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no. 16: driften -> ausgegraben
 

ausgegraben

Im Angesicht der Leberwurst -- Nikolaj Erdman

von Barbara Damm

Um Himmels Willen! Ein Russe schreibt, als der Bolschewismus noch in den Kinderschuhen steckt, Satiren auf die Mißstände der jungen UdSSR. "Um Himmels Willen!" sagten da die Kulturfunktionäre -- und beschlagnahmten kurzerhand die Objekte des Anstoßes.

Heute möchte man Erdman gern Beifall spenden für seine urkomischen Komödien -- wirft man allerdings einen Blick auf den europäischen Literaturkanon, hält man in seinem Klatschen inne: Ein unwillkürliches "Warum?" drängt sich einem auf -- warum hat sich von diesem großen russischen Satiriker, einem dramatischen Talent vom Kaliber eines Daniil Charms oder Michail Bulgakows und Schöpfers eines umfangreichen Oeuvres von Gedichten, Bühnentexten und Drehbüchern, so gut wie nichts erhalten?

Rückblende: Nikolaj Robertowitsch Erdman wird 1902 in eine russifizierte, deutsch-baltische Familie hineingeboren und kommt in den 20er Jahren nach Moskau. Hier schließt er sich einer Gruppe aufstrebender Theaterautoren an, verfaßt Sketche, Parodien und Agitationsstücke. 1925 freut sich Erdman über die Uraufführung seines ersten abendfüllenden Stückes Mandat auf der Bühne des Meyerhold-Theaters -- ein Riesenerfolg!

In einem Reigen grotesker Szenen zeigt das Stück die wenig fruchtbaren Bemühungen einiger Notabeln des alten Systems, den Zarismus wieder einzuführen, während das Bürgertum ebenso erfolglos versucht, sich in grotesker Verkleidung wenigstens äußerlich den nachrevolutionären politischen Verhältnissen anzupassen. Ein Jahr später kann der gerade mal 23-jährige Autor bereits auf die 100. Aufführung anstoßen. Und nicht nur das! Sein Sprachwitz und seine turbulente Handlungsführung erobern auch die Bühnen im Ausland. 1927 sorgt Friedrich Neubauer mit seiner Inszenierung am Berliner Renaissance-Theater für ein volles Haus.

Ja, Erdman, der so gern die Anhänger der vorrevolutionären Ordnung verspottet und zugleich die Opportunisten der Gegenwart ohrfeigt, hat es geschafft! Doch schon bald macht er sich unbeliebt und landet noch vor der Inszenierung seines zweiten abendfüllenden Stückes im Kerker; Komödien wie Eine Sitzung über das Lachen werden konfisziert. Da nützt Erdman auch die hohe Wertschätzung Konstantin Stanislavskijs nichts, und daß ihn Maxim Gorkij bereits als neuen 'Gogol' ausgerufen hat und scheinbar noch weniger, daß der Genie-Regisseur Wsewolod Meyerhold sich begeistert in die Probenarbeit stürzt.

Was war geschehen?

Auf Rußlands gesellschaftlicher und politischer Bühne vollzogen sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekanntermaßen umwälzende Prozesse. Solange die alten Zaristen mit den Sozialisten kämpften, konnte man sich unbesorgt dem satirischen Gelächter hingeben; man lachte über Attacken gegen das noch ungefestigte, postrevolutionäre Regime, lachte über das kapitalistische Ausland und die Ewig-Gestrigen im Inland. Diese relative Freiheit der Schriftsteller und des Publikums war spätestens mit Stalins Erlaß vom April 1932 einer völligen Gleichschaltung des Geisteslebens zum Opfer gefallen. Literatur, ja Kunst überhaupt, hatte nur noch eins zu sein: positiv, regimeverherrlichend. Erdman, Meister satirisch-kritischer Mehrdeutigkeit und ironischer Brechung, hat in solchen Zeiten freilich nichts zu lachen; schon gar nicht, wenn er seinen Figuren Sätze wie diese in den Mund legt:

"Erinnern Sie sich doch mal, wie das früher gemacht wurde. Früher hatten die Leute eine Idee und wollten dafür sterben. Heute haben die Menschen, die sterben wollen, keine Idee, und die Menschen, die eine Idee haben, wollen nicht sterben. Dagegen muß man kämpfen, mehr als je zuvor brauchen wir ideologische Leichen."

