Techniken entwerfen, die diese befriedigen."

Neben dem abstrahierenden kritisiert Noll auch das spekulative Denkens, sofern es sich von der konkreten Wirklichkeit löst, reines Denken sein will. Nicht zufällig spielt er auf die Philosophie Martin Heideggers an, die paradigmatisch für diese Tradition steht, sich begriffsscholastisch über die Realität zu erheben:

"Das Denken, das versucht, sich selber zu denken, ist ohne empirisches Objekt, bleibt entweder wortlose Meditation oder führt zu in sich selber drehenden Wortspielereien. Das Nichts nichtet, die Sprache ist das Haus des Seins, das Dasein ist ein Vorlaufen zum Tode (Heidegger)."

Mit Distanz bezeichnet Noll die Tradition des spekulativen Denkens seit Platon als "ästhetische Spielerei", die fern von dem ethischen Anspruch der kritischen Selbstbesinnung geblieben sei. Nichtsdestotrotz hält er philosophische Spekulationen für möglich, ist also kein materialistischer Denker. Zentral ist seine Angst, daß sich das abstrahierende Denken von den konkreten Lebensphänomenen lösen oder sie verzerren könne, ohne ihnen angemessen zu sein. Nicht zufällig ist sein Buch eine lose Sammlung von Aufzeichnungen, die versucht, sich dem individuell sprunghaften Denkvorgang anzupassen, ohne ihm eine strenge Systematik zu unterlegen.

Seine Skepsis gegenüber dem begrifflichen Denken läßt ihn aber nicht in einen sprachlichen Irrationalismus verfallen, der jede Mühe um gedankliche Exaktheit ablehnt, um unklar und ungenau bleiben zu können. Vielmehr drückt sich für ihn in dem Wunsch nach einem rationalen Verstehen implizit die Suche nach einem Sinn aus, weshalb er sich gegen die Tendenz der sprachlichen Simplifizierung wendet:

"Das Denken könnte nie exakt sein, weil die Sprache nicht exakt ist. Es gebe Momente völliger Klarheit im Denken und Bewusstsein, die man nicht einmal sich selber mitteilen kann, geschweige denn andern. Die Sprache ist gemacht von der großen Mehrheit, und diese repräsentiert die Durchschnittlichkeit. Dafür dann die esoterische Sprache der Philosophen und die Symbolsprache der Mathematiker. Woher aber das Bedürfnis nach Exaktheit? Handelt es sich um Suche nach Sinn?"

Noll setzt sich von allen gedanklich-argumentativen Trostformen ab, die die christliche Religion angesichts des Todes zu spenden hat. Als Protestant schätzt er aber die einzige Kunstform, die aus dem Protestantismus hervorgegangen ist, um das Geheimnis des Todes und was nach ihm sein könnte, auf nichtsprachlicher Ebene auszuloten:

"Der triumphale Sieg über den Tod, der im 'Resurrexit' der h-moll-Messe zum Ausdruck kommt, entspricht genau dem christlichen Glaubensbekenntnis. Dieses kann ich aber nicht unterschreiben, und ich glaube auch nicht an eine Auferstehung in jenem Sinne, d.h. ich bin nicht davon überzeugt. Das könnte, wenn die Chöre im Grossmünster gespielt werden, Missverständnisse hervorrufen, die ich aber in Kauf nehmen muss. Ich kann es mir selber nicht erkläre, wie soll ich's dann anderen erklären? Es tönt fade, wenn ich sage: diese Musik selber ist ein Triumph über den Tod, und solange sie erklingt, ist der Tod überwunden, auch für denjenigen, der sie im Sterben noch hört oder im Gedanken daran stirbt, dass andere sie bei seiner Beerdigung hören werden. Für mich ganz persönlich jedenfalls ist diese Musik besonders diese, ganz eng damit verbunden, dass ich mein Sterben und meinen Tod nicht mehr -- oder noch nicht -- fürchte. Wenn nach dem Tod etwas Neues beginnt, dann werde ich mich davon umso lieber überraschen lassen. Stets werde ich zugeben, dass der Gedanke an ein ewiges Reich Gottes, ob ich es erlebe oder nicht, ein Gedanke bleibt, der mich immer wieder überwältigt: cuius regni non erit finis. Ich kann nichts dagegen tun."

 

autoreninfo 
Dr. Matthias Bormuth (geb. 1963): Medizinstudium und psychiatrische Assistenzjahre; Stipendiat des Deutschen Literaturarchivs und am Graduiertenkolleg ,Ethik in den Wissenschaften' der Universität Tübingen, dort seit 1998 wiss. Mitarbeiter und Assistent am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin in Tübingen; Monographien und Aufsätze zur Psychiatrie-, Wissenschafts- und Kulturgeschichte, u.a. bei parapluie; Thema der Habilitation: Ethische und kulturwissenschaftliche Aspekte des Suizides. Veröffentlichungen: Lebensführung in der Moderne. Karl Jaspers und die Psychoanalyse (2002), Ethik in der psychiatrischen Forschung (2005) -- Kritik aus Passion. Studien zu Jean Améry (2005) -- Gottfried Benn -- "Ein Barde des Nationalsozialismus"? (2005) -- Mimesis und der christliche Gentleman. Erich Auerbach schreibt an Karl Löwith (2006).
E-Mail: matthias.bormuth@uni-tuebingen.de

 

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