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no. 17: improvisation -> marthaler
 

"Dann singen wir doch erstmal was"

Christoph Marthaler oder die Kunst des Improvisierens

von Barbara Damm

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Christoph Marthalers musikalisch-theatrale Collagen prägen seit den neunziger Jahren die deutschsprachige Theaterlandschaft. Hintergründiger Slapstick, Gesang und starke Rhythmisierung der Stücke sind Charakteristika des Marthaler-Stils. In seinen Produktionen zeigt er Utopien einer Gemeinschaft, die nicht selten ans Absurde grenzen und die doch einer präzise beobachteten Wirklichkeit entstammen. Seine innovative Theatersprache verdankt sich nicht zuletzt Marthalers Arbeitsweise: Die Stücke entstehen erst durch Improvisieren auf der Probe.

 

Marthalers Theater ist umstritten. Marthalers Theater, das ist Probenklamauk für lustige Musikanten und talentierte Selbstdarsteller; das ist Slapstick, Konfusion, Obsession aber auch Zeitverlorenheit, Traurigkeit und Melancholie -- und es ist einfach wunderschön.

Seit den achtziger Jahren irritiert und fasziniert der Schweizer Theaterpoet, dem die Theaterlandschaft eine neue Ästhetik verdankt, mit musikalisch-choreographischen Collagen Publikum und Kritik in ganz Europa. Den einen gehen die ständig scheiternden Glücksversuche seiner am Rande von Realität und Gesellschaft balancierenden Figuren auf die Nerven, die anderen sind süchtig nach diesen unterhaltenden Gesamtkunstwerken, in denen bittere Wahrheiten und abgründige Komik so nah beieinanderliegen.

Christoph Marthaler läßt seine Akrobaten verbal und körperlich durch die Stücke stolpern -- oder, wie seine Chefdramaturgin Stefanie Carp es ausdrückt "in der Waagerechten auf die Fresse fallen". In den klaustrophobischen 'Wartesälen' seiner langjährigen Bühnenbildnerin Anna Viebrock versammelt er Einsame, Fortschrittstaumelige, Ausgestoßene -- und alle sind sie ein bißchen meschugge. Sie singen, tanzen, tändeln herum, stolpern, fallen und klammern sich an 'Leitsätze' wie "Denken hilft!" oder brechen zwischendurch in ein krampflösendes "Juchui!" aus.

Die starke emotionale Wirkung des Marthaler'schen Welttheaters rührt von der Konfrontation des Zuschauers mit den Innenwelten und Alltagsbildern des eigenen Lebens. Marthaler, der in einem Interview sagte: "... ich hab achttausend Mal gesagt, daß ich nichts zu sagen habe", erzählt uns auf der Bühne in deutlichen Bildern von Leere, Erschöpfung, Sehnsucht und Begehren. Doch Marthalers Theater funktioniert anders als gewohnt -- er formuliert seine Gesellschaftskritik nicht in Thesen, behauptet nicht und droht nicht mit Brecht'schem Zeigefinger. Seine Kunst liegt im Beobachten, im Hinhören, im musikalischen Durchkomponieren des Bühnengeschehens. Entscheidend für seine Theatersprache ist nicht zuletzt seine Arbeitsmethode: Die szenische Findung durch Improvisation.

 

Der Tiefseelenforscher

Marthaler wurde 1951 in Erlenbach bei Zürich geboren, studierte Blockflöte und Oboe. Es folgten pantomimische Experimente in Studentenclubs zu Musik von Erik Satie und John Cage. Ende der 60er besuchte Marthaler die Theaterschule von Jacques Lecoq in Paris -- zwei Jahre, die ihn künstlerisch prägen sollten. In dieser Zeit, so erzählt er, erwachte in ihm das Bewußtsein eines 'verschlafenen Schweizers'. Die französische Studentenrevolte und die radikale Langsamkeit im Theater Robert Wilsons hinterließen bleibende Eindrücke. Nach der Rückkehr in die Schweiz arbeitete er als Theatermusiker am Züricher Theater Neumarkt, trat in Peter Brogles Schaubude auf und gründete mit Freunden die experimentelle Theatergruppe Tarot in der Tradition des musikalischen Kabaretts und der Music Hall. In den folgenden zehn Jahren schrieb er Bühnenmusiken für fast alle größeren deutschsprachigen Theater.

