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no. 8: zeitenwenden -> comte und houellebecq
 

Es war einmal der Mensch

Comte und Houellebecq erinnern (an) uns

von Martin Klebes

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Wenn etwas Neues anfangen soll, kann man es dadurch einzuläuten versuchen, daß man das Zurückliegende neu faßt.
Wenn etwas Neues angefangen hat, kann man sich des Zurückliegenden besinnen.
In beiden Fällen wird erinnernd gegen arbiträres Vergehen von Zeit angekämpft. Auguste Comtes Positivismus beschreitet den ersten Weg, in der Hoffnung, durch eine Kalenderreform den Weg in eine gesicherte Zukunft zu weisen. In der science fiction des hoffenden Skeptikers Michel Houellebecq wird entgegen solch rosaroter Szenarien Plan B verfolgt -- Vorspiel für ein neues Jahrhundert, in dem wohl erst die Faktizität spüren lassen wird, daß jemand an der Uhr gedreht hat.

 

I.

"Alle Kalender beruhen selber auf einer Geburt,
einem Grund, einem Ursprung, der in Wirklichkeit
unauffindbar ist und dessen geglücktester Ausdruck
der Kalender ist."
Jean-Luc Nancy, Vom Ursprung, der sich entzieht

 

Nachdem sich nun die Aufregung um Y2K gelegt hat, ja dieser epochale Einschnitt bereits so gut wie vergessen ist, bleibt uns -- in der offensichtlichen Abwesenheit größerer astrophysikalischer oder datentechnischer Umwälzungen -- vor allem eines übrig: eine neue Jahreszahl, wie jedes Jahr. Als Zeichen einer Veränderung zu banal, um befriedigend zu sein. Nichts wäre aufregender, als wenn sich zusammen mit dem Kalenderblatt auch das Blatt im weiteren Sinne wenden würde und etwas Neues anbräche. Und das Ganze so kurz nach einer Sonnenfinsternis. Die Natur unseres Kalendersystems aber macht uns einen Strich durch die Rechnung. Konventionell ist er, der gregorianische Kalender, wie jeder andere, seitdem Schrift dazu verwendet worden ist, die Zeit systematisch einzuteilen und ihren Verlauf aufzuzeichnen. Konvention aber garantiert keine tiefere Bedeutung, so sehr wir uns das im Sinne leicht verdaulicher Periodisierungen vielleicht auch wünschen mögen. Es bleibt uns am Neujahrsmorgen das Schicksal nicht erspart, aufzuwachen und uns mit flauem Gefühl im Magen der Tatsache bewußt zu werden, daß sich so gut wie nichts getan hat. Und daß sich, Vorsätze hin oder her, vielleicht auch weiterhin nichts tun wird. Dieses Jahr wird ebenso vergehen wie das nächste auch, und so sehr man auch versuchen mag, das soeben Vergangene durch 'Best-of-19xx'-Anthologien im Gedächtnis zu behalten, das Bewußtsein der willkürlichen Einteilung tut seine zersetzende Wirkung.

Das ist schwer zu akzeptieren, wenn man sich ernsthaft Gedanken über den Fortschritt zu machen versucht. Auguste Comte hat dies ausgiebig getan -- unter dem Einfluß der Nachwirkungen einer der wenigen Momente der europäischen Geschichte, die wohl mit Recht das Prädikat 'einschneidend' verdienen. Allerdings fiel auch die Französische Revolution nicht so recht auf einen Jahrhundertwechsel. Reinhart Koselleck hat für den Zeitraum, der sie umgibt, das Wort von der Schwellenzeit geprägt: ein hinreichend handlicher Begriff, weil so darauf verzichtet werden kann, genaue Grenzwerte für das Über- und Unterschreiten der Schwelle anzugeben.

Wenn man Comte glauben will, dann kommt allerdings selbst Kosellecks ausgefranste Periodisierung ins Wanken. In gewissem und für Comtes Werk entscheidendem Sinne nämlich wäre die Revolution in all ihrer Freiheit über ihre eigene Schwelle getreten und hätte sich einfach geweigert aufzuhören. Comte verkannte dabei keineswegs die bereits voll im Krebsgang befindlichen restaurativen Tendenzen seiner Zeit. Das wäre auch schwer möglich gewesen. Allerdings war er fest überzeugt, daß es sich bei den konservativen Kräften eben nicht um richtige Konservative handelte.[Anm. 1] Obwohl sich der Konservatismus als ein 'dritter Weg' zwischen unausgesetzter Umwälzung und politischer Rückentwicklung verstand, hat er in Comtes Augen faktisch nur zur Verlängerung der revolutionären Phase beigetragen. In Ermangelung einer positiven Doktrin sind so die laut Comte negativen Effekte der Revolution, allen voran die Ziellosigkeit und die andauernde Gefahr der Anarchie, nur perpetuiert worden. Comtes Positivismus dagegen verspricht, auf wissenschaftlicher Basis eben jene stabilisierende Kraft darzustellen, die es für das Beenden der Revolutionszeit braucht.

