Barbara Rieger: Friss oder stirb

Roman

Kremayr & Scheriau
Wien 2020

Souverän und mit unnachahmlicher Kraft nähert sich Barbara Rieger, die mit „Bis ans Ende, Marie“ erfolgreich debütierte, den Themen Magersucht und Bulimie.

Schon der Einstieg in das formal gelungen aufbereitete Buch erzeugt einen regelrechten Sog, indem er schon zu Beginn aus der „Zukunft“ (Gegenwart) gesehen, jene Entwicklung zusammenführt, die schließlich das ganze Buch umfasst, bis Anna am Ende des Romans wieder „dorthin“ gelangt – ins Hier und Jetzt, sich und ihren Körper spürt, ihren Bauch, jedoch unter anderen Umständen als zuvor.

Der Kreis schließt sich also, der Erzählrahmen gibt den aufwühlenden inhaltlichen und sprachlichen Sequenzen Kontur, bis das Ende, bis der Anfang klar gesetzt sind.

Die pubertierende Anna schlittert zunehmend in eine seelische Diffusion und Zerrissenheit, die sich in Form von äußersten Turbulenzen ihres Körpers äußert: In Form eines zwanghaften Essverhaltens, zwischen Fressattacken und dem Wunsch zu „kotzen“. Barbara Rieger findet dafür einen beinahe phänomenologischen Zugang, indem wir, die LeserInnen uns gemeinsam mit Anna zusehends hineinbewegen müssen (!) in ihre Körperzustände, ja, mitgezogen werden von den unkontrollierbaren Verhaltensmustern, indem wir unbewussten Prozessen beiwohnen und dabei beinahe in ihren Körper schlüpfen, in ihre gesamte Gefühlswelt. Und die ist durchsetzt von Selbstzweifel, Hassgefühlen, zartem, zerbrechlichen Hoffnungsschimmer und dem Wunsch, alles, alles – sich selbst mithin – loszuwerden.

Eingespannt zwischen der kühlen, hilflosen Ordnungsliebe und dem schablonenhaften Verhalten ihrer Mutter, die die Vereinsamung ihrer Tochter nicht erkennt,  und der Absenz ihres Vaters, dessen Namen (um nicht zu sagen Existenz) sie erst viel später und mit viel Nachdruck, der Mutter abringt, wird Anna vom Leben herumgeschleudert; sie reagiert hochsensibel (und zugleich wie unter einer Glasglocke) und letztlich zwanghaft auf alles und jedes, um nach schrecklich schmerzhaften Entwicklungsschüben, ihr Leben in den Griff zu bekommen: hinter ihr liegen dann enttäuschende und belastende Beziehungen, ein nicht erfüllendes aber dennoch stattfindendes Treffen mit ihrem Vater, die zahlreichen Besuche bei der Therapeutin und der unausgesetzte Kampf mit sich, gegen sich, schließlich für sich selbst.

Ein äußerst gelungener Balanceakt, der offenlegt, dass auch ein sich in weiten Teilen, wenn auch variantenreich wiederholender Prozess einer Suchtentwicklung spannend und packend bis zur letzten Seite aufbereitet sein kann.

Ein Buch, dass nicht nur freizügig offenlegt, sondern auch Hoffnung zu geben vermag, dort, wo sie gebraucht wird.

Anna ist stark.

Petra Ganglbauer

Gabriele Kögl: Gipskind

Roman

Picus-Verlag
Wien 2020

Auf die ihr eigene unnachahmliche Weise, in bewusst einfachem, konkretem Stil, erzählt Gabriele Kögl in ihrem jüngsten Roman die Entwicklung einer jungen Frau in den Sechzigern, von ihrer frühen Kindheit bis zum Schritt in die Eigenverantwortlichkeit.

Das Leben auf dem Land, in Verhältnissen, die hart an der Existenz nagen, wird durch die emotionale Zurückhaltung der Eltern, vor allem der Mutter, durch seelische Kälte und Isolation aber auch durch die Liebe zur Großmutter gespiegelt. „Die Kleine“ findet sich in einer Welt der ländlichen Rituale wieder, die sie zwar miterlebt, sie selbst jedoch fühlt stets irgendwie an den Rand gedrückt, toleriert, aber eben nicht wirklich einbezogen.

Da sie mit neun Monaten noch immer nicht aufstehen kann, werden für längere Zeit beide Beine in Gips gelegt. Mehrere Spitalsaufenthalte folgen, welche die seelische Isolation der „Kleine(n)“ noch verstärken. Mit den in Gips gespreizten Beinen wiegt sie schwer. Gerade diese Sequenzen im Buch sind besonders berührend.