Seit 1980 bastelt Marthaler an musikalisch-theatralen Projekten wie Indeed, Vexations, Ribble Bobble Pimlico. In den Schweizer Abenden Wenn das Alpenhirn sich rötet, tötet, freie Schweizer, tötet ... (1989), Stägeli uf, Stägeli ab, juhee! (1990) und Prohelvetia (1993) richtet er sich gegen gesellschaftliche Engstirnigkeit, Erstarrung und Entfremdung. Im gleichen Jahr folgt mit Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! ein Requiem auf die DDR. In der politischen Collage Stunde Null oder die Kunst des Servierens. Ein Gedenktraining für Führungskräfte (1995) geistert ein Stück unbewältigter Vergangenheit durch die Wirtschaftswunder-Welt. Die philosophische Frage, was denn mit der Welt, den Menschen, der Kunst von heute los sei, wird in The Unanswered Question (1997) selbstverständlich nicht beantwortet. 1999 entsteht mit Die Spezialisten ein "Überlebenstanztee" für Menschen, die niemand braucht.

Es regnet Trophäen für eine der leuchtendsten Lichtgestalten des gegenwärtigen Theaters: 1996 erhält Marthaler den Konrad-Wolf-Preis der Berliner Akademie der Künste, 1997 den Bayerischen Theaterpreis und den Fritz-Kortner-Preis, 1998 den Europa-Preis für "Neue Wirklichkeiten des Theaters". Mit Hotel Angst eröffnet er im Jahr 2000 seine erste Spielzeit als Intendant am Züricher Schauspielhaus, das seither mehrfach zum 'Theater des Jahres' gekürt wurde.

Marthaler ist aber nicht immer nur Liebling, er ist auch unbequem, und das ist gut so! Seine sanfte Rebellion gilt der Heuchelei einer glattgebügelten Welt. Ganz offensichtlich stolperte der Züricher Stadtrat unter anderem über Marthalers geschickt verpackte Kulturkritik an der (Schweizerischen) Gegenwart. Als der Verwaltungsrat Marthaler und Crew Ende August 2002 wegen schwindender Zuschauerzahlen, desolater finanzieller Lage und dem Argument "Marthaler und Carp denken nur an die Kunst" an die Luft setzt, entfacht sich nicht nur in Zürich ein Kulturstreit um den gefeierten Intendanten. Im ganzen deutschsprachigen Raum überschlagen sich die Proteste von Publikum und Kritik, so daß man schließlich einlenkt -- Marthaler und sein Team bleiben für die vierte Spielzeit 2003/04 'auf Bewährung'. Inzwischen hat Marthaler allerdings das Handtuch geworfen und wird auf eine fünfte Spielzeit in Zürich verzichten. Er reagiert auf die ganze Misere mit Groundings. Eine Hoffnungsvariante und führt ein Psychotraining für abgestürzte Führungskräfte vor, bis seinem erlauchten Publikum das Lachen im Halse stecken bleibt. Die Persiflage auf zuviel Markt und zuviel Wirtschaftseffizienz beißt mit drolligen Parolen um sich -- "Die heutige Kollekte ist bestimmt für die Aktion 'Banken in Not'" oder "Schluß mit Kunst, Schluß mit Ausländern" sind Spötteleien, die so manche Schweizer Honoratioren nicht gerne gehört haben mögen. In seinem aktuellen Stück Das Goldene Zeitalter nimmt Marthaler Abschied von seiner Züricher Intendanten-Ära: Der leise Hoffnungsgesang des Ensembles "Fürwahr, ich sage Dir, heute wirst du bei mir im Paradiese sein" schwebt über der Kulisse eines halb in den Bühnenboden gerammten Schiffes.

Wesentlich interessanter als das Theater um Marthaler ist allemal das Theater von Marthaler, insbesondere das allmähliche Entstehen seiner Stücke: Feste Theatertexte durchanalysieren, nach Lösungen für Einzelprobleme suchen und dann vom Blatt abproben, wie im deutschsprachigen Regietheater üblich, ist Marthalers Sache nicht -- seine Stärke liegt in der langsamen szenischen Findung; im Sich-Zeit-nehmen für seine Schauspieler-Musiker und im minutiösen Beobachten der Welt auf und jenseits der Bühne.

 

Was ist neu an Marthalers Umgang mit Theater?

