Bettina Balàka: Kassiopeia

Roman

Haymon Verlag
Innsbruck 2012

Der kleine Tod in Venedig

Seit die Liebe keine Himmelsmacht mehr ist und ihr Gelingen auch nicht mehr in den Sternen steht, ist sie eine Angelegenheit von Risikostrategien – deren pointierte Version bekanntlich das Gefangenendilemma darstellt. – Tit For Tat ist demnach die Devise, im speziellen Fall: wenn Du Tricks einsetzt, tu ich das auch. Denn dass die Liebe ein seltsames Spiel ist, verkündete Connie Francis bereits 1960, und mit der Etablierung der spätmodernen Individualitätsgesellschaft sind die Spielregeln wohl noch um einiges komplexer geworden. Judit Kalman, die begüterte Tochter eines Salzburger Unternehmers und jung verwitwete Vierzigerin ist eine veritable Heroin des Liebesrisikos, welches ganz zu beherrschen sie mit einem ausgetüftelten Programm und mit Leidenschaft sich anschickt, denn auf die Sterne ist nur bedingt Verlass, zumal die Kassiopeia-Gruppe ja auch nicht das Venusgestirn ist. Und darüber hinaus spricht auch die Wahrscheinlichkeitskalkulation nicht gerade für glückende Liebe: Gianna, die Haushälterin der Wohnung in Venedig; wohin Judit ihr begehrtes Objekt, den Romanautor Markus Bachgraben verfolgt, bringt den Sachverhalt auf den Punkt, nämlich „dass die wechselseitige, gleich starke Liebe zweier Parteien zu den seltensten Zufallstreffern im Universum gehöre.“ Dieser Umstand ruft schier nach willentlicher Lenkung, denn letztlich will Judit „den richtigen Menschen finden, der zu ihr gehörte, wie es in den heiligen Büchern von der Vorsehung bestimmt war.“

„Alle Städte sind gleich, nur Venedig is e bissele anders“, weiß Torbergs Tante Jolesch, und die Besonderheit, die dort für die Stadt in Anspruch genommen wird, kann hier für Bettina Balakas Venedig-Roman geltend gemacht werden, denn souverän und gewitzt umschifft er die bekannten Venedig-Klischees wie etwa morbide Romantik oder Todespathos. Anstatt mit Romantik ist der Leser hier erst einmal mit Strategie konfrontiert, in die man gleichsam nach Komödienart Einblick erlangt, zumal vielfach aus Figurenperspektive erzählt wird. Romantische Liebe lebt von der Schicksalshaftigkeit, Judits Liebesstreben lebt vom Willen zum System: „Von ihrem Vater hatte sie gelernt, dass der, der ein Ziel verfolgte, Geduld brauchte“ Zu den sieben Erfolgsstrategien gehört, Vater Kalman zufolge auch: „Das Ziel niemals aus den Augen lassen. In keiner Minute des Tages.“ Also setzt sie auf Dauerbeobachtung und beherzigt vor allem folgende Regel: „Scheue dich nicht, von deinem Ziel besessen zu werden.“ Die Ursache für Judits Besessenheit liegt aber vielleicht gar nicht vorwiegend in den besonderen Eigenschaften des Liebesobjekts, denn die Schwächen der Männer, jene von Bachgraben besonders, erfahren in der Betrachtung gewiss keine Gnade. Sie liegt auch nicht so sehr in der Tatsache, dass dem aktuellen Beziehungsprojekt eine nächtliche Einmal-Begegnung mit Bachgraben vorausliegt, über deren Erlebnisqualität keine näheren Angaben gemacht werden und die wohl eher im Lichte von Judits allgemeiner Bewertung von Sex zu sehen ist: „Sex an sich war ja eine peinliche Angelegenheit, wenn man ihn unter dem Blickwinkel betrachtete, dass man sich nackt verrenkte, das Gesicht verzerrte, das Makeup verschmierte, die Frisur vernichtete, grunzte und röchelte und am Ende womöglich noch vaginal ejakulierte, sodass die Bettwäsche ganz nass war.“ Ein nicht unwesentlicher Grund, weswegen Judit zum weiblichen Homo Faber der Liebe wird, liegt wohl in der ehrgeizigen Lust am Strategiespiel: denn das mail, das Bachgraben nach diesem One-Night-Stand verfasst und das der spionierenden Judit zur Kenntnis gelangt, prognostiziert, dass es ein weiteres Mal mit dieser Blonden „sicher nicht“ geben werde. Auch um diese Absicht zu durchkreuzen, treibt sie den ganzen Aufwand, mit dem sie nach Art einer Katze Bachgraben nicht nur finanziell, etwa durch Kontosperre, in die Enge treibt. Und das ist für den Leser höchst vergnüglich, denn die Komödie, auch die – auf den ersten Blick – antiromantische, lebt von den bekundeten Intentionen der Gegenspieler und deren – zumindest versuchter – Durchkreuzung. Das Dringende von Judits Handlungsweise ergibt sich nicht zuletzt auch aus schlichten Prestigegründen: ihrer Freundin Erika hat sie nämlich erzählt, sie wäre mit Bachgraben liiert, und Erika reist ihr unvermutet nach Venedig nach, um das zu überprüfen, womit für reizvolle Turbulenzen gesorgt ist. Dass gerade Erika dort erfolgreicher in der Liebe ist, etwa wenn ein Gondoliere sie zielsicher, wenn auch unspektakulär, in Richtung kleiner Tod in Venedig geleitet, liegt einfach in den Unwägbarkeiten des Lebens, die im Roman raffiniert komponiert werden, und wohl auch an Erikas unromantischer Pragmatik: denn es verlangt sie „nicht nach Bindungen, sondern nach frischem, emanzipiertem, unverbindlichem Sex.“ Dass in dieser Figurenanlage auf kluge und ansprechende Weise das ganze und oft gar nicht so lustige Spektrum der „conditio amoris“ unserer Zeit aufgerollt ist, bemerkt der Leser vielleicht auch erst nach der spannenden Lektüre.

