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no. 9: kommunikation -> kunst und kommunikation
 

Der Genius und die gelangweilten Anderen

Kunst zwischen Kontemplation und Kommunikation

von Georg Hehn

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* anmerkungen
* druckbares
* diskussion

Kunst und Kommunikation werden immer mehr verbunden: Kunst tritt als Kommunikation, Kommunikation als Kunst auf. Kann es nach dem Siegeszug des Paradigmas Kommunikation noch eine Form des künstlerischen Ausdrucks geben, der sich seiner Definitionsmacht entzieht?

 

1. Exposé: Die Fähigkeit zu kommunizieren als Existenzkriterium?

Allerspätestens seit Andy Warhol und Marcel Duchamp wissen wir, daß es oft kaum mehr darauf anzukommen scheint, was wir ausdrücken, sondern wie wir es präsentieren. -- Alle Produkte werden sich immer ähnlicher und die Werbung für jedes von ihnen immer perfektionistischer -- vom Auto bis zur Persönlichkeit, so scheint es. War das in den sechziger Jahren noch aufregend, so bildet es heute die selbstverständliche Arbeitsgrundlage jedes Galeristen, jedes Kunstentrepreneurs und jedes Absolventen der allerorten aus dem Boden schießenden Studiengänge von Kunstmanagement bis Kommunikationsdesign.

Auf den ersten Blick erscheint dies als eine Akzentverschiebung zugunsten einer der beiden theoretischen Pole, mittels derer Kommunikation hier verstanden werden soll: Als eine Einheit aus transportierender Form -- dem Symbol -- und transportiertem Inhalt -- der Bedeutung. Alle (mir bekannten) modernen Kommunikationstheorien bauen auf diesem grundlegenden Modell auf. Sie beschäftigen sich mit den Relationen zwischen den daraus resultierenden vier Komponenten: Produzent -- Form -- Inhalt -- Konsument, die sich als Form-Inhalt-Dynamiken beschreiben lassen. Dieses Modell ist so selbstverständlich, daß oft übersehen wird, daß es eine relativ neue Idee ist. Es soll nun nicht die innere Charakteristik dieses Modells diskutiert werden, was eine Meta-Kommunikationstheorie wäre, sondern daß es -- so die These -- sich dazu anschickt, die Gesamtheit unseres Wirklichkeitsbezuges zu umschließen. Insofern erfüllt es die Kriterien eines Paradigmas im Kuhnschen Sinne. Mit Gesamtheit von Wirklichkeitsbezug ist dabei die Form gemeint, in der wir Bewußtsein verstehen und die wir jeder Wahrnehmung und jedem kognitiven Akt als interpretatorisches Grundelement unterlegen. Sie kann kommunikativ genannt werden, da sie als primäres Wirklichkeitskriterium die Gesamtheit der möglichen Kommunikation eines Dinges versteht -- oder kurz: Ein Ding ist, was es uns von sich mitteilen kann oder was wir von ihm verstehen. Besser noch: alles, was etwas ist, besteht im Raum der Möglichkeiten, die es hat, Ausdrucksformen und Inhalte zu verwenden. Da die Unterscheidung von Form und Inhalt jedoch immer eine Definitionsfrage ist, das heißt von Anerkennung abhängig, ist jedes Verstehen heute ein Verstehen von Relationen, alles Wahrnehmen ein Wahrnehmen von Elementen in kodierten Systemen -- nicht nur in Raum und Zeit.

Dies ist sehr kondensiert der erweiterte Kommunikationsbegriff, der im Folgenden anhand zweier seiner vielleicht wichtigsten Konsequenzen expliziert werden soll: 1) dem scheinbaren Verlust einer nichtsystemischen Transzendenz, d.h. von 'Dingen', deren Ausdrucksraum keine direkte Schnittmenge mit dem Raum unserer kodierten Form-Inhalt Dynamiken aufweist; 2) Die einhergehende Neudefinition von Subjektivität als Bezugspunkt der Form-Inhalt Dynamiken von Kommunikation, die -- das scheint mir der entscheidende Punkt der ganzen postmodernen Subjektivitätsdebatte --, als Definitionen keine intrinsische Notwendigkeit irgendeiner Form von Kohärenz besitzen.

Insofern als die nichtsystemische Transzendenz in Punkt 1 den traditionellen Gegenstand von Kunst (bzw. Religion) bildet, wird sich die Diskussion entlang der Verständnisses von Kunst als Kommunikation bewegen, um mit ihren bewußtseinstheoretischen Implikationen zu schließen.

