Gerald Hartwig: Chamäleon

Graphic Novel

Luftschacht Verlag
Wien 2013

Wie sich später herausstellte, kannte ich den Vater des Künstlers recht gut, aber es war absoluter Zufall, dass ich auf der Suche nach jemand anderem in jenen Ausstellungsraum des Literaturhauses hineinplatzte, wo Gerald Hartwig gerade die Original-Blätter seiner frisch erschienenen Graphic Novel aufhängte. Da ich nun einmal drin war, schaute ich mir die vielen Zeichnungen genauer an und glaubte auf einer Heinz Hartwig zu erkennen, was mir der zunächst irritierte Künstler mit dem Satz „Das ist mein Vater“ bestätigte. Danach ging alles schnell, vorstellen, Hände schütteln, plaudern, Buch bestellen, ein Blatt ankaufen (ohne den Preis zu kennen) und die gemeinsamen Freunde in Berlin aufzählen.

Nun ja, der erste Absatz dieser Rezension könnte eigentlich auch als Teil einer Graphic Novel gezeichnet werden. Triviale Geschichten mit viel Sex an der Grenze zur Pornografie, das ist eine Kunstform, die authentisch und unterhaltsam ist, was nicht von allen zeitgenössischen Ausdrucksformen gesagt werden kann. Ich habe deshalb auch gleich das Original jener Sexszene käuflich erworben, die im Buch mit dem spärlichen Text “JAAA FICK…” über die Doppelseite 62/63 läuft, der erst auf Seite 64 mit “… MICH” und fünf Rufzeichen abgschlossen wird. Aber keine Sorge, es geht in “Chamäleon” um weit mehr als nur um Sex. Unser Held, jetzt Ende 30, lebt in Berlin als sein Vater stirbt. Daraufhin erinnert er sich seiner Reise nach (wohin sonst?) Los Angeles um ins Filmgeschäft einzusteigen und erlebt in zehn Jahren, die er dort lebt und studiert, zahlreiche Abenteuer, die Gerald (Jerry) Hartwig sorgfältig in Federzeichnungen illustriert und sparsam mit Worten ausgeschmückt. Die Homepage des Künstlers – www.zeichenstrich.de – ist eine gelungene Visitenkarte.

Der Luftschacht Verlag hat sich des Erstlings das 1973 in Graz geborenen Gerald Hartwig liebevoll angenommen und ein schönes, aufrichtiges, freches, 264 Seiten dickes Buch aus dem “Chamäleon” gemacht, das man zwar zunächst am Klo liest, es aber dennoch zur Literatur ins Bücherregal stellt.

Gerald Ganglbauer

Petra Ganglbauer: Ringhörig

Lyrik der Gegenwart

Edition Art Science
Wien 2013

CoverDass Landschaft etwas mit seinem Bewohner, seiner Bewohnerin macht, zeigt der neue Lyrikband von Petra Ganglbauer. In „Ringhörig“ sammelt sich Lyrik, welche aufgrund eines HALMA Stipendiums in Irland und Bulgarien (2010) sowie eines Aufenthalts in Sizilien (2012) entstanden ist. „Ringhörig“, hellhörig, ringhörig/hellhörig zu sein, ist Programm in diesem Band: Analog zu Ringvorlesungen an Universitäten, an denen sich verschiedene Dozenten verschiedener Fachbereiche zu einem bestimmten Thema äußern, erhalten hier verschiedene Landschaften durch eine einzige Autorin ihre Ausdrucksmöglichkeit. Durch das ringförmige Aneinanderreihen der poetischen Weltspiegelungen entsteht die Möglichkeit, der Vielfalt der entstehenden Eindrücke in kreisender Beobachtung näher zu kommen. Es entwickelt sich sozusagen eine Stimmenversammlung (wobei die inneren und äußeren, vielleicht auch die feinstofflichen, sowie auch die gegenwärtigen und vergangenen Stimmen gemeint sind) zu einem bestimmten Themenkomplex. Das Subjekt, in verschiedene Landschaften gestellt, nimmt den Ton der jeweiligen Umgebung auf, lässt die Eindrücke einwirken, um sie – in Sprache übersetzt – auszuloten und den gewonnen Eindruck poetisch zu formulieren.

