parapluie elektronische zeitschrift für kulturen · künste · literaturen -> übersicht | archiv | suche
no. 3: unkultur -> aufgelesen
 

aufgelesen

 
Besprochen werden:
* Christoph Asendorf: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900.
* Victor Klemperer: LTI
* Mario Vargas Llosa: Lob der Stiefmutter
 

Christoph Asendorf: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900.

Anabas-Verlag, Gießen 1989 (Werkbund-Archiv; Bd. 18)

Es gibt eine Theorie, die besagt, wenn jemals irgendwer
genau herausfindet, wozu das Universum da ist und warum
es da ist, dann verschindet es auf der Stelle und wird
durch etwas noch Bizarreres und Unbegreiflicheres ersetzt.
Douglas Adams, Das Restaurant am Ende des Universums

 

Reichsgericht Berlin, 1896: Ein Arbeiter wird von der Anklage freigesprochen, elektrischen Strom zum Betrieb eines privaten Motors unterschlagen zu haben. Die Urteilsbegründung fällt reichlich kurios aus: Es handele sich dabei um keinen Diebstahl, da nur ein Gegenstand im Sinne einer unbewegten 'Sache' diebstahlfähig sei.

Wer sich schon einmal gefragt hat, warum um 1900 alles fließt, strömt und strahlt (und im übrigen bis heute nicht aufgehört hat), stößt in Christoph Asendorfs Langsamem Verschwinden der Materie auf ein wahres Wespennest an Antworten. Der Autor hat schon in einem früheren Buch die Krisensymptome der Moderne eng an die Erfindung des Bleiakkummulators geknüpft: Einerseits dient die Batterie als Modell jener Fortschrittsgläubigkeit, welche die nervenschwachen Menschen des fin de siecle mit neuer Energie, positiver 'Ladung', aufzutanken verspricht. Indes macht der zweite Hauptsatz der Themodynamik eher Angst vor einem allgemeinen "Verlust an Lebenskraft": darin heißt es, daß nur ein Teil der vorhandenen Energie umwandelbar ist.

Nietzsches Übertragung des physikalischen Begriffs von Kraft in Wille zur Macht, seine euphorische Beschreibung des menschlichen Leibes, durch den "ein ungeheurer, unhörbarer Strom zu fließen scheint" (Nachlaß, 453), ist als Strategie zu verstehen, das sich langsam verdünnisierende substantielle Weltbild durch die Hintertür in den menschlichen Haushalt zurückzuholen. Solcherlei Rückfälle in unklar personifizierende Vorstellungen verdeutlichen, wie schwer die Paranoia wog, im Prozeß der Zerstörung von Distanz selbst 'atomisiert' zu werden. Wer jedoch in der Anziehungskraft, durch die sich zwei Stoffteilchen einander annähern, eine angenehme, gar personifizierbare, Größe sehen möchte, hat, wie der Physiker Du Bois-Reymond schreibt, nicht den "Schatten einer Einsicht in das Wesen des Vorgangs. Aber, seltsam genug, es liegt für das innewohnende Trachten nach den Ursachen eine Art von Beruhigung in dem unwillkürlich vor unserm inneren Auge sich hinzeichnenden Bilde einer Hand, welche die träge Materie leise vor sich herschiebt".

In atemberaubender Quellendichte weist Asendorf nach, wie das 19. Jahrhundert durchzogen ist von dem Versuch, die Sinneswahrnehmungen neu zu ordnen und dabei in trivialisierter Form auf die Elektrodynamik zurückgreift. Das Buch erzählt von einer englischen Textilfirma, deren "röntgensichere Unterhose" zum Verkaufsschlager avancierte und es schildert den intensiven Spiritismus der 1890er Jahre, in dessen Aufwind unter anderem Georg Büchners skurriler Bruder Ludwig mit "Kraft und Stoff" Geschichte machte. Er interpretierte Röntgens Strahlen als die Entdeckung einer neuen Naturkraft, deren Wirken zwar eindeutig zu beobachten, deren Wesen aber so rätselhaft sei wie dasjenige des Od, eines allgegenwärtigen Geistes, der nur bei besonders sensitiven Menschen Symptome nervöser Erregung hervorrufe.