 

2. Kann man sich sinnvoll ausdrücken, ohne jemanden anzusprechen?

Die grundlegende Frage ist offenbar, ob es nach dem Siegeszug des Paradigmas Kommunikation noch einen sinnvoll spezifizierbaren, künstlerischen Ausdruck gibt, der sich seiner Definitionsmacht entziehen kann. -- Oder hat Warhol Recht, und das Denken in Kommunikationszusammenhängen hat den Begriff 'Ausdruck' selbst eines Sinnes außerhalb von Kommunikationsmodellen beraubt? Ist künstlerischer Ausdruck noch mehr als ein per definitionem geschützter Ausdrucksraum oder im besten Falle eine Form von kreativer Metakommunikation?

Lange Zeit wurde die Arbeit eines Malers, Literaten oder Musikers überhaupt nicht in Kategorien der Kommunikation gedacht. Unter der Ägide der Geniekunst explodierte künstlerische Kreativität in einen Abstraktionsraum des 'Erhabenen' oder 'Göttlichen' hinein, der im inneren Wesen des Künstlers selbst angesiedelt wurde. Der kreative Akt wurde darum zugleich als Explosion wie als Implosion gesehen: Er explodierte in die Wesensbestimmung des Künstlers hinein, die mit der des (göttlichen) Kosmos gleichgesetzt war. Der Künstler trat in Kontakt mit einer außeralltäglichen Wirklichkeit, die stets als eine Form sakraler Sphäre angesehen wurde. Künstlerische Kreativität hatte darum stets den Beigeschmack des Solipsismus, der sich im entrückten, gedankenverlorenen Ausdruck der Dichterfürsten von Schiller- oder Goethedenkmälern so typisch zeigt. Das Paradigma selbst geht aber weit über die romantische Genieästhetik hinaus. Es liegt nicht nur aller sakralen Kunst, sondern auch noch dem Selbstverständnis etwa der impressionistischen Maler oder der humanistischen Schriftsteller zugrunde. Die Exilierung des Sakralen aus der Sphäre des künstlerischen Erlebens änderte nichts an ihrem Status als der wahren Wirklichkeit. Die Künstler kommunizierten nicht mit ihren Rezipienten, sie schritten ihnen voran. Ihr Genie war, einen Weg der Implosion in eine Wesenhaftigkeit gefunden zu haben, an der der Rezipient ihrer Kunstwerke teilhaben konnte, ergriffen werden vom Sog des Ausdrucks in das Sublime, aber nicht partizipieren. Natürlich fand auch in der Geniekunst eine Kommunikation statt, oder zumindest können wir heute nicht anders, als eine zu erkennen, doch war sie nicht mehr als das notwendige, aber belanglose Anhängsel des 'Eigentlichen'. Künstlerische Kreativität blieb bis ins 20. Jahrhundert prinzipiell im Rahmen platonischer Höhlengleichnis-Metaphorik verstehbar.

Heute jedoch scheinen die Vorzeichen umgekehrt, und der Künstler zeigt sich als Virtuose der Kommunikation, dessen künstlerische Leistung gerade auf metakommunikativer Kreativität beruht. Er mag provozieren, verfremden oder verstören, er mag überhöhen oder ins Lächerliche ziehen, er mag visionär oder dystopisch arbeiten, immer ist der Vektor seiner kreativen Explosion auf den Rezipienten gerichtet.

Das altägyptische Reich begann die Tradition dessen, was heute 'Kunst' heißen mag, mit dem unglaublich mühsamen Meißeln von granitenen Standbildern, die dann oft in türlosen Kammern eingemauert wurden -- ein Akt, der aus moderner Sicht nicht anders als der Inbegriff von Sinnlosigkeit apostrophiert werden kann. -- Nicht zuletzt deshalb, weil wir heute beinahe am gegenüberliegenden Pol angekommen zu sein scheinen. Kunst, die niemand rezipiert, erscheint heute sinnlos, nicht einmal real. Für uns benötigt jeder Ausdruck einen komplementären Eindruck, um Sinn zu ergeben. Damit wird er zum prinzipiellen Dialog und vom Paradigma Kommunikation umschlossen, das ontologische Qualität gewinnt, indem es nicht nur Sinn, sondern Existenz als kodierte Wahrnehmbarkeit umdefiniert: Real ist, was Information trägt. Das Unartikulierte, Amorphe, nicht Wahrnehmbare ist als Grenzfall der Metakommunikation, der auf Problematik und Fragilität von Kommunikation aufmerksam machen mag, integriert, aber damit gerade nicht als solches.