Eine Zäsur im Leben der Protagonistin ist vor allem jener Teil des Buches, in dem „die Kleine“ den ebenso jungen Arthur aus gutem Hause kennenlernt und zur Andrea wird.

Gabriele Kögl skizziert rurale und urbane Milieus, Kultur und Eigenheiten der Sechziger Jahre mit äußerster Genauigkeit. Die inhaltliche Dichte in dem vorliegenden Buch ist überwältigend: Kögl spannt den Bogen von Alltagsszenerien bis zur Selbstwerdung von Andrea, als diese sich, letztlich gemeinsam mit Arthur, aus der familiären Abhängigkeit befreit. Und beide haben eine Vision.

Wieder ein überzeugendes Buch jener Autorin, die im Jahre 2019 für ihr Hörspiel „Höllenkinder“ den Prix Europa für das beste europäische Hörspiel des Jahres erhielt.

Petra Ganglbauer

Raimund Bahr: Gansinger kehrt heim

Roman

edition art science
St. Wolfgang 2019

cover_gansingerEine eigenartig melancholische Schwingung liegt über dem vorliegenden Roman.
Eine Atmosphäre, die sich wahrscheinlich aus den inhaltlichen Schwebezuständen in diesem Buch ergibt. Von Anbeginn gelingt es Raimund Bahr, eine unauflösbare Spannung über den Fortgang der Geschichte zu legen. Schon das Cover unterstreicht diese Qualität.

Ein Mann bricht am 1.1.2000 aus seiner Heimatstadt auf. Was dann an „Topografien“ oder Figuren angesprochen wird, bleibt bewusst unscharf.

Wir als Lesende begleiten den Protagonisten, indem wir lesend Zeugen jener Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und Geschichten sind, die er hinterlassen hat. Am Ende findet die Hauptperson einen Ort, an dem sie sich ansiedelt, der Mann scheint endlich anzukommen. Davor muss er jedoch seine Vergangenheit bewältigen und seine Kindheitstraumata, soweit möglich, hinter sich lassen.
Am Ende des Romans, der Protagonist ist verschwunden, sucht ihn sein Freund in seiner neuen Heimat und findet nur noch seine Aufzeichnungen, die er schließlich veröffentlicht. Dies wird in einem Vorwort offenkundig.
Nicht nur die zeitlichen Ebenen verschwimmen in diesem Buch, auch die Wirklichkeiten tauschen einander ab.

Ein eigenwilliges Buch, dass einem Briefroman ähnelt und zudem narrative Sequenzen enthält; das auf diese Weise perspektivisch hin- und herschwingt und das Leben des Protagonisten beleuchtet, wiewohl es gezielt Lücken enthält und am Ende geheimnisvoll anmutet:
„Gib acht auf dich, mein Freund. / Und besuche mich. / Bald.“

Petra Ganglbauer

Erika Kronabitter: La Laguna

Roman

Verlag Wortreich
Wien 2016

Erika Kronabitter arbeitet seit Jahren konsequent im Kontext verschiedener literarischer Gattungen, mehr noch, sie unternimmt Quergänge, Übergänge, Grenzüberschreitungen und setzt ihre Bücher auch immer wieder konzeptuell um.
Jüngstes Beispiel ist ein Roman, der auf autobiografischer Erfahrung basiert, dahingehend auch Geheimnisse transparent werden läßt und doch und dennoch – beinahe raffiniert – auch mit dem Krimi-Genre spielt und eine sehr geordnete Gliederung aufweist:
Kapiteltitel (und seien die Texte, Kapitel auch bisweilen kurz), die Klarheit signalisieren. Ebenso finden sich in diesem Roman E-Mail-, wie auch Behördenzitate.
Der Roman ist also dergestalt aufgebrochen und gewinnt trotz einer gewissen Schwere des Themas an formaler Leichtigkeit!

Das Buch umkreist die Liebe von Hanna und Beppo Ende der Fünfziger Jahre / Anfang der Sechziger Jahre – die Rede ist aber auch von Elena, der gemeinsamen Tochter – und zeichnet , trotz Handlungsintensitität (ein ungeklärter Mordfall) und Plastizität, auf eine ganz eigene, sensible und behutsame Weise die Charaktere und Situationen „Im Nochdunkel drang ein Wischen in den Schlaf…“

Was sich im Laufe der Geschichte abzeichnet, ist mehr als mysteriös – die Autorin erzählt ihren mithin sehr authentischen Zugang, ihre Version eines Geschehens.