In seinem Spätwerk, dem sogenannten "zweiten System", hat Comte praktische Konsequenzen aus seiner Wissenschaftsphilosophie und Soziologie gezogen -- Konsequenzen, die bei vielen Anhängern wenig mehr als ein Stirnrunzeln hergerufen haben. Der Positivismus wird hier zu einer Religion der Menschheit ausgearbeitet: Comte bescheidet sich nicht mit einer theoretischen Analyse, sondern schlägt konkret die Einrichtung bestimmter Institutionen vor, die auf dem Fundament der positivistischen Doktrin beruhen und in nie dagewesener Weise für soziale Integration sorgen sollen. Erst ein auf diesem Weg erreichtes soziales Gleichgewicht könnte als eigentlicher Abschluß der revolutionären Epoche gelten.

Michel Serres hat Comte dafür Anerkennung gezollt, daß dieser im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit seiner Kollegen die religiöse Komponente wissenschaflicher Aktivität ohne Umschweife zugesteht.[Anm. 2] Aus dieser Diagnose lassen sich positive und negative Folgerungen ableiten. Die philosophische Fahne, unter der Comte segelt, läßt keinen Zweifel daran, welchen Weg dieser selbst einschlagen wird: Er nimmt diese Feststellung keineswegs zum Anlaß einer Wissenschaftskritik, sondern propagiert vielmehr den Ausbau seiner Theorie zu einer säkularisierten und rationalistischen Religion. Im hier verhandelten Zusammenhang ist vor allem eine der von Comte angeregten Institutionen interessant: die Kalenderreform.[Anm. 3]

Schon die Revolutionäre hatten 1793 einen neuen republikanischen Kalender eingeführt, der vor allem durch die radikale dezimale Einteilung bestach: Der Beginn der neuen Ära wurde rückwirkend auf den 22. September 1792 festgesetzt und das Jahr in 12 Monate zu je 30 Tagen eingeteilt, zuzüglich fünf bzw. sechs (in Schaltjahren) sogenannten 'Sansculotiden', Festtagen am Jahresende, die keinem der Monate zugehören sollten. Die Monate wurden in 3 Wochen zu je 10 Tagen aufgeteilt, die Tage in 10 Stunden zu je 10 Minuten, die Minuten in 100 Dezimalsekunden. Der Bruch mit der Tradition des katholischen Kalenders sollte den radikalen Neubeginn anzeigen, verstärkt durch die Umwidmung jedes einzelnen Tages von den bekannten Namensheiligen zu Symbolen einer postrevolutionären ländlichen Idylle. So wurden die 360 regulären Tage nach Tieren, Pflanzen, Mineralien und landwirtschaftlichen Geräten benannt. Die kurze Haltbarkeitsdauer dieses Kalenders war von diversen Modifikationen sowie bereits ab 1795 von seiner schrittweisen Rücknahme gezeichnet. Der letzendliche Widerruf der Reform 1805 bildete einen integralen Teil von Napoleons Rückführung der Republik zum Katholizismus. [Anm. 4]

Die Tatsache, daß Comte etwas mehr als vierzig Jahre später erneut eine Kalenderreform vorschlägt, muß als implizite Kritik an seinen Vorgängern gewertet werden. Comtes Kalender weist einige Differenzen in der Einteilung auf: er entscheidet sich für dreizehn Monate à 28 Tagen, zuzüglich eines bzw. zweier (in Schaltjahren) Festtage ohne Monatszuordnung am Ende des Jahres. Er nimmt auch wohlweislich von einer Dezimaleinteilung Abstand. Auch Comtes Neuanfang soll vor allem die unregelmäßige Monatslängen korrigieren. Er macht es außerdem möglich, daß jeder Tag des Jahres immer auf den gleichen Wochentag fällt. Dies ist Comte sehr wichtig: wie er anmerkt, ist die Unstimmigkeit in der Vergangenheit für viele 'schmerzhaft' gewesen, da sie es erschwert hat, sich an positive Affekte und Erlebnisse zu erinnern.