 

3. Bedeutet also sich ausdrücken kommunizieren, weil Realität Kommunikation ist?

Die Idee von Ausdruck, von Denken überhaupt als dialektischer Wirklichkeitsversicherung -- das heißt als Dialog -- liegt mit Sokrates auf dem Grund unserer Kultur, die seitdem immer radikalerer Formen entdeckt, mit ihr ernst zu machen. Die Idee von Relevanz und sogar Wirklichkeit in Form von Kommunikation hat insbesondere in den letzten achtzig Jahren unser Denken in einer Weise geprägt, daß die wesentlichen philosophischen Fragestellungen sie in ihr Begriffsgerüst aufgenommen haben. Dies ist es nicht zuletzt, was die Blüte (ob es ein Erfolg ist, bleibt abzuwarten) der Kommunikationswissenschaften ausgelöst hat und die präkommunikationszeitlichen Geisteswissenschaften -- Philosophie, die Philologien, Geschichtswissenschaft, Soziologie und Psychologie in Ausprägungen eines allumfassenden Kommunikationsgedankens verwandelte.

Um dies durch einige Beispiele zu illustrieren konnte sich z.B. Aristoteles berühmter Weise fragen, ob ein im Innern eines Waldes fallender Baum (welchen niemand hört) ein Geräusch mache, oder nicht. Für ihn schien das eine ontologische Frage zu sein, eine Frage nach dem Wesen von Wirklichkeit. Nachdem wir einige Jahrhunderte lang der Überzeugung waren, es sei eine theologische Frage (ob die durchgehende Kohärenz von Wirklichkeit durch die Existenz Gottes garantiert ist), dann einige Jahrhundert lang der Überzeugung, es sei eine bewußtseinstheoretische Frage (ob nicht das einzige Realitätskriterium die Möglichkeit ist, einen Bewußtseinsinhalt zu bilden), scheint uns jetzt unmittelbar einleuchtend, daß es eine kommunikationstheoretische Frage ist. Nur wenn wir das Geräusch des brechenden Baumes als Signal seines Zustandes auffassen, scheint es Sinn und Wirklichkeit zu konstituieren. In der Tat können wir das Geräusch gar nicht mehr anders sehen als eine kodierte Information über den Zustand des Baumes.

Daß sich außer der theoretischen Philosophie aber auch die praktischen Geisteswissenschaften kommunikationtheoretischen Überlegungen verschrieben haben, ist auf der Rückseite von Diskursethik und Kommunitarismus kaum zu übersehen. Darüber hinaus hat z.B. Michel Foucault gezeigt, daß sich Themen wie Historizität und Sexualität nicht nur als Kommunikationszusammenhänge plausibel beschreiben lassen, sondern daß es auch momentan für uns das Naheliegendste, wenn nicht 'Natürliche' ist, sie so zu beschreiben. Von hier bis zu der bereits von Foucault angelegten Erweiterung auf Psychologie, Kunst, Religion, Jura und Sozialität generell ist es nur noch ein kleiner Schritt, den wir unter Anleitung von Niklas Luhmann auch schon größtenteils vollzogen haben. Die Systemtheorien, die auf die älteren, jetzt etwas grobschlächtig erscheinenden Formeln bzw. Semiotiken von Harold Lasswell, John Austin oder A.J. Ayer aufbauen[Anm. 1], haben endgültig zum Durchbruch geführt, Wirklichkeit prinzipiell unter dem Paradigma des kommunikativen Systems zu sehen. Sein Paradigmencharakter ist u.a. auch daran zu erkennen, daß er die Gesamtheit des wissenschaftlichen Denkens umspannt, nicht nur die Geistes- und Sozialwissenschaften: Parallel zu deren Kommunikationsmodellen und den kommunizierenden Röhren haben in den Naturwissenschaften die Biotope, die Regelkreisläufe und die Algorithmen ihren Siegeszug angetreten. Die Physik reduziert ihre Basisgrößen zunehmend von 'Teilchen' zu Kräften, wenn nicht gleich zu Vektoren oder 'Strings', deren Existenz allein in Begriffen spezifischer Interaktions-Charakteristika beschrieben wird. Die großen Entdeckungen der Biologie dieses Jahrhunderts waren der genetische Code und die Ökologie, beide beschrieben in systemtheoretischen Kategorien, die die Elemente entsprechend ihrer Funktion zur Reproduktion des Organismus oder Ökosystems definieren.