Das Buch besteht aus drei Zyklen. Die Irland-Gedichte „ALL IRELAND DANCING FEET“ evozieren Wildheit und Auflösung in einem: Von gefetztem Glück (9) ist die Rede, von scharfer Luft, blindem Schlittern (15) und springenden Sätzen (22) zum einen, zum anderen begegnet uns die wässrige Inselauflösung im zerregneten Gesichtersims (9), im Mond, in dessen Wasser gelesen wird (16), die Autorin schreibt von der Ichfernen Zone und thematisiert Schreiben und Sprachsetzung als Forsten, Suchen und bis an die Grenze gehen (20, 21, 22) bis zum Durchstich.

Mit „Steinerner Subtext“ ist der Bulgarien-Zyklus übertitelt, Wortsetzungen werden zu unverrückbaren Sprachbildern, die mit/in dieser anderen Landschaft eine neue Dynamik entwickeln, fern der wasserluftigen Inselvermessung der vorangehenden Lyrik-Kontemplation.

Fünf Gedichte beinhaltet das sizilianische Kapitel „Katastrophales Vergessen“. Ohne zu benennen, dominiert der Aetna, die Kraft seiner Lavamassen: „Die Leidenschaft drängt den/Berggeschmack ins Meer:/ Heiße Fußnoten umspült und verdeckt/…“ (82), der Schrecken, das Erschrecken, das der Insel innewohnt. Ein katastrophales Vergessen, das der Vulkan mit seinem Aschengeheimnis bereitet hat (82). Es wäre auch ein katastrophales Vergessen, auf diese früheren Katastrophen, die unweigerlich als Drohung in die Zukunft reichen, zu vergessen. Die Kraft des Berges schlägt sich nieder im Wort, rast in das Sprachbild, die Sprache erhält eine Eigendynamik, wird Poesiefluss, „Blitzzeichen, Kapazunder und springende Disteln“ (84). Erinnerung an eine Urweltkulisse wird evoziert.

Petra Ganglbauer lotet den Wirkungskreis der Sprache im Spiegel der Natur, der Elemente, des Wassers – und wie im letzten Zyklus – des Feuers aus und versucht, eine andere Sprache zu finden, um herkömmlichen Beschreibungen zu entgehen. Dadurch entsteht ein Energiefeld, das Raum lässt für die Beziehung von inner- und außersprachlicher Wirklichkeit, von existenziellen und innerseelischen Prozessen. Petra Ganglbauers Lyrik ist ringhörig, die hellhörig macht: Ein Kreisen um den innersten Kern der Sprache, ja um Existenz überhaupt. Lyrik, die in Erinnerung bleibt.
Gewidmet hat die Autorin diesen Gedichtband all jenen, die sie bis jetzt begleitet und in ihrer Arbeit unterstützt haben – ringhörig auch dies.

Erika Kronabitter

Günter Vallaster: Am Sims

Edition Art Science
Wien-St. Wolfgang 2013

Eine gelungene, kurzweilige und äußerst achtsam zusammengestellte „Werkschau“ ist das vorliegende jüngste Buch des Autors und Herausgebers Günter Vallaster. Was wir darin finden ist konzeptuelle und visuelle Poesie in ihrer feinsten Art.

Neben seriellen Arbeiten, wie sie die poetisch aufgeladenen, zündelnden Socken-Miniaturen verkörpern – Insidern noch gut bekannt von einer performativen Wiener Sommerlesung – finden sich visuell poetische und äußerst ästhetische, buchstäblich ziselierte Umsetzungen des Alphabets. Oder die Bildgeschichte „EINE WELT VOLLER ANGST“, – Text auf Deutsch, Russisch und Englisch mit beeindruckenden Zeichnungen: eine Zusammenschau, die ihr nachhaltiges Echo zurück lässt.
Der Autor hat für die Umsetzung dieses Buchs die ungarische Künstlerin Andrea Zámbori (Bilder) sowie die beiden Übersetzer/innen (ins Russische) Juliana V. Kaminskaja und (ins Englische) Mark Kanak hinzugezogen.

Metaphorisch etwa mutet „AM RANDE EINES“ (sapphisch) an und erweitert den gattungsspezifischen Radius der Arbeit des Autors. Auch dieser „Gesang“ ist übersetzt, diesmal ins Englische; wie überhaupt eine, über die Arbeiten hinausreichende, zusätzliche Qualität in diesem Buch ins Treffen geführt wird, nämlich jene der Vielsprachigkeit. Polylog, auch ein Begriff, den man aus dem Arbeitskontext Günter Vallasters kennt!

Ein wohldurchdacht gemachtes, schönes und empfehlenswertes Buch!