Werfen wir einen kurzen Blick auf die Theatergeschichte: Aus der Commedia dell'arte gingen Autoren wie Goldoni hervor, die die auf der Bühne entstandenen Texte schriftlich fixierten und damit das Stegreifspiel allmählich verdrängten. In der Zeit des Ringens um Realismus sagten die Theaterkünstler der 'wildgewordenen' Improvisation, der Hanswurstiade den Kampf an -- das Theater wollte ernst werden. Aus Volksbelustigung wurde bürgerliches Theater. Es galt jetzt, die Werte der Aufklärung zu vermitteln. Dafür brauchte man Autoren, deren Texte werktreu umgesetzt und nicht durch improvisatorische Willkür verballhornt werden sollten. Die literarische Qualität des Textes stand im Vordergrund und nicht die darstellerische Umsetzung. Je realistischer die Stücke jedoch wurden, umso weniger konnte man deklamieren. Unzufrieden mit der unzulänglichen Darstellungsweise und einer gewissen Entfremdung zwischen Darsteller und Text, entwickelte der russische Regisseur Konstanin Stanislawski am Moskauer Künstlertheater die 'modellierende' Improvisation als Methode, um im freien Spiel Handlungsvorgänge zu finden, die den bereits vorhandenen Text motivieren könnten. Über wiederholtes Improvisieren erschließen Schauspieler und Regisseur das Handeln auf der Bühne immer tiefer und reicher und machen die schriftliche Vorlage materiell konkreter. Traditionell ist die Improvisation also ein bloßes Hilfsmittel zur Lösung darstellerischer Fragen, insbesondere der glaubwürdigen Verkörperung der Rolle. Die Ergebnisse der Improvisationen sind nur relevant, sofern sie die Unterwerfung des Schauspielers unter den Autorentext perfektionieren können. Alles, was nicht dem Text dient, wird verworfen. Als technisches Hilfsmittel nimmt man die Ergebnisse der Improvisationen inhaltlich nicht ernster als z.B. die korrekte Atemtechnik.

Ganz anders bei Marthaler, der die theatralischen Mittel von ihrer literarischen Knechtung befreit. Das freie Spiel setzt er weder als Disziplinierungsmittel ein noch instrumentalisiert er es als Begrenzung der schauspielerischen Freiheit. Eine Marthaler-Aufführung ist -- in Anlehnung an Becketts vielzitierte Bemerkung über eines seiner Stücke -- "bloßes Spiel [...] nicht weniger." Was Pina Bausch für den Tanz leistet, tut Marthaler für das Schauspiel: Er bewahrt die Dinge, die im Improvisieren entstehen -- seien es Versprecher, Texte oder Albernheiten:

"Ich kann mir ein Theater ohne irgendwelche Lust und Freude in den Proben im Zusammenhang mit den Schauspielern gar nicht vorstellen. Das mag ich nicht. Und da entstehen natürlich die Dinge. Der Slapstick ist eine Begleiterscheinung. Es gibt Leute, die sondern ihn dann ab. Die lachen darüber, dann wird er abgesondert und dann bleibt nur doch das reine Theater übrig -- und wir mischen's halt dann ganz gemein ... (lacht)"

 

"Das muß da alles rein!"

Unabdingbare Voraussetzungen für das Marthaler-Universum sind Reisen rund um den Globus, die Regisseur, Bühnenbildnerin und Dramaturgin so oft es der Zeitplan erlaubt, zusammen unternehmen. Christoph Marthaler, Anna Viebrock und Stefanie Carp schöpfen immer wieder aus Atmosphären und Emotionen, die sie in der Welt außerhalb des Theaters einfangen, um ihrem Publikum im Stück, im Bühnenbild und im Programmheft davon zu erzählen. Die Theatersprache, derer sie sich bedienen, ist ein beinahe penibler, nicht selten stark verlangsamter Realismus. Das Bühnengeschehen folgt jedoch keiner Stanislawski-Konzeption mit traditionellen Handlungsbögen und psychologischer Entwicklung, sondern entsteht aus einer musikalischen Kompositionsweise: Zitatfetzen aus dem Dramen-, Lyrik- und Musikkanon, Volkslieder, Redewendungen und schlechte Witze sind Ingredenzien der Marthaler'schen 'Handschrift', die zu Kettengliedern absurder Komik gereiht werden:

"Bei 'Stunde Null' gab es [...] eine Unmenge an Textmaterial, Reden und Artikel [...]. Wir wußten, daß wir einen Clowns-Abend machen wollten über Politiker, über Führungskräfte, über all die Menschen, die man zum Beispiel auf den Flughäfen trifft. Sofort beginnt man, sie mit anderen Augen zu beobachten. Überall, wo wir sind, fällt uns etwas zu für unsere jeweiligen Produktionen."