Weil schon Wahrnehmung als kommunikativer Akt verstanden wird, bedeutetet Verstehen immer relationale Einordnung. Das Muster ist allumfassend, weil es ontologische Qualität erreicht und nicht mehr nur Relevanz, sondern Realität konstituiert: Etwas, das sich prinzipiell dem Zeichencharakter entzieht, kann nicht mehr gedacht werden, weil der Gesamtrahmen möglicher Wahrnehmung als kommunizierendes System des jeweiligen Status und Stellung seiner Elemente gedacht wird: noch der formlose Urstoff zwischen den Galaxien signalisiert dem Radiospektroskopen seinen Platz im Periodensystem der Elemente.

 

4. Ist Kreativität mehr, als bisher ungeahnte Blickwinkel von Kommunikation zu finden?

Beim Zähneputzen ausgedachte, unveröffentlichte Plots sind keine Literatur, geträumte Bilder keine Malerei, erahnte Klänge keine Musik. Das scheint deshalb so banal, weil diese Vorstellungen wie gesehen sogar außerhalb einer sinnvollen Anwendung des Begriffes Realität liegen, nicht nur außerhalb des Rahmens des Begriffes Kunst.

Kreativität scheint uns heute in der Fähigkeit zu liegen, entweder präkommunikative Entitäten zu kommunizieren, wie Gefühle, Stimmungen, Atmosphären oder psychische oder soziale Verfaßtheiten wie im humanistischen oder sozialkritischen Drama oder der Musik; oder aber präexistenten Symbolsystemen neuen Biß zu verleihen, wie im modernen Theater und Film. Wenn sie dies auf eine uns neue, ungeahnte und verblüffende Weise leistet, die uns 'die Augen öffnet' für neue Perspektiven oder die Partikularität unseren eigenen Codes, dann scheint es sich um gute Kunst zu handeln. -- Um noch bessere Kunst vielleicht, wenn sie uns auf den spezifischen Charakter unserer angelernten Kommunikationsformen aufmerksam macht, die Beschränkungen unserer Sprache, unserer Umgangsformen, unserer vielen kulturellen, sozialen und semantischen Selbstverständlichkeiten.

In jedem Fall jedoch sehen wir als Publikum dem Künstler ins Gesicht. Er spricht heute für uns, für die Veröffentlichung seines Textes, die Aufführung seiner Musik, die Premiere seines Films, nachdem wir jahrhundertelang nur seine Rockschöße sahen, während er uns in neue Befindlichkeiten hinein anführte. Das eigentliche Kunstwerk war seine Erschließung der uns verborgenen Konturen, während die kommunikative Weitergabe an uns sekundär, wenn auch unvermeidlich und -- aus unserer Sicht -- davon unabtrennbar bleibt.

Heute jedoch sind nicht mehr wir dumm, wenn wir die Kunst nicht verstehen, sondern der Künstler unverständlich. Da er primär mit uns kommuniziert und nicht mit dem Sublimen, trägt er auch mit Verantwortung dafür, daß wir etwas verstehen -- und sei es die Unverständlichkeit der Kunst selbst.

Damit bewegt sich Kunst auf der Grenze zwischen Verstehbarkeit und Innovation. Sie muß, um unterhaltend zu sein (und jede Kunst muß unterhalten), vertraute Codes benutzen. Sie muß, um gut zu sein, diese vertrauten Codes auf eine Weise benutzen, an die wir selbst noch nicht gedacht hatten, oder zumindest virtuoser, als wir selbst es könnten. Sie muß ohne die Einheit von Form und Inhalt zu zerbrechen, der Form einen Inhalt abgewinnen, der uns zum Verständnis neuer Formen und Inhalte anregt, indem er ungeahnte Konsequenzen oder Beschränkungen unserer kodierten Wirklichkeitsversicherungen offenlegt. Die so oft beklagte Unverständlichkeit moderner Kunst entspringt darum nicht einer Verweigerung von Kommunikation mit dem Rezipienten, sondern im Gegenteil der Dehnung des semantischen Raumes bis in fernste Winkel grenzwertiger Kommunikation der Verweigerung[Anm. 2], der Ironie, Monotonie oder Automation.