In einem Schmähartikel aus dem Jahre 1937 wirft man Erdman vor, er habe "[...] die Existenzrechte des Kleinbürgers verteidigt und gegen die Diktatur des Proletariats protestiert. [...] Eine Reihe von Theaterleuten bewerteten das Stück als einen eindeutigen politischen Angriff auf die Linie der Partei als feindlichen Ausfall."

Scheußlich!

Die traurige Folge dieser Geschehnisse: Erdmans Stücke bleiben jahrzehntelang unveröffentlicht und ungespielt. Noch trauriger für Erdman selbst ist zweifellos seine rund 20 Jahre währende Verbannung und die harte Existenz im Arbeitslager. Erst 1956 kehrt er zurück -- vergessen von Mütterchen Rußland. Bis zu seinem Tode im Jahre 1970 ist er Autor von Zeichentrickfilmen, schreibt zahlreiche Drehbücher, darunter eine Bearbeitung von Mark Twains Der Prinz und der Bettler, theatralisiert Werke Dostojewskijs; doch spielt er keine nennenswerte literarische Rolle mehr in seiner Heimat.

Sei's drum!

Immerhin hat sich die Komödie, für die Erdman einst verhaftet wurde, und die in der UdSSR niemals in Druck ging, wenigstens beinahe vor dem Vergessen gerettet: 1928 richtet Erdman in Der Selbstmörder (Samoubijca) sein Florett gegen sowjetische Verhältnisse und klagt alte Ideale wie Freiheit, persönliches Glück und Menschenwürde ein. Mit seiner Hauptfigur, dem arbeitslosen Semën Semënovic Podsekalnikov läßt er einen Jedermann aufmarschieren, der keiner sein will und der unversehens in eine Rolle gedrängt wird, die er gar nicht spielen wollte. Erdmans Antiheld fordert schließlich lautstark sein Recht auf ein menschenwürdiges Leben und Gerechtigkeit -- und spricht damit die Wahrheit der kleinen Leute aus, die als Angehörige der Masse nie als einzelne interessieren.

Doch zunächst kommt erst einmal Marja zu Wort, als sich die nächtliche Lust ihres Gatten auf Leberwurst regt. Mit ihrer Gardinenpredigt spricht sie so mancher Ehefrau aus dem Herzen:

"Also weißt du, Semën, alles hätte ich von dir erwartet, aber daß du mitten in der Nacht deiner todmüden Frau mit Leberwurst ankommst -- das hätte ich nie erwartet. So eine Instinktlosigkeit, eine Instinktlosigkeit. Den ganzen Tag arbeite ich wie ein Pferd, wie eine Ameise, und statt daß du mich nachts nur einen Augenblick in Ruhe läßt -- machst du mich auch noch im Bett nervös! Weißt du, Semën, mit dieser Leberwurst hast du in mir so viel abgetötet, so viel abgetötet."

Das Stück Leberwurst wird ihm zum Verhängnis -- Semëns nächtlicher Rückzug in die Küche, wo er seine heißgeliebte Wurst heimlich zu verschlingen gedenkt, ist alsbald zum geplanten Selbstmord hochstilisiert und die besagte Leberwurst, die er sich gerade in den Mund stecken will, als vermeintlicher Revolver entlarvt. Semëns panische Frau Marja und seine noch panischere Schwiegermutter Serafima Iljinicna tappen sprichwörtlich im Dunkeln, denn zu allem Übel ist wegen unbezahlter Rechnungen der Strom abgestellt. Doch um den bevorstehenden 'Selbstmord' zu verhindern, muß nachbarschaftliche Hilfe herbeigeschafft werden, koste es, was es wolle. Die Szene sprüht vor absurder Komik:

"MARJA: klopft Aleksandr Petrovic ... Genosse Kalabuskin ...
ALEKSANDR: von draußen A-a-ah?
MARJA: Ich bins, die Podsekalnikova.
ALEKSANDR: von draußen Wer?
MARJA: Podsekalnikova, Marja Lukjanovna. Guten Abend!
ALEKSANDR: von draußen Was gibts?
MARJA: Ich brauche Sie dringend, Genosse Kalabuskin.
ALEKSANDR: von draußen Wie, wozu brauchen Sie mich?
MARJA: Als Mann.
ALEKSANDR: von draußen Was denn, was denn, nicht so laut, Marja Lukjanovna!
MARJA: Sie, Genosse Kalabuskin, haben jetzt natürlich anderes im Sinn, aber, Genosse Kalabuskin, denken Sie nur, ich bin allein, ganz allein. Was soll ich tun, Genosse?
ALEKSANDR: von draußen Waschen Sie sich mit kaltem Wasser, Marja Lukjanovna.
MARJA: Was? Genosse Kalabuskin ... Genosse Kalabuskin! ...
ALEKSANDR: von draußen Nicht so laut, verdammt!
MARJA: Genosse Kalabuskin, ich breche die Tür auf!
ALEKSANDR: von draußen Um Gottes willen! ... Hören Sie? Halt! ... Warten Sie!
Mit einem Krachen fliegt die Tür auf.
In der Tür erscheint Margarita Ivanovna. Eine gewaltige Frau im Nachthemd.
MARGARITA: Die Tür aufbrechen? Interessanter Zeitvertreib für eine junge Dame! Ach, Sie verdammte Schlampe Sie, entschuldigen Sie den Ausdruck."