Berichte von Marthaler-Proben klingen für den Außenstehenden meist rätselhaft -- die gesamte Truppe sitzt wochenlang in Kantinen und Kneipen zusammen, redet miteinander, feiert fiktive Namenstage und singt Lieder. Geht es um den Probentermin am nächsten Tag, hört man den Regisseur fragen: "Wann hast Du Zeit?" Doch Marthalers antiautoritärer Regiestil zahlt sich aus:

"Ich gehe nach der Probe nicht immer nach Hause und grüble darüber nach, was wahr ist. Das habe ich zwar auch schon getan, aber es ist nicht die Regel. Satt dessen gehen wir was essen. Dabei lösen sich oft die Probleme, die man während der Probe hatte. Ich finde das schön. Das ist Teamarbeit, und die ist wichtig. Jemand, der auf die Probe kommt, meist nicht kriegt, was er sich wünscht, dann sofort sauer wird, alle anbrüllt und damit die Schauspieler blockiert -- ist das ein richtiger Regisseur?"

Sicherlich ist für so manchen Schauspieler die erste Zusammenarbeit mit Marthaler erst einmal fremd und ungewohnt. Marthaler-Schauspieler brauchen Mut -- gibt es doch bei seinen musikalischen Collagen weder ein fertiges Stück noch eine feste Rolle, an der man arbeiten könnte; Marthaler geht von einer situativen, atmosphärischen oder szenischen Grundidee aus, ohne sich dabei für eine message zu interessieren. Statt dessen denkt er von der Improvisation her, nimmt die Bühnensituation ernst und ist neugierig auf die Möglichkeiten szenischer Entwicklungen. Vergeblich würde man versuchen, mit ihm über eine Rolle zu philosophieren oder vorab irgendetwas festzulegen. Am Anfang werden ersteinmal Lieder gesungen und einstudiert. Diese Herangehensweise -- nicht den Text zu formen, sondern Situationen und Abläufe einfach geschehen zu lassen -- führt zu starken Bildern. Bilder, denen man ansieht, daß sie nicht durch die gefürchteten 'Regieeinfälle' entstanden sind. Auf diese Weise erreicht das Marthaler-Ensemble eine darstellerische Glaubwürdigkeit, die ihresgleichen sucht. Marthalers Schauspieler erliegen nie der Versuchung, ihre Figuren zu denunzieren. So berichtet die Schauspielerin Olivia Grigolli über ihre Erfahrungen:

"Er [Marthaler] sagt immer, daß wir nicht spielen sollen. Auch eine Anforderung (lacht). Es ist nicht unbedingt einfach, nichts zu machen. Als Schauspieler ist man gewohnt, anders zu agieren."
"Es war nicht so, daß Christoph unten saß und wir ihm etwas vorgespielt haben. Wir haben [...] viel gesungen, und er war immer dabei und hat mitgesungen. Christoph hat gesagt, wir müssen nichts machen, sondern nur sitzen. Es passiert gar nichts, wir sollen gar nichts spielen, sondern nur in diesem Nichts sitzen. Und daraus ist die Rollschuhnummer entstanden [...]."

Seine Schauspieler sind stets Koautoren, die eine einmal gefundene Grundidee auf der riesigen Probenspielwiese durch gemeinsames Improvisieren und Manipulieren des Sprech- und Bewegungstempos weiterentwickeln. Zu diesem Entstehungsprozeß gibt Marthaler zum Besten: "Vielleicht haben wir ja gar kein klares Konzept. Ich würde viel lieber von einem Gärungs-Prozeß sprechen, wie beim Wein. Es kommt halt darauf an, daß man gute Gär-Prozesse in Gang setzt. Vielleicht ist ein Regisseur auch ein Önologe."