Im Zeitalter der postindustriellen Demokratie erwarten wir gar nicht mehr, daß die Introspektion des Meisters ungeahnte Befindlichkeiten zu Tage bringt -- wir haben sie alle schon gehabt. Wir erwarten, daß er uns auf immer neue Weise zeigt, wie die Befindlichkeiten eines nichtigen Massenmenschen, auf den wir reduziert sind, Anschluß an eine Wesenhaftigkeit finden, die unserer massenhaften Austauschbarkeit eine Verbindung zur einmaligen Komplexität des ultimativ Realen verschafft. Das Verblüffende ist dann aber, daß trotz oder vielleicht gerade wegen der Aufgabe des Anspruchs auf neue Erfahrungen, solche in noch nie dagewesener Weise geschaffen werden.

 

5. Bedeutet das tatsächlich den oft beklagten Verlust des Authentischen im hermetischen Chatroom?

In der nun schon über hundertjährigen Geschichte der modernen und vor allem elektrischen Kunst hat es natürlich nicht an Versuchen gefehlt, die skizzierte prinzipielle Begriffsveränderung von Kunst zu bestimmen, die mit ihrer Technisierung und Visualisierung einhergeht. Bewegte Bilder (movies) als Kino- und Videofilm, als Fernsehbild, aber zunehmend auch als Computeranimation und interaktives Video umspülen uns jeden Tag. Sie sind inzwischen sogar diejenige Kunstform geworden, die den allermeisten Menschen als einzige Form von Kunst in ihrem Alltag entgegentritt. Den direkten oder indirekten Ausgangspunkt fast aller modernen Kunsttheorie bildet bis heute Walter Benjamins Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von 1935, die der gesamten Kunsttheorie eine neue Richtung gegeben hat. (Der Grundgedanke findet sich bereits bei Ludwig Feuerbach in Das Wesen des Christentums). Nach ihr hat die Möglichkeit der technischen Reproduktion das, was wir unter 'Kunst' verstehen, insgesamt verändert. Kunst wird, verkürzt gesagt, vom Gegenstand der Kontemplation zum Gegenstand des Konsums. Benjamin erkannte, daß es mit Erfindung der Fotografie in den modernen Kunstformen unwiderruflich nicht mehr um Einzigartigkeit (Hardware), sondern um Zugänglichkeit (Software) ging. Den deduzierten Verlust der Authentizität faßte er in dem einzigartig erfolgreichen Schlagwort der 'Aura' zusammen, das genau an die religiösen Konnotationen der Geniekunst anknüpft. Der Wechsel des Kunstbegriffs bleibt für Benjamin jedoch ein regionales Phänomen und wird nicht wie oben als Einzelfall des umfangreicheren Siegeszuges des Kommunikationsparadigmas aufgefaßt, das ihm zumindest als Vokabel noch unbekannt ist.

Walter Benjamin sah die Veränderung im Gegensatz zu vielen seiner Epigonen zu Recht auch durchaus positiv als eine Demokratisierung der Kunst. Trotzdem hat seine Rede von der "Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe" das Grundmotiv zu einer Wertdiskussion über Kunst als Massenware gegeben, deren Objekt heute in 'Reality-TV' und 'Gameshow' endlich ernsthaft verwirklicht wird. Daß Benjamin nicht selbst in ihre Falle gerät, ist um so bemerkenswerter, als er die Fortsetzungen des 'Dada' unter der Parole "Alles ist Kunst" Marcel Duchamps oder das "Jeder ist ein Künstler" Andy Warhols bereits voraussah. Blickt man im Gegensatz zu Benjamin jedoch über den engeren Rahmen der Kunsttheorie hinaus auf ihre Einordnung in der geistigen Landschaft der Gesamtgesellschaft, so zeichnet sich lange schon eine viel interessantere Frage ab: Diejenige nämlich, wie die Neudefinition von Kunst und die an sie anschließenden Kommunikations- und Rezeptionsformen von Film, Video, Multmedia und Internet unsere Wahrnehmung und damit unser Bewußtsein verändert haben. Schon Walter Benjamin erkennt 1935 punktuell, daß es letztlich um die "Schlüsse auf die Organisation der Wahrnehmung in der Zeit, in der sie [die Kunstform] in Geltung stand" geht. Die Möglichkeit der massenhaften Produktion von Kunst und ihre folgende Hochzeit mit dem seriell-industriellen Paradigma von Wirklichkeit hatte nicht nur ihre Demokratisierung und Säkularisierung zur Folge, sondern auch -- wie wir jetzt erkennen -- ihre scheinbare Neudefinition in einer hermetischen Innerweltlichkeit, die Kunst allein als eine kommunikative Raffinesse sieht. Kunst hat sich von der immer neuen Benennung eines Transzendenten zu einem Begriffscode gewandelt, in dem Symbolelemente mit ihren eigenen Denotationsräumen spielen. Das aber stellt eine qualitative Veränderung der Form-Inhalt Dynamik dar. Die eingangs skizzierte Klage einer (quantitativen) Verschiebung von Inhalt zu Form geht darum am Phänomen vorbei. In Multimediashows, Laserinstallationen und Interaktionskunst wird Kunst primär als ein Medium betrachtet, die Wahrnehmung des modernen Massenmenschen seiner artifiziellen Wirklichkeit in immer engere Verschränkungen von medialer Form und Inhaltlichkeit zu führen. Ein Bezug zu etwas Außermedialem ist weder intendiert noch überhaupt vorstellbar. Damit reicht zum Beispiel das Problem der Einordnung des Films als künstlerisches Medium weit über den Bereich der Ästhetik hinaus. Das 'überstehende Andersartige' als der Prozentsatz der Wirklichkeit, der wie ein Grat an einem gestanzten Kunststoffteil sich der bewußten Formung prozeßbedingt entzieht, kann in der scheinbar hermetischen Sphäre des Kommunikationszusammenhanges nicht mehr thematisiert werden.[Anm. 3] Das ist jedoch nur dann zu beklagen, wenn nicht bedacht wird, daß ein solcher Transzendenzüberhang zugleich mit der Aufgabe eines Anspruchs auf Darstellung eines uncodierten Äußeren verschwinden muß.

