Lili Grün: Alles ist Jazz

„Alles ist Jazz“ ist ein Großstadtroman aus dem Künstlermilieu der „Goldenen Zwanziger“ Jahre in Berlin. Die in Wien geborene Autorin Lili Grün verarbeitet in dieser Geschichte der Elli, so der Name ihrer Protagonistin, eigene Erfahrungen als Schauspielerin, die Namen Lili und Elli lassen sich beide vom Geburtsnamen „Elisabeth“ ableiten. Lili Grün, 1904 geboren, ist nicht alt geworden. 1942 wurde sie im weißrussischen Vernichtungslager Maly Trostinec [2] ermordet, sie war Jüdin. Sie hat keine Zeit gehabt, viel mehr Lebensspuren für ihre Nachwelt zu hinterlassen als zwei Romane und einige Gedichte, in neuerer Zeit hat vor allem Anke Heimberg, die auch ein lesenswertes Nachwort zu diesem Roman geschrieben hat, das Verdienst, die wenigen Daten, die über Lili Grün bekannt sind, gesammelt und zusammengestellt zu haben. Wer mehr über das Leben dieser jungen Dichterin erfahren möchte, kann sich hier informieren [1].

Berlin in den Zwanziger Jahren, die „Goldenen Zwanziger“ – zumindest wenn man Gold hatte oder wenigstens über Geld verfügte. Ein pulsierende Weltstadt [3] voller Kreativität, einem ausgeprägten Nachtleben, mit gelockerten Sitten [4] mit viel Glanz also – aber auch erheblichem Schatten. Und in diesen Schattenbezirken finden wir Elli und ihre Freunde…

Elli ist Schauspielerin aus tiefster Seele heraus. Aber ohne Engagement. Sie hat in Wien einen Brotberuf gelernt, hat dann die Mutter, die sie so sehr liebte und deren schützende Hände sie heute noch vermisst, früh verloren. In Wien sind es Tausende von SchauspielerInnen, die keine Anstellung haben, so geht Elli nach Berlin, aber dort ist es nicht besser, die Wirtschaftskrise setzt auch hier den Menschen zu, läßt sie weniger ins Theater gehen und die Engagements sind rar. Wobei es weniger eine Sache des Talents ist (es stört jedenfalls nicht), ob man eine Rolle bekommt, sondern eher eine, zur richtigen Zeit am richtigen Ort den richtigen Mann zu treffen…

Elli ist jung, 21 Jahre alt. Sagt sie, sie wäre 19, bekommt sie zur Antwort, sie sähe viel jünger aus. Robert, auf dessen Schoß sie sitzt, um dessen Hals sie ihre Ärmchen schlingt, auf dessen Lippen sie die ihrigen drückt, sieht sie für 14 an oder 15… sie isst nicht viel, woher auch, das Geld dafür fehlt, eine Suppe am Tag muss reichen, der ewige Salat mit Bockwurst hängt ihr zum Hals heraus… und ist mal Geld da, weil Hoffmann ihr wieder mal 20 Euro zugesteckt hat, lauert schon die Wirtin auf ihre Miete. Vor Robert liebte sie in Wien den Henrik, drei Jahre war sie mit ihm zusammen, bevor er sie so enttäuschte und sie ihn verließ. Robert traf sie dann in Berlin und redete ihn an und er war so blond und stark und sie redeten so gut miteinander und Robert schob sie dann in seinen Stundenplan ein, er war schließlich Student und musste lernen, zweimal die Woche hatte er Zeit für seine Elli, die ihn so liebte (ihn zu lieben vermeinte) und die er auch so lieb hatte…

Elli war nicht allein. In den traurigen Zimmern, in den Absteigen, in denen sie und ihre Schicksalsgefährtinnen lebten, hielt man es nicht aus und man ging hinaus und traf sich z.B. im Romanischen Café [5], hockte stundenlang zusammen, trank Kaffee und rauchte und träumte… Reichte das Geld mal wieder nicht für das „Romanische Café“ ging man eben in die „Lunte“ in der Rankestraße [8] ….. und dann kam Hullo mit dieser Idee, ein Kabarett zu gründen, es Jazz zu nennen, weil Jazz, diese neue, aus Amerika herüberschwappende Musik rhythmisch ist, den Puls der Zeit verkörpert und einfach alles „Jazz“ ist…. [6]. Es ist ein Kollektiv, das sich da zusammentut, arbeitslose, mittellose Künstler, die voller Ideen, voller Energie daran gehen, ihr Projekt auf die Beine zu stellen….