Ströme und Strahlen führt die Wiener Moderne mit dem Italienischen Futurismus und dem Expressionismus unter einer Perspektive zusammen, die man Metaphysik des Technik-Erlebens nennen könnte. Daß diese neureligiöse Bewegung eine wichtige, aber keinesfalls die einzige Seite des Versuches darstellt, eine neue Wirklichkeitssicht zu erschließen, veranschaulicht Asendorf an vielen Stellen. Denn das Gefühl einer Generation, die "Schiffbruch des Geistes und des Glaubens an den Geist überhaupt" (Rudolf Heym) erlitten zu haben glaubt, ist vor allem auch das Ergebnis einer wissenschaftlichen Diskreditierung gängiger Biologismen. Statt eines Glaubens an die Abfolge irreversibler Ereignisse (Teleologie) nach dem klassisch evolutionistischen Modell von "Ausbreitung, Blütezeit und Verfall", begeifen sich Menschen um 1900 als 'Transformatoren' von Energien, die in kühler Berechnung der Gefahr ins Auge sehen, selbst umgewandelt zu werden. Nietzsches und auch Max Webers Nervenzusammenbrüche sind wohl als experimentelle Mißerfolge zu werten, nachdem beide versucht hatten, der zunehmenden Entmächtigung des Auges und Auflösung von Distanz zugunsten eines technikfreien Denkraums zu widerstehen.

Über das Buch hinaus ließe sich zum Beispiel fragen, weshalb die Reinkarnationslehren seit etwa 1900 in der westlichen Welt auf so fruchtbaren Boden fielen. Als Konsequenz eines Batteriemodells wäre zu überprüfen, ob die Erfolgsgeschichte von Wiedergeburts- und Ganzheitlichkeitsideen mit der trivialisierten Verbreitung des Eneregieerhaltungssatzes korreliert: Wenn nichts verloren ginge, dann bliebe auch das Ich ewig erhalten.

(Daniel Sturm)

 

Victor Klemperer: LTI

Leipzig (Reclam) 1996.(für die gebundene Ausgabe; Reclam-Taschenbuch: 1975)

Außerdem: Dolf Sternberger; Gerhard Storz; Wilhelm Emmanuel Süskind: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Frankfurt a.M./Berlin/Wien (Ullstein) 1984. (vergriffen, z. Zt. nicht wieder aufgelegt)

Darauf, daß Worte niemals unschuldig sind, kann wohl nicht oft genug hingewiesen werden.

Trotz des Klemperer-Booms, der 1995 mit der Veröffentlichung seiner Tagebücher 1933-45 einsetzte, erscheint es deshalb nicht überflüssig, erneut auf LTI, Klemperers wohl wichtigstes, zuerst 1947 erschienenes und zuletzt 1996 bei Reclam neuaufgelegtes Buch hinzuweisen, in dem er den Sprachgebrauch des Dritten Reiches, die Lingua Tertii Imperii, im parodierenden Geheimkürzel für ihn zur LTI geworden, aufs Scharfsichtigste und Eindringlichste analysiert.

Die Vorzüge und Qualitäten von Klemperers Buch, der "Balancierstange", die ihm über die zwölf Jahre seines Lebens in Nazideutschland den Halt einer Aufgabe bot und den Sturz in die Verzweiflung verhinderte, zeigen sich vielleicht am Deutlichsten im Vergleich mit einer ganz ähnlich gelagerten Unternehmung: den von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm Emmanuel Süskind zwischen 1945 und 48 für die Zeitschrift Die Wandlung geschriebenen und 1957 zum ersten Mal in Buchform erschienenen Betrachtungen Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, die mittlerweile vergriffen und nicht mehr im Buchhandel erhältlich sind.

Klemperer, wie auch Sternberger, Storz und Süskind geht es darum, den Einfluß sichtbar zu machen, den die nationalsozialistische Ideologie auf das Denken der deutschen Bevölkerung gerade über die gleichgeschaltete Alltagssprache erhielt, die in ihren unbewußt in Fleisch und Blut übergehenden Wendungen die Denk- und Sichtweise der sich ihrer Bedienenden weitaus mehr prägte, als jede Hetzrede eines Goebbels oder Hitler. Diesen schleichenden Einfluß bewußt zu machen und das Leben und Überleben der Denkformen des Dritten Reiches in der von ihm geprägten deutschen Sprache offen zu legen, bestimmt die Bemühungen sowohl Klemperers wie auch Sternbergers, Storz' und Süskinds. Den Deutschen die Sprache des Unmenschen fremd zu machen beabsichtigen jene, dieser, die deutsche Sprache ebenso zu reinigen, wie rechtgläubige Juden kultisch unrein gewordenes Eßbesteck.