Der neue Kalender ist vor allem eines: eine Gedächtnismaschine. Comtes permanente Kritik am perspektivlosen Anarchismus der Revolution läßt sich in diesem Zusammenhang vor allem auch auf deren Kalender beziehen: Die Tage des republikanischen Kalenders wurden Objekten gewidmet, die in keinster Weise zivilisatorischen Fortschritt oder Zeit überhaupt markieren. Der zeitlos pastorale Charakter des Namensammelsuriums befindet sich so in kompensatorischen Kontrast zur revolutionären Vorwärtsbewegung. Die katholische Gallerie der Heiligen krankt am selben Prinzip: Auch hier sind alle Zeichen, Symbole und Ikonen der Glorie anarchisch durcheinandergewürfelt -- das Kirchenjahr besitzt in sich keine durchgängige logische Gliederung. Der neue Kalender dagegen schreitet methodisch die Entfaltung der Bereiche menschlichen Wissens von der Antike bis ins 19. Jahrhundert ab. Comte versteht diese Rekapitulation als einen unverzichtbaren Zwischenschritt konkreter Verherrlichung der Vergangenheit, der sich letztendlich mit der abstrakten Idealisierung der Zukunft verbinden soll. Während wissenschaftliche Theorien nur die abstrakte Rechtfertigung des Positivismus darstellen können, werden jene nur dann zukünftige soziale Veränderungen veranlassen können, wenn die Verwurzelung in der Vergangenheit nicht vernachlässigt wird. Die Revolution hat diese Verwurzelung abgestritten: Die Zeitlosigkeit ihres Kalenders verhindert für Comte die Konsolidierung des Chaos durch die Erinnerung an ein davor. Comte schlägt daher vor, die Tage des Jahres den großen Figuren der westlichen Wissenschaft, Religion, Industrie, Literatur und Philosophie zu widmen. Durch ritualisierte Erinnerung zu festgesetzen und regelmäßig wiederkehrenden Zeiten soll in Form von Verehrung die im Laufe der industriellen Revolution immer stärker hervortretende Tatsache kompensiert werden, daß sich eben jene Wissenschaft, auf welche sich der Positivismus beruft, von der Allgemeinheit immer weniger nachvollziehen läßt. Die Entwicklung auf eine autoritäre Wissenschaftlerkaste hin, von Comte ohne viel Ironie als 'Priester' bezeichnet, wird abgefedert durch allgemeine Erinnerung an eine Vergangenheit, die diese Entwicklung vorbereitet hat.

Es ist also der Vollzug von kollektiver Erinnerung, der die Revolution und das Zeitalter der Kritik beenden helfen soll. Verehrung, nicht Nachahmung, ist dabei das Kardinalziel. Nur so ist verständlich, warum Comte explizit eine Vielzahl von Figuren in den Kalender integriert, die dem Geist des Positivismus offensichtlich zuwiderlaufen. Die Tage des ersten Monats 'Mose' sind großen Figuren jener Weltreligionen gewidmet, die Comtes Positivismus ein für allemal zu überwinden versucht. Die antike Wisenschaft ('Archimedes') ist genauso zahlreich vertreten wie die moderne, bis ins 19. Jahrhundert hinein ('Bichat', der auch Lehrer Comtes war). Comtes Strategie beläuft sich auf eine seltsame Kobination von Ein- und Ausschlüssen, denn obwohl er einerseits verkündet, daß gerade der Positivismus (und somit auch sein Kalender) es nicht nötig habe, andere Perspektiven und Ansätze dogmatisch auszugrenzen, so ist ihm andererseits doch voll bewußt, daß Nichterwähnung und daraus potentiell resultierendes Vergessen im Endeffekt die schlimmste 'Strafe' darstellt, die ein neues System ausüben kann. Mit Nonchalance wird sodann bestätigt, daß sich weder Luther noch Calvin, weder Rousseau noch Voltaire unter den Widmungsträgern finden. Letztere ziehen sich Comtes Vorwurf zu, nur zerstört und nichts aufgebaut zu haben -- was sie zu zweifelhaften Schutzheiligen der angestrebten Restauration machen würde. Kritik um der Kritik willen macht sich hier nicht gut, selbst wenn immense Projekte wie jenes der Encyclopédie auf sie zurückgehen. Kant muß es daher wohl glücklichen Umständen zu verdanken haben, daß er noch als widmungswürdig durchgeht, und zwar am 24. Tag des elften Monats ('Descartes'). Oder, anders gesagt: er profitiert von der Meinung, schulgetreu wiederholt vom amerikanischen Positivisten Frederic Harrison, daß die Kritik der praktischen Vernunft im wesentlichen einen Korrekturversuch der negativen Resultate der Kritik der reinen Vernunft darstelle.[Anm. 5]