Der Anklang an das gerade erschienene Monumentalwerk Sloterdijks ist beabsichtigt, stellt es doch die bisher reinste Ausformung des Kommunikationsgedankens dar. Seine Metaphysik des Paradigmas Kommunikation als Gemeinsamkeit führt ihn zur Formel, daß "alle Geschichte die Geschichte von Sphärenerweiterungskämpfen" sei. Sphären scheinen dabei die semantischen, sozialen, emotionalen, etc. Räume zu sein, deren Erfahrung in Netzen sich selbst hinterfragender Codes eingefangen werden kann. Der entscheidende Punkt ist aber, daß diese 'Sphären' als Räume der als kommunikativ verstehbaren Wirklichkeiten jeweils (bzw. insgesamt) zum Gesamtraum des Denkbaren werden. Das macht sie zu Sphären ohne Außenseiten. Die Metapher des Kampfes um ihre Erweiterung, die Sloterdijk unerhört kreativ variiert, müßte also umgestülpt werden zur Frage, ob die 'Erweiterung' eine Form qualititativer Intensivierung darstellt, oder tatsächlich neue Erfahrungen und Begriffe gleichdimensional an bekannte anfügt. Beides aber ist gleichermaßen interessant und fruchtbar.

 

6. Ist die Hermetik des Kommunikationsgedankens diesem unvermeidlich zu eigen?

Der heute in der Kunsttheorie so gerne genannte Verlust des 'Originals' oder Verlust des 'Materials' und der Emanzipation der 'Virtualität' meint also nicht nur den banalen Prozeß des Trägermediums von Papier zu elektromagnetisch ausgerichteteten Chrom- und Eisenpartikeln, sondern die bewußte Aufgabe des Anspruchs, sich auf etwas zu richten, das nicht an der Skala kommunikativen Erfolges gemessen werden kann. Mythisch gesprochen wurde der kreative (visionäre) Blick des Künstlers von der Geradlinigkeit, die direkt über den Rand der Welt hinausschoß, erst zum Gradienten gebogen, der den Globus der Erfahrbarkeit kartographierte, und schließlich zum Vektor einer kulturellen Relativitätstheorie aufgelöst, in der alle Größen in einem unhintergehbaren Ganzen (einer multidimensionalen Sphäre) zu Relationen anderer Perspektiven geworden sind. Das eigentliche Kunstwerk ist durch seine Technisierung nicht nur vom Material unabhängig geworden, es ist auch in einem noch viel radikaleren Sinn als Benjamin sich das 1935 vorgestellt hatte, virtuell geworden -- ein elektrisch geronnenes Traumbild, das wie Träume allein im Geist der Erlebenden entsteht. Im Paradigma der Kommunikation ist Einzigartigkeit nicht nur sinnlos, sie ist auch in der Weise systemisch ausgeschlossen, in der die Einzigartigkeit von Worten (die dann Eigennamen wären) in einer Sprache ausgeschlossen sein muß. Sie wird durch bewußte Anpassung an den vorhandenen Zeichenhaushalt des Rezipienten ausgeschlossen. Videoproduktionen und internationale Mainstreamfilme, Magazine, Computerspiele etc. werden heute neben der Synchronisation zunehmend in verschiedenen Varianten für den amerikanischen, europäischen und asiatischen Markt vertrieben, die auf gesetzliche, aber auch kulturelle Unterschiede Rücksicht nehmen, wie Sehgewohnheiten oder Sexualmoral. Es ist nur konsequent, daß Kunst, die sich in der skizzierten Balance von Erfahrungserweiterung und Kommunikation bewegt, danach trachtet, ihre Verständlichkeit zu erhöhen, indem sie sich möglichst nahtlos in die Semantik des Rezipienten einklinkt. Das Internet ist noch einen Schritt weiter mit dem neuen Zauberwort der 'Personalisierung' von Onlineangeboten, die direkt am individuellen Konsumentenprofil geformt werden. Das kann weit mehr als Kommerzialisierung sein: Das Erhöhen der Verständlichkeit einerseits gibt mehr Spielraum für die eigentliche künstlerische Aufgabe der Metakommunikation anderererseits; je vertrauter das semantische Netz ist, desto weiter kann es gedehnt werden, ohne unverständlich zu werden. Die beklagte Kommerzialisierung von Kunst, ihre Vermarktung durch Eventmanager, Trendscouts und Artbroker ist darum nicht unbedingt nur kommerzieller Verfall, sondern intrinsisch durch die kommunikative Neuordnung von Kunst bedingt. Die momentan ubiquitäre Koppelung der beiden Begriffe durch ein hilfloses 'und' zeigt dabei nicht mehr als die Verunsicherung eines unbewältigten Übergangs, die niemanden verprellen will. [Anm. 4]