"Proben müssen Spaß machen" lautet die Devise und Marthaler hat das Talent, seine Akteure zu motivieren, wenn er etwa nach einer geglückten Improvisation wie elektrisiert auf die Bühne springt. Die detailbesessene Choreographie ist nicht ausgedacht und auf die Schauspieler gelegt -- Gesten und Aussagen, die den Schauspielern auf den Proben zufällig unterlaufen, werden in die entstehende Produktion eingebaut. In der Anhäufung des so entstandenen Rohmaterials entdeckt Marthaler mit einem außergewöhnlichen Gespür die guten, entwicklungsfähigen Spielangebote, die für das Stück richtig sind: "Der Satz war gut, 'Das ist alles Requisitengeld, das nehm ich nicht!' Sehr stark, das muß mit rein!" Für wahr, die Begeisterung ist ansteckend und nimmt kein Ende: "So. Schön. Das war alles sehr schön. Sehr schön, ja. Man muss das nur ein bißchen fixieren, nicht wahr, das Ganze vom Blatt Gespielte übernehmen wir so. Das muß da alles rein!"

Was folgt, ist eine der zahlreichen 'Rekonstruktionsgedankenproben', in der alles Entstandene nocheinmal sorgfältig durchdacht, wiederholt und mitgeschrieben wird. Auf diese Weise formen sich Spielblöcke, die dann en detail ausgearbeitet und zusammengesetzt werden. Der große Bogen findet sich oft kurzfristig -- bisweilen erst zehn Tage vor der Premiere.

An Marthaler ziehen die Moden vorbei, doch mit seinen Themen und seinem Regiestil, der den Darstellern ungewöhnlich große Freiheiten gewährt, bringt er seit über zwei Jahrzehnten eine der ungewöhnlichsten Arten von Theater auf europäische Bühnen:

"Ich komme aus der Freien Theaterszene und ich glaube, die hat in der letzten Zeit das Theater grundsätzlich wesentlich beeinflußt, auch alle die ganzen subventionierten Theater irgendwo, da wo sie interessant sind. Und ich finde es einfach auch an der Zeit, daß [...] ein Stück nicht nur an einem Schreibtisch von einem Menschen geschrieben werden muß, sondern daß ein Stück auch entwickelt werden kann. Ich finde -- ich will jetzt nichts gegen Autoren sagen, die zu Hause ein Stück schreiben -- um Himmels Willen! -- aber ich finde, daß Theater auch eine so lebendige Angelegenheit ist, die kann auch wirklich entstehen in Zusammenhang mit den Mitwirkenden, die dann nicht nur Sätze interpretieren müssen, sondern auch irgendwie etwas mit einbringen können, so daß am Ende nach einer abgeschlossenen fruchtbaren Probenzeit ein Stück auf dem Tisch liegt."

 

"Wenn man eine Obsession hat, kann man ja froh sein"

... sagte Marthaler einmal auf einem Berliner Theatertreffen -- hintergründige, desolate Clownerien scheinen seine zu sein. Er bringt menschliche Macken und Marotten zur absurden Gärung, steigert Wiederholungen von Text, Gängen, Gesten und Musik, bis sie in Nonsense und Slapstick enden. Die fünfzigjährigen Buben im Retro-Look, die sich auf seiner Bühne tummeln, werfen sich in Posen und streicheln sich im nächsten Moment wie Kleinkinder über den Nabel, nuckeln am Daumen, weinen, weil sie schlecht geträumt haben. Diese Figuren sind 'Topmanager', 'Politiker', 'Nationalglobalisten' und 'Anlageberater', die so tun, als hätten sie alle Fäden in der Hand, doch sie kämpfen mit dem Chaos der Dinge und liegen im Hader mit der ganzen Welt. Sie üben Café-Trinken, rote Teppiche ausrollen, offizielles Händedrücken und -- in Reih und Glied -- dem nachbarlichen Opponenten Ohrfeigen zu geben. Mit rührender Hilflosigkeit und trotzigem Mut kämpfen die Akteure gegen ihr Schicksal an und werden auf dadaistische Weise von der Macht der Objekte überrollt. Je mehr sie den Anschein von Stärke ausstrahlen, desto komischer ist es anzusehen, wenn Katastrophen sie aus der Bahn werfen. Permanente Irritation der Figuren und des Zuschauers werden zugelassen, wie der Schauspieler Josef Bierbichler bemerkt:

"Das ist auch ein ganz wichtiger Punkt für Schauspieler: Nicht mehr und besser als die Figuren Bescheid zu wissen. Wenn die Schauspieler diesen Punkt nicht schaffen, ist es immer nur Scheiße. Wenn sie meinen, sie sind schlauer als die Figuren, wird es völlig uninteressant. Marthaler ist nie schlauer als das Gebäude, das er aufstellt."
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Abb. 1

Bei aller Komik sind es brüchige Menschen, die Marthaler auf die Bühne bringt -- aus ihrem sozialen Gefüge gekippt, von einer Gesellschaft überrannt, deren Regeln sie nicht verstehen. Menschen, die in all ihrer infantilen Tolpatschigkeit dazugehören wollen und die zum Gesang anheben, um ihre Würde zu bewahren. Ihr immer wieder abruptes Verharren, die Absichts- und Aussichtslosigkeit, das bloße Da-Sein in minutenlanger Stille sind Formen, die an die großen Absurden erinnern. Und das beckett'sche Ritual des Spiels wandelt sich bei Marthaler zum Ritual des Singens -- die vom Gesang bestimmte Probenatmosphäre wird einfach auf die Bühne geholt. Dieses Ritual hilft über Peinlichkeiten hinweg, es versöhnt nach Streit und Prügeleien. So stimmt man denn in Groundings einen Kanon an und begleitet mit "Wenn ich ein Vöglein wär" die Höllenfahrten der gerade 'abgestürzten' Kollegen. Mehr schlecht als recht trägt die Schauspielerin der 'Margot' zu Beginn des Stücks mit zaghafter Stimme das Kinderlied "My father is an Appenzeller" vor, mit dessen Hilfe sie sich das unangenehme 'Auf-der-Bühne-Herumstehen' erträglicher macht.

Musik konterkariert bei Marthaler oft Stimmungen, Situationen und Texte. Darüber hinaus gibt es noch die 'eigentliche Musik', die, wie Marthaler selbst betont, nicht in den Gesängen der Schauspieler steckt, sondern im Rhythmus des Abends, der mit den Gesängen gar nicht so viel zu tun hat: Die Rhythmisierung des Bühnengeschehens ist das Hauptmerkmal der Marthaler'schen Theaterästhetik. Stefanie Carp beschreibt die Gesamtstruktur einer Marthaler-Collage treffend als Partitur, in der sich das "Material aus Sprache, Gesten, Aktionen, Musik, Abläufen einem ganz bestimmten musikalischen Thema" untergeordnet. Die Improvisationen tragen dazu bei, die für Marthaler so typische musikalische Dynamik für ein Stück zu finden.

 

"So, was spielen wir jetzt?"

Marthaler-Aufführungen pulsieren zwischen den Extremen des Stillstands und der Bewegung, in ständiger musikalischer Dynamik von langsamem Beginnen, Anschwellen, Abflachen bis zum plötzlichen Stop. Oft sprechen und singen die Spieler durcheinander. Hier und da treten einzelne Partien aus dem so entstandenen Klangteppich hervor, um dann wieder im Stimmgewirr zu versinken. Gesprochene Monologe verwandeln sich übergangslos in Playback-Gesänge; unstrukturiertes Gebrabbel mündet in einen gemeinsam gesprochenen Satz oder in wunderschöne Kanongesänge, um sich dann wieder in Brabbeln aufzulösen oder ganz abzubrechen. In The Unanswered Question verharren die Spieler minutenlang stumm und unbeweglich wie in einem lebensgroßen Gemälde. Räuspern und Mimimimi-Stimmübungen, gesungene Tonfolgen in zunehmender Lautstärke durchbrechen allmählich die Stille. Nach abruptem Abbrechen von Geräuschen und Bewegung drängt erneut das statische Bild und die Stille in den Vordergrund. Auf Timing-Probleme und mögliche Längen angesprochen, antwortet Marthaler stets flapsig: "Sie können im Theater nicht schlafen? Das ist ein großer Fehler. Ich habe speziell für Sie einen Sturm inszeniert, der wird mittlerweile in zahlreichen Apotheken als völlig ungefährliches Schlafmittel gehandelt. Man muß aber trotzdem nicht reingehen."