Allen konkreten Absichten zum Trotz ist Comte mit seinem Kalender noch viel weniger weit gekommen als die Revolutionäre. Bis zu einer Institutionalisierung ist er nie vorgedrungen, obwohl natürlich der Positivismus in der zweiten Jahrhunderthälfte in vielen Bereichen drückend dominierte. Comtes Nachfolger teilten kaum dessen Begeisterung für die Idee, eine philosophischen Doktrin und wissenschaftliche Methodologie zu einer säkularisierten Religion zu überhöhen. Hierfür sind wohl in erster Linie die Prozesse funktionaler Ausdifferenzierung verantwortlich zu machen, die es zunehmend unwahrscheinlich machten, einen Autoritätstransfer aus dem Wissenschaftssystem ins Religionssystem zu erlauben. Wissenschaftler sind Wissenschaftler, Priester sind Priester -- und eine Vielzahl von Beispielen zeigt, daß sich erstere auch im 20. Jahrhundert und darüber hinaus problemlos mit der Existenz und traditionellen Rolle der letzteren abfinden können. Dieses Abfinden allerdings kann -- deshalb ist Comtes Kalender eine so instruktive Episode -- seinerseits nur durch ein permanentes Vergessen geschehen. Schon Comte selbst hatte festgestellt, daß brauchbare Wissenschaft nur dann entsteht, wenn die Frage der Anwendbarkeit ihrer Resultate nicht bei jedem Schritt gestellt wird. Er mag sich nicht bewußt gewesen sein, daß die Kehrseite dieser Medaille eben der Zweifel daran sein muß, daß sich die Entwicklung der Wissenschaft so unzweideutig als sozialdienlicher Fortschritt fassen und temporalisieren läßt, wie der Kalender es suggeriert. Die Wissenschaftler vergessen weitläufig das, was nicht Wissenschaft ist. Sie haben unter Umständen, wie Thomas Kuhn erstmals deutlich klarstellte, noch nicht einmal ein sonderlich ausgeprägtes Verhältnis zur Geschichte ihrer eigenen Disziplin. Aber auch der Großteil jener Massen, für die der Kalender gedacht war, würde es wohl vorziehen, nicht permanent an den tapferen Versuch erinnert zu werden, eine Entwicklung rational zu rekonstruieren, die letzlich alles andere als rational ist. Die breite Akzeptanz des wissenschaftlichen Fortschritts als einer Serie vollendeter Tatsachen, mit denen man wohl oder übel konfrontiert wird, impliziert nicht unbedingt die Akzeptanz einer großen Erzählung der Selbstvollendung der Wissenschaft.

Wie alle Systeme, welche Zeit einbegreifen, tut auch Comtes Kalender dies nur, um letztere schließlich ruhigzustellen. Spätestens der abstrakte Kult, auf welchen der Kalender vorbereitend hinführen soll, käme einer solchen Suspendierung gleich. Es ist daher unausweichlich, daß sich Comte mit ähnlichen Anfangs- und Abschlußproblemen wie Hegel herumschlägt. In beiden Fällen scheint dies etwas mit Institutionalisierungsprozessen zu tun zu haben, die sich unabhängig von den Versuchen gedanklicher (Re)Integration fortspinnen. Das Gefühl von Kontinuität, welches der Kalender nach Comte als Gegengift gegen die (moralischen) Verfallsprozesse der Zeit vermitteln sollte, bleibt so Unterbrechungen preisgegeben. Der Versuch einer Kalenderwende als Vorbereitung einer substantiellen Zeitenwende schlägt fehl. Die Monate bleiben unterschiedlich lang, und der Konflikt zwischen Wochentagen und Tagen des Monats ungeschlichtet. Die Wissenschaft lehnt es ab, sich als Objekt und Mittel einer absichernden Gedächtnisform einspannen zu lassen und kann so weiterhin eine bessere Zukunft verheißen, ohne ihre Versprechungen systematisch aus einer gradlinigen Vorgeschichte herleiten zu müssen.