Die Auswirkungen des Kommunikationsparadigmas haben dabei nicht nur die Definition von Kunst verändert, sondern auch die der funktionalen Information. So sehr Kunst zu einer Sphäre der Metakommunikation geworden ist, so sehr ist Information zu einer Sphäre der funktionsorientierten Kunst geworden. Wichtigstes Anzeichen dafür ist ihr Wechsel von der mechanischen Diskursivität militaristisch-ideologisch marschierender Buchstabenkolonnen zu anarchisch flimmernden, multidimensional verlinkten Graphiken. Information wird erneut zu einer Sonderform der Imagination, wie Vilém Flusser es auf den Punkt bringt: "Die Funktion der technischen Bilder ist, ihre Empfänger magisch von der Notwendigkeit eines begrifflichen Denkens zu befreien, indem sie das historische Bewußtsein durch ein magisches Bewußtsein zweiten Grades, die begriffliche Fähigkeit durch eine Imagination zweiten Grades ersetzen."[Anm. 5]

 

7. Oder stülpt sich die Hermetik der Kommunikation um zu einer neuen Transzendenz der Intensität?

Neu am kommunikativen Kunstbegriff und seiner Umsetzung in den neuen Medien ist also nicht die Ausblendung einer transzendenten Komponente einer präkommunikativen, ultimativen Realität (oder Transzendenz). Das Konsolenkid verliert sich ebenso im Wachtraum einer Innerlichkeit wie der Symphonienliebhaber in der Musik versinkt; dem Besucher virtueller Kunstwelten vergehen die Sinne nicht anders, als sie dem Louvrebesucher angesichts der Formen der Venus von Milo vergehen mögen. Neu ist vielmehr die Auflösung der vorher penibel getrennten Formen von Wirklichkeitslabor und Wirklichkeitsbeherrschung. Wenn Begriffe sich nicht mehr an einer außerbegrifflichen Wirklichkeit schärfen, sondern an ihrer eigenen Funktionalität, dann verschwimmt die instrumentelle Rationalität der industriell-ernsthaften Weltbeherrschung zunehmend mit der Relativierung aller Komponenten dieser Wirklichkeitsversicherung durch ihre Rückkoppelung auf sich selbst. Es ist mehr als eine neue Wertschätzung der Form oder Ästhetisierung der Information, wenn Firmen immer perfektionistischere Werbeclips drehen, immer komplexere Sponsorenverträge zwischen ökonomischem und kulturellem Sektor entstehen und content und form im Internet immer ununterscheidbarer werden, ebenso wie der Hauptfilm von der Werbung im Kino und der Merchandiseartikel vom Kunstwerk. Die Kommunikation von Information, sei es Geld, Macht, Wissen oder Unterhaltung wird ununterscheidbar von den Experimenten, um die Leistung dieser Information noch effektiver zu machen. Die skizzierte Auflösung von Sinngrenzen ist noch viel radikaler, als es sich die gefeierten Theorien McLuhans selbst in ihrer Synopse ausmalten, wenn sie statuieren: "Television completes the cycle of the human sensorium. With the omnipresent ear and the moving eye, we have abolished writing, the specialized acoustic-visual metaphor that established the dynamics of Western civilization."[Anm. 6] Der Wechsel der 'Metapher' ist schließlich eben nur ein Wechsel der Metapher, aber er zeigt einen Wechsel im Grundparadigma der Wirklichkeitsversicherung an, dessen erste Anfänge wir erst erkennen: Die Aufhebung der Trennung von Instrumentalität und Ästhetik in einer Welt, in der Erfolg immer mehr von geschickter Präsentation als von instrumenteller Durchsetzungskraft abhängt eben weil geschickte Präsentation sinngleich mit Durchsetzungskraft wird.