Das Premierenprogramm wird ein Erfolg, die Presse berichtet wohlwollend und positiv, doch schon tauchen Schatten am Horizont auf. Hedwig, die die melancholischen Texte („Ich hatte einen Bräutigam, der war so jung und schön/doch als er 18 war, musst´ er zum Sterben geh´n“) so mitreissend vortragen konnte, erkrankte, musste der Lunge wegen in ein Krankenhaus [7], sie stirbt dort, einsam und so alt aussehend, wie sie keine Chance hatte, zu werden. In dem wenigen, das sie hinterläßt, ist keine Adresse eines Menschen zu finden, der zu benachrichtigen wäre…. im Kabarett bleiben die Zuschauer aus, es werden immer weniger, wer geht schon bei heißem Sommerwetter ins Kabarett und regnet es mal, ist der Regen gleich zu heftig…

Hullo treibt für Elli ein kleines Engagement in der „Sternenbar“ auf, einem Treffpunkt für Lesben. Es ist seltsam für Elli, dort aufzutreten, anfangs, aber Maria, die dort als Eintänzerin arbeitet, tanzt gut, sie führt und lächelt und lacht Elli an…. es ist ein gutes Gefühl, das sich da einstellt…

Geldsorgen sind omnipräsent und mit den Geldsorgen auch der Hunger. Zwar hat Elli eine Empfehlung von Dr. König, dem berühmten Regisseur, doch was machen, wenn sie den Produzenten nie antrifft. Empfehlungen altern und werden irgendwann unbrauchbar… Robertsorgen auch, denn Robert vergnügt sich auch anderswo, aber tut dieser Gedanke überhaupt weh?

Das Kabarett muss schließen, die letzten (und einzigen) zwei Gäste werden hinauskomplimentiert, das Kollektiv feiert mit dem Mut der Verzweiflung und Elli hat vor, vernünftig zu werden und sitzt auf dem Schoß von Hullo, der sie, das spürt sie, lieb hat und Elli trinkt, trinkt zuviel, mit fiebrigen Augen überdreht sie und sie will doch vernünftig sein, dieser Dr. Popper ist zwar dick, aber er hat Geld und da sie ihn nicht liebt, könnte sie doch.. so redet ihr die rational denkende Suse zu…. jetzt nach Robert und Henrik und was ist das für ein Leben, was ist das für ein Leben, das sich jetzt zu drehen scheint und das Fenster so nah, kaum noch Kraft, vom Fenster, vom verlockenden Fenster weg und ins Bett zu gehen…. Trost, Wärme, etwas wie Heimat bräuchte sie jetzt, braucht sie jetzt in ihrem Tränensee… die Briefe aus Wien werden es für sie, wieder einmal, die Zeilen von Hannah, ihrer Freundin, die alles für sie tun würde…

Der Roman endet dann etwas abrupt, aber versöhnlich. Es geht weiter für Elli mit einem Sommerengagement, sie hat eine Chance.. im Gegensatz zu ihrer Autorin, die hatte keine….

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Alles ist Jazz“ ist ein flotter Roman mit vielen Dialogen voller Rhythmus und Tempo, er ist im Esprit der Zeit geschrieben und nimmt bei aller Kurzweil die Zeitläufte auf: das Elend der Künstler, die sich ohne Engagement durchhungern müssen, deren Karriere von Zufällen abhängig ist (Elli sieht eines Tages, daß eine ihrer Mitschülerinnen in einem Ufa-Film auftritt.. genausogut hätte sie es sein können…), ein Elend, das töten kann, denn die Tuberkulose ist keineswegs die etherische Krankheit der schöngeistigen Literatur, die die Menschen zauberbergoid romantisch dahinschwinden läßt, nein, sie ist eine Krankheit der Armut, des Hungers, der hygienischen Verhältnisse… Berlin, die pulsierende Weltstadt, relativ liberal zu diesen Zeiten (die sich bald ändern sollten), die aufkommende Emanzipation der Frau (es ist Elli, die Robert anspricht…) und die Vorstellung der Ehe als gleichberechtigte Partnerschaft (die Robert nun keineswegs bedient, für ihn ist Elli eher wie ein Spielzeug, das zweimal die Woche aus dem Regal genommen wird. Um die Bedürfnisse Ellis kümmert er sich nicht….), die zumindest stillschweigende gesellschaftliche Duldung homoerotischer Neigungen (die hier in der „Sternenbar“ ausgelebt werden können und die Elli nach anfänglichem Scheuen offenbar als denkbar erscheinen) – das alles spiegelt sich in dem Roman wieder. Was seltsamerweise garnicht auftaucht, ist das am Horizont lauernde Gespenst des Nationalsozialismus, der „Völkische Beobachter“ erschien immerhin 1929 zum ersten Mal in Berlin.