Kassiopeia ist aber nicht nur ein fesselnder Liebesroman, sondern er erfüllt in seiner eleganten Komposition auch wesentliche Eigenschaften des Künstler- und Generationenromans. Dank der Rückblenden in die Familiengeschichte der Kalmans, die mit dem wirtschaftlichen Aufstieg von Vater Kalman einen tragischen Hintergrund miterzählen oder mit den Analepsen in die südtiroler Abstammung wird wie von ungefähr und auf nahegehende Art auch ein gutes Stück österreichische Geschichte erfahrbar. Und dass die Bachgrabensche Schaffenskrise und deren unerhörte Lösung genug Stoff und Spannung für eine Künstlernovelle sui generis abgäbe, sei hier nur am Rande gestreift.

Natürlich ist Liebes- und Literaturgelingen in postmodernen Zeiten mitunter ein Effekt des literarischen Zitats, womit hier nicht die amüsante Chili-Schoten-Allusion auf einem Don-Juanesken Gegenwartsroman gemeint ist. Das eigentliche Zitat in diesem Buch ein werkkonstitutives: Bachgrabens fiktiver Roman Kassiopeia, „ein Märchen über die Liebe in eisigen Zeiten“, wie er in einer Rezension apostrophiert wird, wird nicht nur zitiert, sondern dieser entsteht eigentlich erst während der Lektüre von Bettina Balakas Roman. Er ist nämlich nicht nur dem Umschlag nach mit dem hier vorliegenden gleich, sondern bildet auch jene Leerstelle, die durch diese Romanhandlung mit Leben gefüllt wird. Womit modellhaft in einer unvergleichlichen Konvergenzbewegung der Roman das Leben fasst und das Leben poetisiert bzw. romantisiert wird. Entgegen der Botschaft von Lou van Burg und Barbara Kists Schlager aus dem Jahre 1959 steht nämlich nicht „alles in den Sternen, was dir vom Schicksal bestimmt“, sondern in den Büchern, besonders solchen mit Sternentitel.

Günther Höfler

Chacha Bevoli: Feuerland

Lyrische Texte

Elisabeth Chovanec
Wien 2010

24 September 2010 In der im Buch vorhandenen Werkbiografie heißt es, Chacha Bevoli erarbeite sich Literatur. Das ist bemerkenswert und zeigt auf, dass die 1939 in Wien geborene Autorin bestrebt ist, fortlaufend schreibend zu erfahren und zu lernen.

Die in diesem Band versammelten Gedichte machen eine Sehnsucht nach Einheit und Aufgehen im Ganzen des Universums transparent.
Die Kommunikation zwischen Ich und Welt ist eine besondere dort, wo auch die Bilder nicht zu nachdrücklich aufscheinen, wo nicht alles gesagt und ausgesprochen wird. „Allein – in Schwärmen/“ oder „Gewebe voller Abenteuer“ „Nachtschimmer“.
An jenen Stellen ruft uns eine Zartheit, die ein sehr zerbrechliches lyrisches Ich dahinter vermuten lässt.

Ergänzt werden die „kosmischen“ Texte durch Bilder und Fotos, in Teilen von Chacha Bevoli selbst.

Petra Ganglbauer

Gerhard Jaschke: NOCH mehr WELTBUDE

Abwesend anwesend –
Anwesend abwesend.

Sonderzahl Verlag
Wien 2012

Texte über das Menschsein, Krankheiten, Erfolg und Erfolglosigkeit, über die Medienberichterstattung, den Kunst- und Literaturbetrieb, Gerhard Jaschke hält uns mit seinem jüngsten Buch ganz nahe am Erleben.

