![]() |
elektronische zeitschrift für kulturen · künste · literaturen ![]() |
![]() | |
no. 17: improvisation
![]() |
Improvisierte Biographien |
||
von Joachim Lerchenmueller |
|
Für die sogenannten Braunschweiger, die Namenswechsler nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, wird der Versuch, der Vergangenheit zu entkommen zur biographischen Stunde Null. Sind die Motivationen für den Identitätswechsel auch vielfältig, so ist doch allen gemeinsam der Zwang zur Improvisation. Der Fall Hans Schwerte wirft ein besonders prägnantes Licht auf solche Formen der biographischen Improvisation mit der kriegsbeschädigten Identität. |
||||
"Eins: Jahrgang 1909; aus mittelständischer Familie; Studium der Kunstgeschichte und der Malerei; seit 1929 Mitglied der NSDAP und der SA; in hohen Partei- und politischen Funktionen eingesetzt; Zugang zum Führer. Erhielt seine neuen Papiere durch Zwei; zunächst als Buchillustrator, dann als Musiker tätig. |
||||
Braunschweiger: so nannte der Volksmund die Namenwechsler nach Kriegsende. Der Ausstieg aus der eigenen Biographie als Einstieg in die Nachkriegszeit. So selten war das gar nicht, auch wenn die gelegentlich kolportierte Zahl von 80 000 wohl zu hoch gegriffen ist. Und es waren nicht nur Akademiker, wie die drei Beispiele nahe legen könnten; Illegale kamen aus allen Schichten der Bevölkerung. Gründe abzutauchen gab es viele: Angst vor Verfolgung durch die Alliierten, vor möglichen Racheakten, oder davor, nicht entnazifiziert zu werden. Für manche war es eine Flucht vor der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun: die neue Identität als biographische 'Stunde Null'. Anderen ermöglichte die pseudo-biographische Distanz zum eigenen Ich erst die selbstkritische Befragung. |
||||
Allen gemeinsam ist der Zwang zur Improvisation. Und zur möglichst detaillierten Planung. Beides bedingt einander, ist Voraussetzung für den Erfolg der Braunschweiger-Existenz. Mit dem Beschaffen einer neuen Kennkarte ist es nicht getan. Legenden müssen gestrickt werden, die man sich schnell aneignen kann -- und die glaubwürdig erscheinen. Dem Akademiker, der sich als Landarbeiter ausgibt, wird sein sprachliches Register ebenso zum Verhängnis wie der geschulte Blick des Anderen auf Hände, die bisher Bücher und nicht Spaten gehalten haben. Auch die Herkunft ist meist nicht zu verleugnen, leicht verrät der Zungenschlag die landsmannschaftliche Zugehörigkeit. Auch ist Vorsorge zu treffen für den Fall, dass man erkannt wird, und sei es nur von einem nichts ahnenden ehemaligen Wehrmachtskameraden, der einen in Gegenwart Dritter mit dem alten Namen anspricht und in gemeinsamen Erinnerungen zu schwelgen beginnt. Nicht wenige geben sich deshalb als eigene Verwandte aus. So leicht entkommt man sich dann doch nicht. |
||||
Hans Schwerte zum Beispiel. Alias Hans-Ernst Schneider. 1909 in Ostpreußen geboren, literarisch begabt, beruflich ambitiös. Bald nach dem Studium findet er den Weg zur SS und macht dort Karriere; nicht als Wissenschaftler, was wohl sein eigentlich Ziel ist, sondern als Wissenschaftsmanager im sogenannten 'Ahnenerbe' der SS, einem Verein, der sich in wenigen Jahren aus skurrilen Anfängen zur größten nichtstaatlichen Forschungseinrichtung des Dritten Reiches entwickelt. Während des Krieges leitet er den 'Germanischen Wissenschaftseinsatz', mit dem Forschung und Lehre der germanischen Brüder und Schwestern in den Niederlanden, Belgien, Dänemark und Norwegen auf völkische Linie gebracht werden soll. Germanische Gemeinsamkeiten pflegen, gemeinsam Gegner bekämpfen, und so die neue europäische Ordnung unter deutscher Führung durchsetzen, das ist das eigentliche Programm. Bei Kriegsende ist er in Berlin damit beschäftigt, Akten zu verbrennen. Frau und Tochter sind längst aus der Hauptstadt evakuiert; bald darauf hat man sich aus den Augen verloren, der aktuelle Aufenthaltsort des anderen ist unbekannt, und auch, wie es dem anderen geht. Frau und Kind begeben sich zu Fuß von Leipzig nach Bayern. Vom Schicksal ihres Mannes erfährt Frau Schneider durch eine Postkarte von unbekannter Hand. Darauf steht: "Wenn Sie mal in die Gegend von Hamburg kommen, dann fragen Sie nach einem Verwandten von Ihnen, der Schwerte heißt." 