Petra Ganglbauer

Valerie Fritsch: Die Welt ist meine Innerei

Reisebriefe und Bilder

Septime Verlag
Wien 2013

Wenn man die Autorin auf der Lesebühne erlebt, ruft man sich einen Film von Wim Wenders in Erinnerung: „Bis ans Ende der Welt“ und gelangt geradewegs in die Traumzeit der australischen Aborigines. Die Filmmusik müsste dann allerdings von Soap&Skin (wie Fritsch eine junge Grazerin) sein. Ich höre gerade ihr „Voyage Voyage“ und darin liegt dieselbe jugendliche Wehmut, die man in den überlangen Pausen der Autorin zwischen den Zeilen zu spüren glaubt.

Die Lesung hat mich umso neugieriger auf das Buch gemacht, scheint diese junge Reisende sich doch auf jenen Wegen bewegt zu haben, die ich selbst 30 Jahre zuvor vorausgegangen bin (und immer noch bereise). Als Fritsch geboren wurde, hatte ich Graz schon verlassen. Zwar haben sich unsere Pfade nie gekreuzt, aber alle Orte sind irgendwie austauschbar, topografisch nicht von Bedeutung. Das sind vielmehr die Gefühle der Reisenden, vor allem jene Sehnsucht nach dem fernen Geliebten. Denn ihm schreibt sie diese Reisebriefe.

Das Buch ist kein Reiseführer, sondern ein literarischer Text, den 80 Fotografien illustrieren, die Fritsch auf ihren Fahrten aufgenommen hat. Man könnte auch sagen, sie hätte diese Bilder zu sich genommen, mehr oder weniger verdaut, in ihre Innerei.

Diese Welt in ihr hat sich durch das Herausschreiben in jene Worte geformt, die ein Buch ergeben, das der ebenso junge wie engagierte Septime Verlag einen Roman nennt. Was auch immer die passende Schublade sein mag, es ist ein schönes Buch geworden, für das dem Verlag und der Autorin zu danken ist.

Gerald Ganglbauer

Julian Schutting: Die Liebe eines Dichters

Jung und Jung Verlag
Salzburg 2012

Die Nachschrift zu seinem „Liebes-Nichtroman“, so sagt es der Erzähler, soll Platz finden in „gleich kleinen Schreibblöcken“. Als Vorbild schwebe ihm ein Aquarellist vor, der täglich, etwa zur gleichen Stunde, Wolkenstimmungen festhält. Nicht ein einziges Blatt solle, für untauglich befunden, aus dem Heft herausgerissen werden. Gröbere Korrekturen versagt sich der Erzähler in Julian Schuttings Liebesjahresbuch „Die Liebe eines Dichters“. Allenfalls der Minenabrieb des zum Schreibutensil bestimmten Bleistifts dürfe „heimlich wegradiert“ werden.

Eine solche Schrift wie die von Schutting als dem Chronisten einer großen, unwandelbaren Liebe in Aussicht gestellte darf nicht allein als eine auf Papier verzeichnete angesehen werden. Ihr eigentliches Trägermedium ist die Liebe selbst: der Überlieferung zufolge der flüchtigste aller Stoffe, der im Sog des bipolaren Geschehens die Gegenstände umfließt, ihren Eigensinn bricht und sie in das Feld der Liebesbedeutung eingliedert.

Erst die Übermacht der Liebe, die Erfahrung einer Unbedingtheit, die sich um die schnöde Frage nach „Erfüllung“ gar nicht schert, erzeugt jenen Sog, der das Geschäft der Dichtung als Beziehungsmitschrift über Jahre hin rechtfertigt (in dem Buch sind es deren sechs). Und manchmal, wenn die Liebe alle Begriffe übersteigt, klammert sie sich an Erscheinungen, die ihrem Drängen Halt verleihen. In Julian Schuttings Prosabuch ist es das Ave- oder Angelusläuten, das dem Autor den Weg zur Geliebten weist. Während die Kirche im 19. Wiener Gemeindebezirk die Glocken in Schwung hält, eilt der Erzähler los, um an der Haustür des begehrten Wesens zu klingeln.