Eine Lust!

Nach einer weiteren eingeschlagenen Türe schleifen Familie und Nachbarn den verwirrten Semën an Händen und Füßen aus der Küche und plappern 'beruhigend' auf ihn ein. Die 'heiteren' Geschichten und die gutmeinenden, leeren Phrasen "Bürger Podsekalnikov! Das Leben ist schön!" kommentiert er zunächst nur mit einem lapidaren "Ja und, was soll ich damit?" bis ihm schließlich der Kragen platzt: "Wenn Sie mir noch einmal etwas von einem Mops erzählen, reiße ich Ihnen die Haut vom Leibe! Laufen Sie mir nicht dauernd nach! Alte Idiotin."

Unzufrieden mit seinen Lebensumständen und auf die Idee des Freitods gebracht, überlegt sich Semën dann tatsächlich, wie er sich wohl umbringen könnte. Das Problem: er ist ein Feigling. Selbst die Beschaffung einer Waffe bringt ihn nicht voran, und er sinnt nach einem Ausweg: Semën versucht sich auf der Baßtuba, um als Künstler seinen Weg zu machen. Doch die Selbstmordidee meldet sich rasch wieder, als das Lehrbuch in einer fortgeschrittenen Lektion die Begleitung durch ein Piano empfiehlt, das er sich nicht leisten kann.

Was sich als psychologischer Fall ankündigt, weitet sich zum gesellschaftlichen Ereignis -- Vertreter verschiedener sozialer Gruppen versuchen, sich des armen Selbstmörders in spe für ihre Ziele zu bedienen: "In unseren Zeiten, Genosse Podsekalnikov, kann nur ein Toter aussprechen, was ein Lebender denkt. Ich komme daher zu Ihnen wie zu einem Toten, Genosse Podsekalnikov. Ich komme zu Ihnen im Namen der russischen Intelligenz." Eine romantische Dame namens Kleopatra meldet dann auch noch ihre Ansprüche an, Semën möchte doch zu ihren Ehren sterben -- vor allem, um ihre Chancen bei einem gewissen Oleg zu erhöhen.

Eine absurde Situation entsteht: In Semën erwacht ein neues Selbstwertgefühl als potentieller Märtyrer. Sein als sinnlos erkanntes Dasein möchte er nun aber doch nicht beenden, da die Sinnlosigkeit als eigentlicher Anlaß zum Freitod nicht mehr besteht.

Unverdrossen zelebrieren indessen die neugewonnenen 'Freunde' seinen bevorstehenden Selbstmord mit einem großen Abschiedsbanquett. Sturzbetrunken erwacht Semën keineswegs im Himmel, sondern in seiner Wohnung. Infolge von Verwicklungen gerät er doch noch auf den Friedhof. Als er sich am Ende vor den Augen der schockierten Trauergemeinde aus dem Sarg erhebt, schließt sich der Kreis, und die hoffnungslose Lage aller Beteiligten tritt zutage: Nichts hat sich verändert -- Semën steht im Hemd da und hat Hunger ...

Die Theaterwirksamkeit dieser brillanten Satire ist unbestritten. In der Regie von Johan Falck erlebt der Der Selbstmörder in Göteborg 1969 (!) endlich die Welturaufführung -- ein Jahr vor dem Tode Erdmans, der dieses Ereignis mit den Worten kommentiert: "Das wird mein Leben wohl nicht im geringsten verändern, aber mein Schicksal als Schriftsteller hat sich offensichtlich schon gewendet."