Langsamkeit ist nicht nur beim Arbeiten gewollt, sie setzt sich auf der Bühne im fertigen Stück fort. Wenn sich die Darsteller zwischendurch auf den Bühnenboden schlafen legen, herumstehen oder abrupt innehalten, ist dies nichts anderes, als die Aufforderung, einmal genauer hinzuschauen, Details wahrzunehmen. Marthaler würde eigenen Angaben zufolge die Langsamkeit manchmal gerne vermeiden, sie transportiert aber nicht selten indirekte Gesellschaftskritik:

"Die Langsamkeit [...] ist schon auch eine Auflehnung gegen diese unglaubliche Beschleunigung in dieser Zeit, jetzt in dieser Zentrifugalkraft, mit der wir da irgendwie immer weitergeschleudert werden. Und da fallen dann natürlich immer einige Menschen weg aus diesem Schleudern. Und das sind dann vielleicht die Menschen, die mich interessieren, die ich dann zeige."
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Abb. 2

In der Improvisation kommt man oft 'vom Hölzchen aufs Stöckchen' -- und auch viele Szenen des fertigen Stücks funktionieren auf diese Weise: In Groundings berichten die Spieler vom Konkurs der Swiss Air, erinnern sich über dieses Brainstorming an den Absturz einer Maschine über Tuttlingen, erörtern dem Publikum die etymologische Herkunft des Ortsnamens, kommen dann zur geographischen Lage des Dörfchens, bis hin zu den Öffnungszeiten des dortigen Heimatvereins. Auf diese Weise entsteht eine ganz andere Authentizität: Die Welt auf der Bühne rückt ein Stück näher an die Welt vor der Rampe heran. Gegen Ende der Inszenierung öffnen die Darsteller ihre Aktenkoffer, in denen sie Wiederbelebungspuppen aus dem Erste-Hilfe-Kurs durch das Stück getragen haben. Menschen und Puppen tauschen die Kleider -- und erzählen damit von ihrem abgestorbenen Innenleben, von ihrer Austauschbarkeit. Wo literarisches Theater nur in kurzen Bildern andeuten würde, worauf man hinaus will, bleibt das Marthaler-Ensemble im Szenischen und läßt sich Zeit; viel Zeit: Nach Wiederbelebungsversuchen streift man sich und seiner Puppe behutsam die Kleider ab, zieht ihr langsam und sorgfältig Hemd, Krawatte und Jackett an, redet liebevoll mit seinem so entstandenen Alter ego, zeigt ihm das Publikum. Nach einer kleinen Ewigkeit 'verschmelzen' Darsteller und Puppen zu einer 'Person' -- Chaos bricht aus -- man reißt sich gegenseitig die Plastiknasen ab, Menschenfüße treten gegen Puppenköpfe; so lange, bis sich die Objekte zu wehren beginnen und ihre Menschen in die Hände beißen und sie über die Bühne jagen.

Endloses Scheitern, grundloses Warten, keine Entwicklung -- Marthaler inszeniert eine marode Welt. Stägeli uf, Stägeli ab, juhee! beginnt mit zehnminütigem Schweigen, das so manchen Zuschauer dazu bewegt hat, empört den Saal zu verlassen. Inzwischen schon fast legendär geworden sind die sinnentleerten Floskeln, mit denen Marthaler Reibungspunkte schafft: 'Verantwortungsabgabe' steht in großen Lettern auf einer Tafel; es häufen sich Statements wie "Marketing ist Gottesdienst am Kunden" oder "Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind!" -- nach dem ersten Lachen kommt man ins Grübeln. An anderer Stelle bröckeln Sinnsprüche wie "Damit die Zeit nicht stehen bleibt" Buchstabe für Buchstabe von der Wand, Hinweisschilder, Aufzüge und Treppen führen ins Nichts. In einer solchen Umgebung findet keine Kommunikation und keine Annäherung mehr statt. Die schier unüberbrückbare Isoliertheit der Figuren ist einer der Dreh- und Angelpunkte im Marthaler-Theater -- und immer ist es die künstlerische Verwertung von Realität:

"Je näher sich die Menschen kommen, desto einsamer werden sie ... Die Einsamen sind die besonderen Menschen. Ich mag im Theater die großen dramatischen Gesten nicht. Das ist nicht meine Welt. In bestimmten Kneipen, in Schweizerischen Bahnhofsbuffets sitzen meistens Männer, jeder an einem Tisch. Und sie schweigen vor sich hin. Und manchmal sagt einer etwas, und weit hinten antwortet ein anderer. Und die anderen bewegen sich nicht. Dieses seltsame Kommunikationsnetz ohne Blicke. Dieses Dämmern. Das hat eine große Spannung. [...] Auch daß jemand etwas sagt, und Minuten später kommt eine Antwort von irgendwoher. Über die Antwort wurde lange gegrübelt. Das ist sehr schweizerisch, aber nicht nur. Ich habe das auch in Berlin erlebt. Wenn man Theater macht, sucht man nach Formen. Ich habe diese Situation als meine Form gewählt."