Im Medium der Schrift werden die Orte der Begegnung verzeichnet: jene kostbaren Gelegenheiten, deren Verpassen mitunter reines Glück bedeutet. Schutting ist der große Dichter des Minnens, nicht des Meinens. Er ist der Erzeuger einer Intimität, die sich in Zeiten von „YouPorn“ und Web-Dating zu nichts gebrauchen lässt, weil in ihr die merkwürdige Dialektik von Fernsicht und Nahgefühl zugunsten der Schrift und der Dichtung synthetisiert wird. Es versteht sich beinahe von selbst, dass in diesem delikaten Erzählkosmos jeder Voyeurismus flach fällt. Die huldigende, hohe Minne bleibt im postheroischen Zeitalter auf den Alltag verwiesen. Sie ist ein saures Geschäft, weil sie auf keine Meriten hoffen darf.

Wer sich heutzutage von Liebesgefühlen stressiert fühlt, sieht sich allenfalls auf die Segnungen der Paartherapie verwiesen – wobei die Pointe vielleicht darin liegt, endlich jemanden gefunden zu haben, der einen händchenhaltend in die Arztpraxis begleitet. Den Liebenden in unseren Breiten wird, mit Rücksicht auf das in mittlere Gemütslagen zu investierende Seelenkapital, bestenfalls ein vorläufiges Gelingen attestiert. Auf dergleichen Einschränkungen darf in Schuttings Liebesbüchern verzichtet werden. Die geliebte Person, mit der er, der Erzähler, die Vorliebe für Botanik teilt, für die klassische Musik, für ausgedehnte Wanderungen im Weichbild von Wien, ist ihm als Phantasma das selbstverständlichste Rätsel auf der Welt. Und je genauer sich der Autor in den Lobpreis ihrer Vorzüge vertieft, desto rätsel-, auch spukhafter erscheint ihm die „adoratio“. Beschwerlich ist die Liebe eines Dichters sowieso.

Indem aber das erzählende Ich unter vernehmlichem Zähneknirschen die Hoffnung auf Erfüllung preisgibt, eröffnet sich ihm erst das Reich poetischer Freiheit. Das Wort „Sublimierung“ kommt ihm zwar nicht über die Lippen; aber die handfeste Liebe achtet er darum nicht gering: „Die hohe Minne ist das Artefakt. Die niedere Minne, das ist das Bauernmädel.“

Zuletzt noch ein Hinweis mit Blick auf dieses große, großartige, bestürzend unzeitgemäße Buch. In seinem Dialogtext „Aufhellungen“ aus 1990 hatte Schutting das Lieben unmittelbar an ein Gegenüber adressiert – halb war es die unwandelbare Geliebte, halb die Wandelbarkeit der Sprache selbst, die er anrief. „Nun aber sei dir / längst Verschattetes und Verblasstes / in mir zu einer Erhellung / zusammengeflossen der Liebe …“, schrieb er da – damit „die nicht für immer entschwundene Liebe / zu einem Bild ihrer selbst sich entwickle (…)“. Die Wahlverwandtschaften sucht man sich, entgegen dem Klischee, nicht aus – das wusste schon der Liebesphysiker Goethe. Aber Schutting hat den Zusammenhang ins Richtige verkehrt. Während in Goethes „Wahlverwandtschaften“ die einander ehelich Umarmenden während des Liebesaktes jeweils einen verbotenen Dritten im Sinn haben, was zu Schlamassel und großem Unglück führt, da weiß der Wiener Dichter die Promiskuität andernorts wirksam – in der Sprache nämlich. „… anders als die, welche heimlich / an einen Hauptmann, an eine Ottilie denken,“ schreibt er, „sind wir wir selber geblieben / und haben, / wach fremde Wunsch- und Angstbilder teilend, / immer nur uns beide gemeint …“.

Es ist diese Idee der Teilhabe, die den Kosmos des Dichterischen öffnet. Was für ein Glück, dass Julian Schutting ihn, indem er ihn für uns erkundet, mit uns teilt.

Ronald Pohl

Gerhard Jaschke: NOCH mehr WELTBUDE

Abwesend anwesend –
Anwesend abwesend.

Sonderzahl Verlag
Wien 2012

Texte über das Menschsein, Krankheiten, Erfolg und Erfolglosigkeit, über die Medienberichterstattung, den Kunst- und Literaturbetrieb, Gerhard Jaschke hält uns mit seinem jüngsten Buch ganz nahe am Erleben.

Das Buch ist ausnehmend zündend, ein temperamentvolles literarisches Protokoll, das atmet und aus den unterschiedlichsten Genres und Strukturen besteht.
Lyrische Passagen wechseln mit Reden oder Tagebuchaufzeichnungen ab, verschiedene Zugänge in der Wahl der Erzählperspektive erzeugen Nähe Distanz zu den Inhalten; Sprachspiel und theoretische Überlegungen kommen auch nicht zu kurz!