1946 ist die Familie wieder vereint: Frau Schneider, Tochter Schneider, Herr Schwerte, vormals Schneider. Was tun? Es wird improvisiert: Kurz entschlossen erklärt die Frau ihren Mann vor Standesbeamten in München für verstorben; er sei beim Endkampf seiner SS-Einheit in Berlin ums Leben gekommen. Der angeblich Gefallene wartet unten auf der Straße. Im Jahr darauf, 1947, heiratet Witwe Schneider einen gewissen Hans Schwerte, der ein Verwandter dritten Grades ihres ersten Mannes ist. |
||||
Der Namenwechsel war mit Hilfe des Sicherheitsdienstes (SD) der SS erfolgt, für den Schneider lange Jahre gearbeitet hatte: "In Lübeck lebte die Familie einer Sekretärin eines SD-Kollegen, die mir ohne lange Fragen eine winzige Dachkammer zum Schlafen überließ. Wahrscheinlich am nächsten Morgen begab ich mich in die Lübecker Außenstelle des SD und verlangte ein Anmeldeformular, um meinen Namen zu ändern. Gewundert hat das niemanden dort -- ich war ja nicht der einzige. Passanträge waren bereits keine mehr da." Kontakte zum Geheimdienst waren jedoch keineswegs Voraussetzung für einen erfolgreichen Namenwechsel. Das Chaos der unmittelbaren Nachkriegszeit erleichterte das Abtauchen. Man schwamm im Strom der Millionen Flüchtlinge, der sich in den Monaten und Jahren nach Kriegsende über die westlichen Besatzungszonen ergoß; Papiere und Dokumente wurden als verbrannt, verloren, gestohlen gemeldet. In jedem Fall brauchte es aber Netzwerke, die einen deckten, die aushalfen oder ganz einfach nicht zu viele Fragen stellten. Langsam lebte man sich ein in die neue Biographie; jeder Tag machte Geschichte, ließ die neue Persona realer werden. Zum Personalausweis gesellte sich die Meldebestätigung, ohne die es keine Lebensmittelkarten gab. Mit dem ersten Arbeitsplatz wurden neue Sozialversicherungsansprüche erworben, rechtliche Beziehungen eingegangen, die auf Vertrauen gründeten. |
||||
Hans Schwerte alias Schneider will wieder werden, was er war: Akademiker mit politischem Einfluss. "Den Namen habe ich deshalb nicht behalten, weil ich wußte, daß es dann wahrscheinlich zehn Jahre dauern würde, bis ich überhaupt wieder gehört werden würde. Das ist klar. Man hätte mich vielleicht überhaupt nie mehr gehört. Wer hätte einem, der die SS-Uniform angehabt hat, irgendwie Mitrederecht gegeben? Wir wußten doch, wie wir eingeschätzt waren, mit Recht, mit Recht." Der 37-Jährige Schwerte immatrikuliert sich für Germanistik, ist ab Juni 1947 als Assistent am Deutschen Seminar in Erlangen tätig, promoviert Ende 1948 mit einer Arbeit über den Zeitbegriff bei Rilke. Bald darauf erscheinen die ersten Veröffentlichungen unter dem Namen Schwerte. Schon in Erlangen gibt es Leute, die wissen, daß Schwerte ein nom d'après-guerre ist; es verrät ihn keiner, auch nicht die ehemaligen SD-Kollegen, mit denen er 1954 eine Buchreihe zum Thema Europa herausgibt. 1962 veröffentlicht Schwerte seine Habilitationsschrift: Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie. Das Buch läßt aufhorchen. Es ist auch eine Kritik der Fehlentwicklungen in der Germanistik, von einem Germanisten geschrieben. Danach gilt Schwerte als Liberaler, als Reformer. Bald darauf erscheint sein Beitrag "Deutsche Literatur im Wilhelminischen Zeitalter", in dem er für die Synchronisation von Politik- und Literaturgeschichte eintritt und den Begriff des 'geistigen Bürgerkriegs' im Kaiserreich prägt. Die Achtundsechziger-Zeit erlebt Schwerte als Ordinarius an der RWTH Aachen, wo er 1970 gegen das Mehrheitsvotum seiner Professorenkollegen zum Rektor gewählt wird, nachdem er sich für die Mitbestimmung der Assistenten und Studenten an den Hochschulen ausgeprochen hatte. Auch in Aachen gibt es Leute, die wissen, daß Schwerte Braunschweiger ist: wie sonst konnte das bonmot vom Hans-Schneider-Institut entstehen, das auf die Aachener Germanistik gemünzt war, die Schwerte im Wesentlichen aufbaute? |