Verwirklicht wird dieses Vorhaben jedoch in beiden Fällen auf unterschiedlichste Weise: Klemperer, der sich selbst bereits im ersten Kapitel seines Buches dem Vorwurf des Schulmeisterhaften aussetzt, gelingt es souverän, jeden moralisierenden Ton zu vermeiden. Gerade dadurch, daß er seine Aufgabe nicht als die des Predigers, sondern die des Chronisten auffaßt, der unermüdlich festhält, akribisch notiert und damit stets auch beobachtet und analysiert, gelingt es Klemperer auf eindrucksvolle Weise, Strukturen und Einfluß der LTI bloßzulegen und beim Leser den Prozeß des Nachdenkens über den eigenen Sprachgebrauch auszulösen.

Die in ungleich höherem Maße nachkriegspädagogischen Texte Sternbergers, Storz' und Süskinds produzieren in ihrem belehrenden Ton dagegen eher Unbehagen bei der Lektüre. Wenn diesen auch ähnlich genaue Beobachtungen zugrunde liegen, die zum Beispiel die Verobjektivierungen des nazistischen Sprachgebrauchs scharf erkennen, so stehen diese Texte doch im Zeichen einer Sprachauffassung, die die Worte in Semantik und Anwendung festzulegen sucht und so letztlich gerade die Denkfigur der Ideologie reproduziert, deren Überwindung sie eigentlich anstrebten. Stets wird im Wörterbuch ein "eigentlicher" Wortgebrauch vorgestellt, den es nach der Kontrastierung mit dem Sündenfall des NS-Sprachgebrauchs wiederzuerreichen gelte. Nostalgisch erinnert zum Beispiel Sternberger an die Zeiten, in denen man noch eindeutig zu sagen wußte, was das "einheimisch deutsche[s]" Wort "Anliegen" bedeutete und dieses noch nicht durch nazistischen Gebrauch verunglimpft war. So aber entsteht das Bild eines, durch die Zeit des Dritten Reiches lediglich überwucherten, "richtigen" Sprachgebrauchs, dem man sich nach der Entnazifizierung nun erneut anzupassen habe. Es gerät damit gerade das aus dem Blick, was Klemperers Buch zum implizit wichtigsten Ergebnis hat: Die Freiheit der jeweiligen SprecherIn gegenüber der Sprache und somit die Verantwortung jedes Einzelnen für den je eigenen Sprachgebrauch.

Dieser Unterschied prägt auch den Stil der Texte: Im Wörterbuch stößt man immer wieder auf das vereinnahmende "wir", das dem Leser ebenso kumpel- wie oberlehrerhaft den Arm um die Schultern legt, um den gemeinsamen Weg im Kampf gegen einen zur maskenhaften Fratze geronnenen "Unmenschen" zu weisen, der dankenswerter Weise immer schon zum Anderen gemacht ist, über den man sich, ebenso wie die Autoren, ohne allzu große Anstrengung moralisch erheben kann. Eine ähnlich pauschale und undifferenzierte Rhetorik erlaubt sich Klemperer an keiner Stelle. Seine Analysen sind stets in konkrete Alltagssituationen eingebunden, und die SprecherInnen, die er beobachtet, spezifische Individuen: jüdische Schicksalsgenossen ebenso wie Gestapobeamte, zur Partei übergelaufene Freunde in gleichem Maße wie er selber, da Klemperer auch sich selbst immer wieder dabei ertappt, in die Sprachfalle der LTI zu geraten. -- Es ist gerade nicht die bewußte Manipulation der Sprache durch einen stets anonym bleibenden Unmenschen, sondern der alltägliche und unbewußte Sprachgebrauch eines jeden Einzelnen in seiner Umgebung, in dem Klemperer das Gift der NS-Ideologie immer wieder dingfest macht. Während das Wörterbuch, das der Propaganda ihr Recht nur dort zuschreibt, "wo sie Dumme findet" (Süskind), aus diesen Dummen im biederen Stil der 50er Jahre immer schon die Anderen gemacht hat, ist Klemperer, dessen Buch ebenso zeitlos wie fesselnd geschrieben ist, vielzu aufgeklärt, um das Wort "dumm" auch nur zu benutzen. Er erlaubt es so dem Leser nicht, in den beschriebenen Verblendungen nicht auch die eigenen zu entdecken. Wirken daher die Texte Sternbergers, Storz' und Süskinds trotz ihrer berechtigten Sprachkritik oftmals eher wie eine Vorbereitung auf die neue sprachliche Ideologie der Nachkriegszeit, bleibt Klemperers Buch ein beeindruckendes Zeugnis dafür, was es bedeutet, mit der eigenen Sprache verantwortlich und couragiert umzugehen. Nichts könnte dies besser illustrieren, als die von Klemperer selbst als Nachwort gewählte Episode, in der ihm in den Wirren des Kriegsendes eine aus Berlin geflüchtete Arbeiterin auf die Frage, wieso sie denn im Gefängnis gesessen habe, schlicht antwortet: "Na wejen Ausdrücken ..."