Polemisierend wirken viele der Texte im Hinblick auf zeitgeistige Tendenzen („im kindergarten akademie“), und wieder sprechen Stimmen (Zitate) herein, so dass dieses Buch sich auch eingebunden wissen will in den Teppich aus literarischen Strömungen und Stimmen.

Ein reichhaltiges Zeitzeugnis!

Petra Ganglbauer

Ilse Kilic: Buch über viel

Ritter Verlag
Klagenfurt-Wien 2011

Viele „Paralleluniversen“ finden sich in Ilse Kilics neuestem Buch, Alter Egos, Verweise, Zitate, Systeme, Regelwerke, Kontexte.
Die Autorin besinnt sich auf manche ihrer literarischen Wurzeln und zeigt wieder einmal spritzige grammatikalische Besonderheiten auf.
Immer wieder verknüpft die Autorin Wissenschaft und Kunst miteinander, Leben und Fiktion.

Das Buch enthält ein weiteres, ein 52 Tage-Buch, einen Brückenschlag von der Zahl zum Wort, vom Erzählen zum Zählen, Listen, Minidrama, Gedichte, Liedgut. Die Ordnungsprinzipien der Sprache, also des Lebens, aber auch der Mathematik fanden Einzug in dieses polyphone, ganzkörperliche Buch, das einen nicht so schnell entlässt. Einmal eingetaucht in das mitteilsame Werk von Leiden und Leben, von Kindsein und Erwachsenwerden, vom Träumen und vom Alltag, findet man sich mehr als gerne zurecht und möchte nicht mehr zum Alltagsmedium Sprache zurückkehren.

Es fällt schwer, zuzulassen, dass dieses Buch ein Ende hat, aber jenseits von „VIEL“ findet sich ja alles Andere; und wie schreibt Ilse Kilic so treffend?

„Danke schön, es war
bezaubernd nett
(nochmal noch mal!)“

Petra Ganglbauer

Klaus Ebner: Dort und anderswo

Essays

Mitter Verlag
Wels 2011

Klaus Ebner unternimmt einen großen Exkurs in seinem Essayband, dessen Themen vom künstlerisch-schöpferischen Prozess des Übersetzens (DIE KUNST IST DER ANFANG) bis hin zu sagenhaften mythologischen, mythospoetischen Bezügen (VON DER LEGENDE ZUR MODERNITÄT) reichen.

Der Autor durchmisst Gegenwart und Geschichte gleichermaßen präzise, seine Essays sind voll kulinarischer Details, selbst das Bekannte gewinnt in diesen, mit der ganzen Welten-Fülle ausgestatteten Texten an Lebenskraft, etwa die Markt-Passage in dem Essay DIE STADT UND DAS MEER.

Ebner ist ein „Poeta doctus“; er ist mehrerer Sprachen kundig.
Er würzt das zahlreich Faktische leichtfüßig mit detaillierten persönlichen Erlebnissen.

Der topografische Radius ist weit gefasst, sein besonderes Augenmerk legt der Autor jedoch auf die katalanischen Länder, zu welchen er eine besondere Beziehung hat.

Petra Ganglbauer

Petra Ganglbauer: Permafrost

Prosa

mitter verlag
Wels 2011

Zum ersten Teil des Buches, DIE RÜCKSEITE:

Die irdische Zivilisation pflanzt sich wie ein Krebsgeschwür weiter fort, das Geschäft geht weiter, und alles kann im Cyberraum erlebt und simuliert werden; wir selbst sind vielleicht nur eine Simulation – und der Untergang wird probeweise und widersprüchlich ins Bewusstsein gespült: Fragmente einer Katastrophe, über weite Strecken ein flackerndes Bewusstsein und eine merkwürdige Blase der Sicherheit, in der es keine Krankheiten, keine Feinde, keinen endgültigen Verlust gibt, sondern den Widerschein des Schreckens. Es gibt hier kein Gefühl von Rettung; vielmehr das Empfinden, dass die Apokalypse jederzeit durch die geschlossene Tür hindurch ins Haus dringt, gefiltert zwar, Widerspiegelung einer Widerspiegelung. Wer ist der „Master oft Desaster“? Vielleicht ist es Plato, der die Täuschung vernichtet, indem er in der trostlosen Höhle das Licht anknipst. Vielleicht aber sind wir Teil einer unbekannten Sprache, deren Programmierung fehlgeleitet ist. Der Text scheint ein Umlernprozess zu sein, streckenweise falsch oder gefälscht, eine vorläufige Abmachung. („Unser Text erweist sich als falsche Fährte“ S. 62).