||||
Ende April 1995, fast auf den Tag fünfzig Jahre nach dem Namenwechsel, sieht sich Schwerte gezwungen aufzutauchen. Niederländische Fernseh-Journalisten sind ihm auf die Spur gekommen, der Sendetermin für die 'Enthüllungsstory' steht schon fest. Danach kommt es in Aachen anfänglich zum Kampf aller gegen aller: Studierende gegen Professoren, Professoren gegen Professoren, Hochschulleitung gegen Ministerium. Es dauert einige Wochen, bis die Front steht: Alle gegen Schwerte, pardon, Schneider. Von "Tat und Trug" Schneider-Schwertes ist die Rede, vom "Wolf im Schafspelz", der alle jahrzehntelang getäuscht habe. Plötzlich erkennt man in ihm den "Herrenmenschen, den man nur anzuschauen braucht, um zu wissen, wes Geistes Kind er ist". Die Staatsanwaltschaft eröffnet ein Ermittlungsverfahren gegen ihn, um zu prüfen, ob seine Tätigkeit für die SS strafrechtlich verfolgt werden kann; das Verfahren wird eingestellt. Schneider-Schwerte wird symbolisch bestraft: Entzug der Pension, Zahlungsrückforderungen, vor allem aber: soziale Isolation. Fast keiner der alten Kollegen, Freunde und Bekannten -- darunter zahlreiche Politiker aus NRW -- will mehr mit ihm zu tun haben. Schwerte stirbt Ende 1999 in einem bayerischen Altersheim. |
||||
Ein erstes Amnestiegesetz der Bundesregierung für Illegale wurde kaum in Anspruch genommen, gerade einmal 241 Personen meldeten sich 1950 bei den Behörden, um wieder in ihre alte Biographie einsteigen zu können. Im Grunde waren sie alle Braunschweiger, die Volksgenossen, die sich bald Trizonesen, später Bundesbürger nannten. Der kollektive Namenwechsel ist Symbol für die improvisierte Identität der Nachkriegsdeutschen, übrigens nicht nur im Westen: Während man sich dort im kommunikativen Beschweigen der Vergangenheit übte, bekannte sich der Osten lautstark als Hort der Antifaschisten, womit sich unbequeme Nachfragen zum früheren Verhalten der nunmehr 'neuen Menschen' erübrigten; hier wie dort war wichtiger, wohin einer ging, als woher einer kam. Damit ist nicht gesagt, daß die deutschen Zusammenbruchsgesellschaften, sozusagen im historischen Vorgriff, schon einmal postmoderne Beliebigkeit gelebt hätten. Die biographischen Improvisationen dieser Zeit waren nicht Ausdruck einer spielerischen 'anything goes'-Mentalität, sie erfolgten vor dem Hintergrund existentieller Erfahrungen, die bei vielen tiefe emotionale und geistige Krisen ausgelöst hatten. Da war zum einen der Schock des individuellen Verlustes: an Familie, Freunden, Vermögen, Unterkunft, Heimat, und zum anderen der Schock des kollektiven Verlustes: des Krieges, des nationalen Ehrgefühls, der Volksgemeinschaft. Diesem doppelten Schock entzogen sich manche durch Verdrängung, andere (und übrigens nicht wenige) durch Selbstmord, wiederum andere durch den Versuch, mit diesen Erfahrungen weiter zu leben -- wobei 'mit' und 'weiter' hier die entscheidenden Wörter sind: erst die fundamentale Erschütterung des Selbstbildes, verbunden mit dem Willen zum Überleben, ermöglichte -- erzwang -- die biographische Improvisation. Die Identität war kriegsbeschädigt, aber sie war nicht ausgelöscht. O-Ton Schwerte: "Ich hatte ja, um mit diesem modernen Wort zu spielen, ich hatte ja meine Identität langsam aufgebaut. Eine neue, wenn Sie so wollen, die die alte mitgenommen hatte natürlich." Ohne Hans Ernst Schneider also kein Hans Schwerte? Ist es nicht eher so, dass das signifiant ohne das signifié eine leere Form bleibt? Identität ist keine stabile Größe, aber sie ist, und wir arbeiten an ihr, hoffentlich, so lange wir leben. Und die Braunschweiger? Im Spannungsfeld zwischen jüngster Vergangenheit, die keine Identifikation erlaubte, und ungewisser Zukunft mußte improvisiert werden: sie sortierten ihre biographischen Trümmer, klopften sie zurecht und verwendeten sie für den Wiederaufbau, egal unter welchem Namen. |
||||
|