(Alexander Schlutz)

 

Mario Vargas Llosa: Lob der Stiefmutter

Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 (aus dem Spanischen von Elke Wehr).

Es gibt viele Orte, an denen man dieses Buch lesen kann: zum Beispiel im Bett -- dann aber bitte nicht allein! --, oder am Strand, wo man bald glaubt, statt des Glucksens der Wellen das Glucksen von Lukrezias Bauch zu hören, dem Don Rigoberto andächtig lauscht. Don Rigoberto nämlich, Doña Lukrezias leidenschaftlich liebender Ehemann, erforscht nicht nur seinen eigenen Körper bis in den letzten Winkel, sondern auch den seiner Frau, und das mit allen fünf Sinnen. Doch schon bald schleicht sich ein Dritter in ihr Glück ein: Alfonso, Don Rigobertos Sohn aus erster Ehe, ein engelgleiches Kind mit Goldlocken, das listenreich seine Stiefmutter zu verführen sucht. Nachdem er dieses Ziel erreicht hat, berichtet er seinem Vater von der gar nicht mütterlichen Pflege, die Doña Lukrezia ihm angedeihen läßt, woraufhin diese das Haus verlassen muß. Dies ist die Rahmenhandlung, in die verschiedene kurze Erzählungen eingebettet sind, die die Rahmenerzählung wiederum in einem anderen Licht erscheinen lassen; so flüstert Don Rigoberto eines Nachts Doña Lukrezia ins Ohr, sie sei einst die Frau des Königs von Lydien gewesen, woraufhin im folgenden Kapitel Kadaules, König von Lydien, die Kruppe seiner Frau Lukrezia preist. In einem anderen Abschnitt kommt Doña Lukrezia selbst zu Wort: Hier ist sie Diana Lukrezia, die Jagdgöttin, die sich mit ihrer Gefährtin Justiniana von einem Knaben namens Foncín (!) bei ihren Liebesspielen beobachten läßt. Und jetzt dämmert uns, worum es hier geht: Hier inszeniert Literatur sich selbst, werden aus den unendlichen Variationen der Liebe die unendlichen Variationen der Literatur, getrieben vom selben Begehren:

"So verharren wir alle drei, still, geduldig, und warten auf den künftigen Künstler, der, von Verlangen getrieben, uns in Träumen einfängt und glaubt, uns zu erfinden, während er uns mit dem Pinsel auf die Leinwand bannt",

beschließt Diana Lukrezia ihre Ausführungen. Auch das Lob der Stiefmutter ist eine kunstvolle, spielerische Variation des uralten Themas, das uns immer wieder beschäftigt, die Liebe und ihre tausend Spiele, und zugleich eine meisterhafte, spielerische literarische 'Fingerübung'. Und so schlagen wir, homo ludens, schließlich nach atemloser Lektüre die letzte Seite zu, drehen uns müde und wohlig warm auf die Seite und tasten im Bett neben uns nach etwas Warmem, Weichen, das da atmet und gluckst und seufzt...

(Bettina Krüger)

[ druckbares: HTML-Datei (16 kBytes) | PDF-Datei (50 kBytes) ]

copyright © 1997-2012 parapluie & die autorinnen und autoren. alle rechte vorbehalten.
issn 1439-1163, impressum. url: http://parapluie.de/archiv/unkultur/aufgelesen/