Ein Buch, das sich gerade jetzt, in dieser anregenden, aktivierenden Jahreszeit (es ist Sommer) überallhin mitnehmen und Passage für Passage gut und auf spannende Weise erkunden lässt.

Petra Ganglbauer

Mike Markart: Ich halte mir diesen Brief wie einen Hund

Roman

Edition Keiper
Graz 2014

mike_markart_brief_coverAuf gewohnt eigenwillige, an den schmalen Rändern der Wirklichkeitswahrnehmung befindliche Weise hat Mike Markart auch den dritten Teil seiner »seltsamen, autobiografischen Trilogie« verfasst. Vorangegangen sind »Calcata« (2009) und »Der dunkle Bellaviri« (2013).

Markart gelingt es stets, jene Individuen präzise, authentisch und lakonisch zu zeichnen, die sich von den Vorgaben dieser unserer Gesellschaft (Schnelligkeit, Wettbewerbsverhalten etc.) freiwillig oder notgedrungen absondern und dennoch eine überraschende Selbsteinschätzung aufweisen.

Ruhig, mit Sinn für das Essentielle und nur vordergründig mitteilsam, gebärdet sich der Ich-Erzähler auch in diesem Roman, wiewohl dieser verschiedenste Blickwinkel und Perspektiven auf das Geschehen aufweist.

Randständigkeiten, Bewußtseinsverrückungen sind essentielle Elemente der Handlungen und (gedanklichen) Ereignisse, dennoch arbeiten sich konkrete Inhalte wie etwa die Beziehung des Ich-Erzählers zu Marina heraus; er schreibt einen Brief an sie, den er jedoch nie abschickt. „Marina./ Ich habe nur dein halbes Leben./ Die andere Hälfte ist Dunkelheit./ In jener Hälfte ist all das vermerkt, was du vor mir ver/bergen möchtest.“

Zart sind die Empfindungen gezeichnet, zart und poetisch, auch wenn sie sich an den Rändern tiefster, kohlrabenschwarzer Abgründe auftun.

Ein schönes Buch.

Petra Ganglbauer

Friedrich Hahn: Der Setzkasten. Oder: Erwin und die halben Luftballons.

edition keiper
Graz 2015

Merkwürdig und eigenwillig entrückt zeigt sich der Protagonist „Einer“ in diesem skizzenhaften, aufgebrochenen Roman, dessen Form der Innenwelt des Mannes kongenial entspricht.
„Einer“ will, dass nichts zu Ende geht, er lebt abgesetzt von seiner Vergangenheit, die gewissermaßen gelöscht ist und nur punktuell im Kopfkino „Einers“ aufblitzt, etwa als der vermeint, seiner noch blutjungen Mutter zu begegnen. Er setzt sich mit philosophischen Fragen auseinander, hat „Merkprobleme“, unzählige Projekte, verschickt leere Kuverts, „wenn er Mitteilungen zu machen hat“ oder schaut Filmfiguren ihre Verhaltensweisen ab.
Seine mehr oder weniger einzige Bezugsperson ist Gisela, deren kryptisches Vorleben er beinahe bis zum Ende des Romans nicht kennt.

Friedrich Hahn ist es gelungen, mit dieser Figur ein mehrschichtiges Psychogramm anzulegen, welches hinter der Figur des „Einer“ noch Facetten eröffnet, die weit ins Gesellschaftspolitische und Soziale hineinreichen. Er hält die Eigenart des Protagonisten, welche sich auch in seiner Sprachreflexion äußert, profiliert durch – dieser erfährt auch gewisse Wandlungen. Gegen Ende des Romans ergibt sich schließlich eine unerwartete Dynamik, die „Einer“ jedoch wieder ganz „zurückwirft“ auf das Potentielle, Unfertige, Fragliche.
Hahn unternimmt am Ende des Buches noch einen Kunstgriff: Die Druckerschwärze verblasst, der Raum zwischen den Zeilen wird größer. Eine schöne Zusammenschau aus Inhalt und Form!

Ein komplexes, empfehlenswertes Buch!

Petra Ganglbauer

Bernd Schuchter: Föhntage

Braumüller Verlag
Wien 2014

Zart, wie hinter einem Schleier oder einer Glasscheibe, mit pastellener, sensibler und leiser Sprache kommt dieser Roman auf die Lesenden zu. Achtsam geht er mit einer Kindheit in Innsbruck um, jener des jungen Lukas sowie anhand dieser Kindheit mit den beispielgebenden sozialen Konstituenten etwa eines Jahrzehnts zunächst, einer Zeit, in der man im Sommer an die Adria fuhr oder Super8 Familien-Urlaubsfilme drehte bzw. Schillinge in Lire umtauschen musste. Bis hierhin bietet er eine lebendige Identifikationsebene auch für jene, die nicht in Innsbruck sondern anderswo in Österreich zu jener Zeit ihre Kindheit verbrachten.