 

Das Kind in uns

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Abb. 3

Marthalers Arbeitsmethode gibt dem Unfertigen, dem Zufall und dem gemeinsamen Ausprobieren Raum. Bemerkenswert ist, daß aus diesem freien Spiel eine theatrale Form entseht, die zum Spiegel der Gesellschaft wird. Obwohl Marthaler sich selbst keinesfalls als 'politischen Regisseur' sieht, sind seine Produktionen gesellschaftspolitische und historische Stellungnahmen. Er zeigt seinem Publikum keine realistischen Abbilder noch schlägt er Lösungsmodelle vor. Es ist es nicht immer leicht, mit dieser Art von Theater fertig zu werden. Vielleicht wäre Marthalers Theater weniger beunruhigend, wenn es für etwas plädieren würde. So aber entlädt sich sein Interesse wie seine Empörung in Bildern, die er als Fundstücke seines Arbeitsprozesses vorlegt, ohne These, ohne illustrierte 'Idee'. Sich Zurücklehnen und Mit-dem-Kopf-schütteln kann man im Kabarett -- bei einer Marthaler-Inszenierung kann man das nicht: Es sind zwar stets nur Typen, keine psychologisch aufgearbeiteten Charaktere, die dort auf der Bühne herumalbern -- doch sie sind auf eigenartige, sehr eindringliche Weise real. Der Kunstgriff des Improvisierens bringt so viele Ambivalenzen in die Figuren, daß ein Widersprechen oder gar Verurteilen schier unmöglich ist. Der zunächst höchst unsympathische Jung-Manager mit Tick etwa, erbricht sich über sein eigenes Marketing-Geseier; ein ausgefuchster Geschäftsmann, der sich Zahlen und Wirklichkeit seiner Konkursgeschäfte zurechtbiegt, wandelt sich plötzlich in einen rührenden, kleinen Jungen, der mit hoher, leiser Stimme ein Kinderlied anstimmt; der jähzornige Verwaltungsrat erzählt unvermittelt unter Schluchzen über seine Alpträume. Was eben noch anwidert, rührt im nächsten Moment. Man hat Mitleid mit diesen 'großen Kleinen', deren Wünsche und Ängste den eigenen so irritierend ähneln.

Es sind die aus Improvisationen gewachsenen Bilder, die Theaterglücksmomente, denen sich der Zuschauer anvertrauen muß, ohne auf ein Fazit zu drängen. Bei Marthaler muß man hinsehen. Wer nicht bereit ist einzusteigen, bleibt zurück. Egal, wo Marthaler und seine Gaukler nach Ende der Spielzeit 2003/04 hinziehen, man wird sie mit offenen Armen empfangen. Die deutschsprachige Theaterlandschaft kann froh sein über einen Theatermacher wie Marthaler, den Frank Castorf in einer Laudatio nicht zu Unrecht als wirklich letzten großen Autonomen ehrte. Bleibt nur zu wünschen, daß auch die betreffenden Kommunalpolitiker dorthin kommen, wo Publikum und Kritik schon längst angekommen sind. Schön wär's, wenn man sich zukünftig öfter an den Satz erinnerte, den Margot in Groundings an das Publikum richtet:

"Wir sind für ein leeres Theater. Aber nicht vor modernen Rängen."

(Alle Photos © Leonard Zubler. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Schaupielhauses Zürich)

 

autoreninfo 
Barbara Damm studierte Anglistik, Komparatistik und Germanistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Magisterarbeit mit filmwissenschaftlichem Schwerpunkt. Seit 1994 Theaterarbeit an verschiedenen öffentlichen Bühnen und in der freien Szene. Seit August 2005 Festengagement in der Schauspieldramaturgie des Theater Bonn.

 

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