Eben lese ich die Bücher von Maurice Blanchot und Jean-Luc Nancy über die „entwerkte Gemeinschaft“ und die „uneingestehbare Gemeinschaft“. Der vorliegende Text von Petra Ganglbauer buchstabiert die „Durchsprache“ (S. 58), aber nicht durch Nacht zum Licht führt der Weg, sondern durch Licht zur Nacht, wobei die Autorin punktgenaue Sätze findet („Wir sind andere Nöte. Andere Filme“). Der Text kündet mit seinem permanenten WIR davon, dass wir ein Schicksal haben, deshalb natürlich, weil das Desaster alle betrifft; die Gemeinschaft gibt es, aber es ist die Gemeinschaft derer, die von allen guten Geistern verlassen sind.

Zum zweiten Teil des Buches, DIE VORDERSEITE:

Vorderseite und Rückseite, das erinnert an eine Münze oder an ein Buch; das eine kann nicht ohne das andere sein. Als Leser habe ich das Gefühl, dass im 1. Teil das Blut stockt, im 2. Teil schießt es wieder ein, das Leben bekommt Farbe. Die Katastrophe übt Zwang aus, aber die Natur, die Sicherheit gibt, spendet die Freiheit, wahrzunehmen und die eigene Phantasie in Bewegung zu setzen. Das Ich (denn in der 1. Person sind diese Passagen geschrieben), schafft die Konsistenz, es leitet aus den Sinneswahrnehmungen eine innere Logik ab, die belebt. Das Wetter, die Berge, die gesamte Vegetation, Sonne und Mond, sie alle sprechen zu diesem Ich. In einem Ambiente von Fragen und Antworten keimt Hoffnung auf. Die Erzählerin hat sich in die Natur zurückgezogen. Angekündigt wird hier „…das täglich Kleine. Und Kind.“ (S. 77). Schon daraus lässt sich die Reduktion oder heilsame Regression ableiten, die hier vorherrschend ist. Das ist folgerichtig, denn nach der großen Zerstörung beginnt „das Menschlein“ (es ist im 1. Teil eingeführt worden) wieder von vorne, das Leben beginnt neu. Es ist das Staunen des Kindes UND des Erwachsenen, was einnehmend wirkt; jedenfalls hat es mich als Leser gebannt. Gibt es einen schöneren Satz als den? „Aber der Wald, und wenn er nur aus Bäumen besteht, ist die große Höhe der Seele.“ (S. 83). Perzeption und Apperzeption schaffen den Raum für die Seele, die Betrachterin der Welt stellt eine dialogische Beziehung her; nicht nur sie betrachtet die Welt, sie lässt sich von den Dingen betrachten und ansprechen. Manchmal wird die Natur anthropomorph gedeutet, man kann es als Erwachsenenspiel auffassen, oder als Teil einer heilsamen Regression. Das Hässliche, Abstoßende, Angst Machende, Bedrohliche, Unauflösliche hat hier keinen Platz; trotzdem sind die einzelnen Absätze keine Idyllen. Die Erzählerin ist als Person im Zentrum, ohne andere irgendwie zu verdrängen oder sich wichtig zu machen. Und es gibt die Andeutungen einer Beziehungsgeschichte; sie sind geheimnisvoll, sie sollen so bleiben, sie entstammen dem Geheimnis der Beziehung. Sicher hat die Autorin einen eigenen Zugang zu Wittgensteins Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Während im 1. Teil des Buches der Sprachverlust die Katastrophe anzeigt: „Die Sprache entgleitet, alles was ist, ist unverständlich.“- „Alles weg und verloren. Die Sätze, Gesichter der Sprache.“, ist im 2. Teil der Sprachverlust anderer Art: „Ich weiß nichts mehr zu benennen, weil alles ist wie es ist. / Mit den gelöschten Namen schwindet jegliches Vergessen. / Ist alles Existenz.“ Die Rede ist von einem erfüllten Schweigen.

„Permafrost“ ist also kein Bericht von Anfang und Ende, sondern umgekehrt, vom antizipierten Ende und einem immer möglichen Neubeginn.

Gerwalt Brandl