In den 70ern wird Erdmans Lachen im Welttheater ausdrücklich begrüßt und es kommt zu einem regelrechten Boom. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in England, Belgien, Israel und Südafrika feiert man den Selbstmörder als Theatersensation. Die deutsche Erstaufführung findet 1970 in Zürich statt -- ein ungeteilter Publikumserfolg; ebenso die Inszenierung August Everdings, der sich 1971 für die Münchner Kammerspiele des Stoffes annimmt -- kurz: Der Selbstmörder zählt 1970/71 zu den drei meistgespielten Stücken der Spielzeit. Seit den 80ern ist es um Erdman bedenklich still geworden. Die Ensemblekomödie Mandat konnte sich trotz Lobes vom großen Bertolt Brecht ohnehin nie auf deutschen Spielplänen etablieren.

Und Erdman heute?

Heute, in einer ideologisch fundamental gewandelten Welt -- vom Hurra-Kommunismus zum Turbo-Kapitalismus -- ist die Entscheidung schwierig, welches Lachen man bei Erdmans doppelbödigen Komödien lachen soll, und es ist nicht zu leugnen, daß Der Selbstmörder erhebliche Anforderungen stellt -- an Regisseure und Publikum gleichermaßen: Ein Gespür für die Doppelbödigkeit, den Klamauk, die Clownerie, die Dialog- und Situationskomik, die traditionellen Schein-Sein-Verwirrungen aber auch für Trauer und Resignation. Immerhin beweinte jüngst das Frankfurter Theater am Turm mit dem bitter-komischen Selbstmörder seine Abwicklung.

Will man sich dem Stück (künstlerisch) nähern, ist eine indifferente Haltung zur Geschichte ebensowenig hilfreich, wie eine rein historisch-politische Rezeptionsperspektive. Die Verflachung der Komödie zum Kleinbürgerschwank ist eine Falle, in die viele Inszenierungen getappt sind. Vielleicht hilft es schon, die Ehrfurcht ein wenig zurückschrauben vor der Tatsache, daß Erdman ein Zeitzeuge politischer Umwälzungen von Jahrhundertbedeutung war und sich schlichtweg zurückzubesinnen auf sein urkomisches Talent und auf das Allzumenschliche, welches das Stück allgemeingültig macht -- die Kluft nämlich zwischen der lächerlichen Alltagsmisere und dem verwegenen Heroismus als vermeintliche Lösung allen Übels.

Erdmans 'Selbstmörder' ist nicht nur ein kleiner, sondern ein verkleinerter Mensch; durch die Umstände seiner Zeit und seiner Umgebung genauso, wie durch sich selbst; und dabei möchte er doch nur eines sein -- ein "IN-DI-VI-DU-UM!" -- durchaus aufs Heute übertragbare Dimensionen, deren Bitterkeit sich in Semëns Schlußworten entfaltet:

"Haben wir wirklich etwas gegen die Revolution getan? Vom ersten Tag an haben wir nichts getan. Wir besuchen uns nur gegenseitig, um uns zu erzählen, wie beschwerlich das Leben ist. Weil es sich einfacher lebt, wenn man über das Leben klagt. Um Himmels Willen, beraubt uns nicht des letzten Sinns unserer Existenz; erlaubt uns, zu sagen, daß unser Leben beschwerlich ist. Und wenn wir es nur flüstern dürfen."

Im sowjetischen Rußland ließ Erdman seine Figuren um die Leberwurst schleichen -- schleichend kam auch das Vergessen dieses großartigen Autors. Um Himmels Willen!

 
Literatur: Peter Urban legte 1990 eine gelungene Übersetzung vor, allerdings nur für den ersten Akt: Urban, Peter (Hrsg.): Fehler des Todes. Russische Absurde aus zwei Jahrhunderten. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1990.
Mandat (1924) und Der Selbstmörder (1928) liegen im Luchterhand-Verlag, Darmstadt als Bühnenmanuskripte vor. Leider wohl nicht für 'Normalsterbliche' bzw. ohne spezielle Begründung zu erhalten.
Wer des Russischen mächtig ist, findet mit etwas Glück in einer gut ausgestatteten Uni-Bibliothek
Samoubijca in der 1972 im Verlag K-Presse (Bremen) oder Mandat in der 1976 bei Sagner (München) erschienenen Ausgabe.
Ansonsten bleibt -- wie so oft bei Ausgegrabenen -- nur der Gang zum Antiquariat ...

 

autoreninfo 
Barbara Damm studierte Anglistik, Komparatistik und Germanistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Magisterarbeit mit filmwissenschaftlichem Schwerpunkt. Seit 1994 Theaterarbeit an verschiedenen öffentlichen Bühnen und in der freien Szene. Seit August 2005 Festengagement in der Schauspieldramaturgie des Theater Bonn.

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