Das interessante Nachwort von A. Heimberg rundet diesen Roman ab, Heimberg geht hierin auf die Biographie Lili Grüns ein, die ihre eigenen Erfahrungen als junge, arbeitslose Schauspielerin in Berlin in dieser Geschichte eingebracht hat und erzählt auch die kurze Geschichte des realen Kabaretts „Die Brücke“ in Berlin, in dem Grün seinerzeit auftrat (u.a. mit Erik Ode, dem späteren Kommissar….).

Ein schöner Roman, den Anke Heimberg aus dem Vergessen wieder hervorgeholt hat. Denn das Vergessenwerden hatte diese Frau, deren Leben von Enthusiasmus, aber auch von Armut und Krankheit gezeichnet war und die aus dem Zeitenwahn heraus ermordet wurde, nicht verdient.

Links und Anmerkungen:

[1] zur Person Lili (Elisabeth) Grüns:
– Wiki-Artikel: http://de.wikipedia.org/wiki/Lili_Grün
– Dagmar Buchta: Lili Grün, verkannt und ermordet, http://diestandard.at/1271377380017/Portraet-mit-Buchtipp-Lili-Gruen-verkannt-und-ermordet
– Anke Heimberg: Lili Grün; http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/lili-gruen/
– saetzebirgit: Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (7): Lili Grün – neusachlich und lebenslustig; http://saetzeundschaetze.com/2014/02/21/judische-lyrikerinnen-im-portrait-7-lili-grun-neusachlich-und-lebenslustig/
[2] Das Lager Maly Trostinec lag in der Nähe der weisrussischen Stadt Minsk, dessen Ghettobewohner dort liquidiert wurden. Infos  zum Vernichtungslager Maly Trostinez:
– Wiki-Artikel: http://de.wikipedia.org/wiki/Vernichtungslager_Maly_Trostinez
– auf deathcamps.org: http://www.deathcamps.org/occupation/maly%20trostinec_de.html
– Rena Jacob: Vernichtungsstätte ✡ Maly Trostinec; http://sunday-news.wider-des-vergessens.de/?p=3946
– Bilder aus dem Lager: http://www.floerken.eu/tdfns2/bilder/maly2.htm
[3] Bilder aus dem Berlin zwischen 1900 und 1933 auf pinterest: http://www.pinterest.com/strollology/berlin-1900-1933/
[4] .. das sich z.B. noch heute mit diesem Führer nachvollziehen läßt:
Weka [d. i. Willi Pröger], Stätten der Berliner Prostitution, Eine Reportage, Berlin, Auffenberg Verlagsgesellschaft, 1930: http://library.mpib-berlin.mpg.de/toc/z2010_4.pdf
Der Text basiert auf einer Artikelserie, die im “Berlin am Morgen” veröffentlicht wurde und auf große Resonanz stieß. Die Beiträge geben einen umfassenden Einblick in die Orte und Zustände im Prostitutions- und Zuhältermilieu Berlins Ende der 1920er Jahre und sollten auf die herrschenden sozialen und gesundheitlichen Missstände aufmerksam machen.
[5] Wiki-Artikel zum Romanischen Café: http://de.wikipedia.org/wiki/Romanisches_Café
und heute: http://www.waldorfastoriaberlin.com/deu/Restaurants-Lounges/Romanisches-Cafe
[6] Das wirkliche Kabarett, in dem die Autorin Lili Grün selbst aufgetreten ist, war „Die Brücke“. Hierzu schreibt Heimberg in ihrem Nachwort einiges….
[7]Hedwig ist nicht die Kameliendame. Es ist nicht poetisch, in einem langen, freudlosen Spitalsaal zu liegen, zwischen hustenden, spuckenden Menschen. Es ist nicht die Krankheit, die Elli aus der Literatur kennt, es ist eine arme, arme Proletarierkrankheit, es ist ein häßliches Siechtum. … Auf den Gesichtern steht mit großen Buchstaben: Elend, Hunger, ewige Entbehrungen. …“ Gedanken über die Tuberkulose, die Jahrzehnte später Susan Sontag in ihrem Essay „Die Krankheit als Metapher“ in großer Tiefe analysieren sollte (vgl. z.B. hier: Thomas Anz: Krebs und andere Krankheiten als Metapher: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=7945). Elli Grün war selbst auch lungenkrank…
[8] siehe dazu auch diese Buchrezension von Christian Schröder: Hauptstadt der Plänemacher, http://www.tagesspiegel.de/kultur/berliner-kultur-hauptstadt-der-plaenemacher/4036556.html, der die entsprechenden Lokalitäten benennt.

Lili Grün
Alles ist Jazz
mit einem Nachwort von Anke Heimberg
Erstveröffentlichung unter „Herz über Bord“, Wien, 1933
diese Ausgabe: Aviva, HC, ca. 214 S., 2011

10 Kommentare zu „Lili Grün: Alles ist Jazz

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