 

II.

"Die letzten Monate des Jahres 1999 waren ohnehin
für die ganze Bevölkerung der westlichen Welt eine
seltsame Epoche, die von einer besonderen Erwartung,
von einer Art dumpfen Grübelns, gekennzeichnet war."
Michel Houellebecq, Elementarteilchen

 

Zeitenwechsel. Einer der aufsehenerregendsten Romane des letzten Jahres des ausklingenden Jahrtausends war ein Zeitroman im wörtlichen Sinne. Michel Houellebecqs Les particules élémentaires erschien 1998 und wurde 1999 auf deutsch (Elementarteilchen) übersetzt. Hier wird eine Geschichte des ausgehenden 20. und des anlaufenden 21. Jahrhunderts aus der Perspektive der achtziger Jahre des 21. Jahrhunderts geschrieben: die Geschichte des Verschwindens des Menschen, nicht als Spur im epistemologischen Sand wie in Foucaults Les mots et les choses, sondern als Resultat einer genetischen Modifikation. In Houellebecqs schöner neuer Welt wird es nur noch Individuen mit identischem genetischen Code geben, was natürlich zu einer Neudefinierung von Individualität nötigt. Wichtigste Motivation dieser Mutation ist Houellebecqs Diagnose, daß Egoismus, Gewalt und Leiden der menschlichen Existenz nur durch Trennung von sexuellem Empfinden und Fortplanzungsmechanismen bekämpft werden kann. Die neuentwickelte Rasse besitzt daher sexuelle Reizzonen am ganzen Körper, pflanzt sich aber nicht auf herkömmliche Weise fort. Die Verbreitung dieser Wesen ab 2029 wurde durch den Vordenker und Protagonisten des Romans, Michel Djerzinski, und dessen Schüler Hubczejak um die Jahrtausendwende vorbereitet. Beide werden von Houellebecq als Anhänger Comtes eingeführt: Sie leiden unter dem moralischen Verfall der Gegenwart und sehen in der Gentechnik das probate Mittel, diesem abzuhelfen. Glaubt man den Wogen der Feuilletons, dann ist es Houellebecq wie Comte um eine Wiederbelebung des Konservatismus zu tun. Wie sonst die polemischen Ausfälle seiner Figuren gegen die Aufklärung, die Hippies und die sexuelle Befreiung der Frau erklären? Ebenfalls im Geiste Comtes aber fährt Houellebecq diese Barrage in der Tat nur auf, um den spätkapitalistischen Individualismus mit der Vision eines nicht-marxistischen Kommunismus zu konfrontieren. Die Exzesse des Individualismus werden polemisch den Liberalisierungen im Anschluß an '68 zugerechnet: Sie haben den Kampf aller gegen alle bis ins Unerträgliche gesteigert, anstatt für die vielbeschworene Selbstverwirklichung zu sorgen. Auch vermeintlich anti-individualistische Gegenbewegungen wie der Spiritualismus des New Age reproduzieren den aussichtslosen Kampf gegen soziale und biologische Benachteiligung. Wer hat, der hat -- sei es nun Geld oder das hinreichend gute Aussehen, um die gewünschten Sexualpartner zu binden. Alles andere zählt sowieso kaum. Das Gegenmittel wäre nichts anderes als eine auf den neuesten Stand der Wissenschaft gebrachte Form vom Comtes säkularer Religion, wie Djerzinski an einer Stelle selbst anmerkt: das Eingestehen, daß Religion nur als ritualisierte soziale Tätigkeit Einheit erzeugt, nicht aber als individuelle Suche nach Sinn und Glück. Letzteres existiert nämlich nicht, wie Djerzinskis Halbbruder Bruno -- ein sexsüchtiger Existentialist, der für sein Leben mit unterdurchschnittlichem Aussehen geschlagen ist -- erkennen muß.