Zugleich entwirft Bernd Schuchter jedoch ein gesellschaftliches Setting, indem er die Wohn-Architektur jener Zeit, den gesellschaftspolitischen Zugang und insbesondere die Historie des Südtirol Konflikts anhand der Erinnerungen des alten Lahner, den Lukas immer wieder aufsucht und auf Spaziergängen begleitet, aufrollt; und Lukas „hängt“ förmlich „an den Lippen“ des alten Mannes, wenn dieser seine Lebensgeschichte erzählt.

Zudem und der Vollständigkeit halber lernen wir Giuseppe Monte kennen, einen Mann, der sich nicht allzu gerne an seine frühen Jahre als Carabinieri erinnert, die ihn wesentlich als Täter ausmachen; er erfährt jedoch schließlich eine gewisse Läuterung.

Ohne grelle Inszenierungsversuche sowie äußerst authentisch schildert Bernd Schuchter anhand dieser sehr persönlichen Lebensgeschichten politische und gesellschaftliche Zusammenhänge – und der bereits zitierte sanfte Duktus des Romans bewirkt, dass man ihn gerne und mit wirklichem Interesse liest.

Petra Ganglbauer

Mike Markart: Der dunkle Bellaviri

Roman

Edition Keiper
Graz 2013

markart_bellaviriWie in seinen bisherigen Büchern unternimmt Mike Markart auch diesmal die mutige und riskante Gratwanderung an der Schnittstelle zwischen Identitäten und deren Brüchen, Rollen und deren Zerfall, Tag und Nachtbewusstsein und inszeniert auf diese Weise einen Roman, in dem die Figur(en) multipel angelegt (ist) sind. Der Erzähler erzählt dem (Findelkind) Garetti sein Leben. Dieses wiederum evoziert das Erscheinen Bellaviris.

Innenschau, absonderliche Empfindungen und Verstörungen sind kennzeichnende Merkmale der Bücher des steirischen Autors, der in diesem Roman – wie auch schon zuvor – Italien mit all seinen (Empfindungs)räumen heranzieht, indem der Erzähler mit Phantasiegestalten umzugehen sucht, obgleich er sie loswerden möchte. Er komponiert schließlich Geschichten, die diese eigenartigen Gestalten auflösen.
Ein komplexes, literarisches Unterfangen!

Der Duktus in Mike Markarts Büchern ist ein äußerst konsequenter, die „strange“ Gefühlsqualität spiegelnder, (analog zu den Gefühlsakkumulationen) stark rhythmisierter, der die Eindinglichkeit der Empfindungen noch manifester macht.

Ein von Seelen(an)spannung erzählendes, empfehlenswertes Buch!

Petra Ganglbauer

Erika Kronabitter: Nora. X.

Limbus Verlag
Innsbruck 2013

Ebenso fragil wie berührend ist der Roman von Erika Kronabitter. Er verkörpert Teil drei einer Romantrilogie, deren Teile Mona Liza und Viktor dem nun vorliegenden Buch vorangingen.

Abgesehen davon, dass das neue Buch im Kern thematisch um Geschwister, die zunächst sehr unterschiedliche Wege gehen, um das Aufarbeiten und Erinnern einer Kindheit und das Spannungsfeld von Nähe und Distanz zum eigenen (Er)Leben oder auch um Neubeginn kreist, wendet die Autorin formal spannende Methoden an:
So gibt es immer wieder „lyrische Intros“, kursiv geschrieben, die etwas Dramatisches und Spannungsgeladenes an sich haben, die also inhaltliche Steigerungen aufweisen: Diese Sequenzen machen das seelisch Verschüttete mithin transparent.
(Hat nicht Else Lasker-Schüler vom Drama als „schreitende Lyrik“ gesprochen?!)

Zudem wechselt Erika Kronabitter den Erzähl-Duktus.
Da finden sich bedrohliche Satzraffungen “Anordnung. Drohend“ ebenso wie politische oder kulturhistorische Exkurse (in Spanien), Tagebuch(-ähnliche) Einträge und zahlreiche dialogische und szenische Sequenzen zwischen Nora und ihrem Bruder, die jeder für sich und gewissermaßen auch gemeinsam vor der Vergangenheit geflohen sind.

Jedoch am Ende öffnet sich eine Türe… Lesenswert!

Petra Ganglbauer