Kommunikation als umschließendes Großparadigma des Wirklichkeitszuganges bedeutet für die Kunst eine Ersetzung der Kreativität der Kontemplation durch eine Kreativität der Distraktion -- der Ablenkung vom Selbstverständlichen. Die Konsequenzen dieses Vorganges sind noch völlig unausgelotet, wohl teils auch noch unvorstellbar. -- Auch deshalb, weil sie in direkter kausaler Verbindung mit den schillernden Bewußtseinsmetaphoriken stehen, die unter dem Etikett der 'Postmoderne' verhandelt werden. Was deren Freiheitsrausch nicht zuletzt ausmacht, ist die noch vage Einsicht, daß ein sich als Impuls von Kommunikation verstehendes Bewußtsein der Punktualität entkommt, die das Kennzeichen des modernen Selbstbewußtseins ist. Die postmoderne Entdeckung ist die Einsicht, daß alle Kommunikation notwendig kodiert ist und Codes im Gegensatz zu Sinnhaftigkeit oder Wahrhaftigkeit weder ultimativ kohärent noch eindimensional sein müssen. Sie sind im Gegenteil interessanter (und erfolgreicher), wenn sie durch gesteuerte Inkohärenz ihre gegenseitige Begrenztheit aufzeigen. Wirklichkeit scheint Definitionssache zu werden, wenn wir Inhaltlichkeit und Formalität an jedem möglichen Punkt miteinander verbinden und zugleich die Form immer neu miteinander verhandeln.

Ob bzw. wie weit das ein Trugschluß ist, weil kohärente Wirklichkeit zu einem gewissen Grad unreduzierbar bleibt[Anm. 7], stellt das Experimentierfeld der Zukunft dar. Die Experimente nehmen dabei den Charakter kreativer Ablenkungen an. Ihr Ergebnis wäre -- in postmoderner Metaphorik gesprochen -- die Ablösung des punktuell in sich zusammenstürzenden Subjekts durch ein exzentrisch in den Kommunikationsformen kreiselndes Bewußtsein.

Diese Veränderung des Bewußtseins versucht z.B. Jean Baudrillard in seinen postmodernen Gleichnissen einzufangen, wenn er etwa behauptet:

"In der Tat haben sich sämtliche Körperteile des Menschen -- das Gehirn eingeschlossen -- wie eigenständige Satelliten auf einer Umlaufbahn exzentrisch um ihn angeordnet, anstatt sich konzentrisch um ihn herumzudrehen." [Anm. 8]

Daran, dieses 'ihn' (oder sie?) im Zentrum, um den (die?) sich alles dreht, zu bestimmen, hat sich die Moderne abgearbeitet. Nach der Sprengung des Subjekts durch Kommunikation hat sie nun das Problem der Formgebung des resultierenden Splitterhaufens. Die Eingangsfrage erweist sich darum -- wie so gerne bei pilosophischen Fragen -- als falsch gestellt: Kunst ist nicht nur eine Form kreativer Metakommunikation. Sie gewinnt dort eine ebenso fruchtbare Unendlichkeit für ihre Betätigung wie Geniekunst, falls sie sich von fader 'Kommunikationskunst' frei macht und auf die Limitationen des kommunikativen Menschen aufmerksam macht, wie früher auf die Limitationen des Subjekts.

 

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