Der Vollzug des Abschieds vom Individuum in den Jahren nach dem Jahrtausendwechsel erscheint im narrativen Rückblick, den das Buch bietet, als einschneidenste 'metaphysische Wandlung' seit dem Aufkommen des Christentums. Djerzinski kann aus dieser Perspektive nur als Wegbereiter der letzendlichen Entwicklung gelten, nicht als Schöpfergott der neuen Rasse. Comtes Begriff des Grand Être entsprechend gebührt die Ehre letztlich der Menschheit als Ganzer. Sie ist die erste Spezies, die es geschafft hat, sich planvoll selbst abzuschaffen und auf dem biotechnologischen Weg zu jener Einheit zu finden, die Comte durch den Kalender hatte vorbereiten wollen. Im Gegensatz zu Comte aber wird die Entwicklung auf die metaphysische Wandlung hin bei Houellebecq nicht von kollektiver Akzeptanz einer religiösen Funktion der Wissenschaft befördert. Im Gegenteil: Hubczejak, Djerzinskis Nachfolger, spielt in seinen Popularisierungen der Forschungsergebnisse die religiöse Dimension von Djerzinskis Werk explizit herunter -- genauso wie auch Comtes Spätwerk in jenen Kreisen, die den Positivismus aus methodologischen Gründen propagierten, immer nur als eine Fußnote hat gelten sollen. Allerdings ist das Auslassen der religiösen Komponente mehr ein blinder Fleck als ein taktisches Manöver. Im Rückblick stellt sich dann heraus, daß durch eben dieses Herunterspielen das durchgesetzt wurde, was Comte mit seiner offensiveren Methode und absichtsschwangeren Rhetorik weit verfehlte. Der Wolf in Dollys Schafspelz hat am Ende sauberste Arbeit geleistet und das Lamm erfolgreich ersetzt.

Elementarteilchen als Ganzes ist der Menschheit in liebevollem Andenken gewidmet. Die narrative Aufarbeitung von Djerzinskis Leben als Denkmal steht derweil in klarem Kontrast zu Comtes mnemonischem Projekt. Das Gedächtnis, welches Comtes Kalender als Motor der Transformation benutzen wollte, kommt in Houellebecqs Buch erst dann zum Zuge, als im Grunde alles vorbei ist und die letzten Exemplare der alten Spezies im Aussterben begriffen sind. Zurückgeschaut werden kann dann, wenn nichts mehr auf dem Spiel steht, wenn sich die Zeit bereits gewendet hat. Das Hinarbeiten darauf zeugt dagegen in bestem wissenschaftlichen Geiste vom (Selbst-)Vergessen. Erst retrospektiv und aus der Sicht der ent-individualisierten Nachfolgewesen der Menschheit läßt sich feststellen, daß tatsächlich eine Wandlung stattgefunden hat -- eine Wandlung zum besseren, wie eindeutig betont wird. Die Wandlung wurde allerdings nicht durch Neustrukturierung von Insitutionen oder Reorganisation kollektiver Erinnerung erreicht. Was am Ende nur heißen kann: der Gedächtnisfaktor läßt sich nicht einplanen. Erst im Nachhinein ist die 80 Jahre zurückliegende Jahrtausendwende zu jenem entscheidenden Einschnitt zu erklären, der eine Zeitenwende vorbereitete.

Ähnliche Vorsicht scheint angebracht hinsichtlich der Ergebnisse der Puzzlearbeit des internationalen Genomprojektes, die vor kurzem -- ein halbes Jahr nach der Kalenderwende -- vorgelegt und in den Medien als ein Meilenstein der Menschheitsgeschichte gefeiert wurden. Sie sind das Resultat von institutionellen Allianzen, die auf beträchtlichen Zukunftshoffnungen gründen. Ein Gutteil dieser Hoffnungen sind unverkennbar wirtschaftlicher, nicht wissenschaftlicher Art. So sehr also dieser Fleißarbeit Respekt gebührt, so wenig stellt diese zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits ein Pendant zu Houellebecqs metaphysischer Wandlung dar. Die Fertigstellung des Projekts ist erwartet worden. Im Hinblick auf die Bedeutung dieses Etappenziels ist fortgesetztes Warten angesagt. Sie läßt sich momentan weder von Experten noch von Laien einschätzen. Es kann also bislang von keiner Strategie die Rede sein, welche à la Djerzinski der Durchsetzung von Zielen diente, die bereits jetzt als praktisch unausweichlich erkannt wären. Politische und moralische Entscheidungen werden getroffen, deren Tragweite alles andere als klar ist. In den Laboratorien ticken dazu die Uhren im Takt. Vielleicht wird sich erst in einigen Jahrzehnten herausstellen, in welcher Hinsicht genau diese Zeit eine entscheidende gewesen sein wird.

 

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