Das Buch ist ausnehmend zündend, ein temperamentvolles literarisches Protokoll, das atmet und aus den unterschiedlichsten Genres und Strukturen besteht.
Lyrische Passagen wechseln mit Reden oder Tagebuchaufzeichnungen ab, verschiedene Zugänge in der Wahl der Erzählperspektive erzeugen Nähe Distanz zu den Inhalten; Sprachspiel und theoretische Überlegungen kommen auch nicht zu kurz!

Polemisierend wirken viele der Texte im Hinblick auf zeitgeistige Tendenzen („im kindergarten akademie“), und wieder sprechen Stimmen (Zitate) herein, so dass dieses Buch sich auch eingebunden wissen will in den Teppich aus literarischen Strömungen und Stimmen.

Ein reichhaltiges Zeitzeugnis!

Petra Ganglbauer

Ilse Kilic: Buch über viel

Ritter Verlag
Klagenfurt-Wien 2011

Viele „Paralleluniversen“ finden sich in Ilse Kilics neuestem Buch, Alter Egos, Verweise, Zitate, Systeme, Regelwerke, Kontexte.
Die Autorin besinnt sich auf manche ihrer literarischen Wurzeln und zeigt wieder einmal spritzige grammatikalische Besonderheiten auf.
Immer wieder verknüpft die Autorin Wissenschaft und Kunst miteinander, Leben und Fiktion.

Das Buch enthält ein weiteres, ein 52 Tage-Buch, einen Brückenschlag von der Zahl zum Wort, vom Erzählen zum Zählen, Listen, Minidrama, Gedichte, Liedgut. Die Ordnungsprinzipien der Sprache, also des Lebens, aber auch der Mathematik fanden Einzug in dieses polyphone, ganzkörperliche Buch, das einen nicht so schnell entlässt. Einmal eingetaucht in das mitteilsame Werk von Leiden und Leben, von Kindsein und Erwachsenwerden, vom Träumen und vom Alltag, findet man sich mehr als gerne zurecht und möchte nicht mehr zum Alltagsmedium Sprache zurückkehren.

Es fällt schwer, zuzulassen, dass dieses Buch ein Ende hat, aber jenseits von „VIEL“ findet sich ja alles Andere; und wie schreibt Ilse Kilic so treffend?

„Danke schön, es war
bezaubernd nett
(nochmal noch mal!)“

Petra Ganglbauer

Klaus Ebner: Dort und anderswo

Essays

Mitter Verlag
Wels 2011

Klaus Ebner unternimmt einen großen Exkurs in seinem Essayband, dessen Themen vom künstlerisch-schöpferischen Prozess des Übersetzens (DIE KUNST IST DER ANFANG) bis hin zu sagenhaften mythologischen, mythospoetischen Bezügen (VON DER LEGENDE ZUR MODERNITÄT) reichen.

Der Autor durchmisst Gegenwart und Geschichte gleichermaßen präzise, seine Essays sind voll kulinarischer Details, selbst das Bekannte gewinnt in diesen, mit der ganzen Welten-Fülle ausgestatteten Texten an Lebenskraft, etwa die Markt-Passage in dem Essay DIE STADT UND DAS MEER.

Ebner ist ein „Poeta doctus“; er ist mehrerer Sprachen kundig.
Er würzt das zahlreich Faktische leichtfüßig mit detaillierten persönlichen Erlebnissen.

Der topografische Radius ist weit gefasst, sein besonderes Augenmerk legt der Autor jedoch auf die katalanischen Länder, zu welchen er eine besondere Beziehung hat.

Petra Ganglbauer

Gregor M. Lepka: An der Zeit vorbei

Mitter Verlag
Wels 2011

Der Gestus, den Gregor M. Lepka in vielen seiner Gedichte anwendet, ist vergleichbar mit einer in den Raum der Poesie transferierten „tangentialen Abbiegung“.

Der Lyriker, zu dessen besonderem Geburtstag auch ein Podium-Porträt erschienen ist, peilt in Zeilen wie „Wenig nur über dem See“, „An der Zeit vorbei“, „Schon ausgezogen“, „Gedacht, über die Dinge nachgedacht“ im 1. Teil seines Buches jenen schmalen Grat an, auf dem der Welten-Wandelnde die Dinge nicht mehr ins Visier nimmt, nicht abbildet, nicht zu besitzen sucht.
In vielen dieser Gedichte artikuliert sich das Unwägbare, das Dazwischen, das Fragile, Namenlose.

Im Lauf des Buches jedoch, vornehmlich in Teil 2, der auch mit zahlreichen Hommagen ausgestattet ist, die auf den poetischen oder vielmehr topografischen Kontext des Autors schließen lassen, findet die Gedankenlyrik ihre Rückbindung im Materiellen, wird greifbarer auch: „ÜBER DEN HÜGEL HINAUS“; „DIE SPRACHE“. Dennoch umspannen auch diese Texte das Unfassbare, suchen ihm Markierungen abzuringen. Letztlich geht es um die Existenz schlechthin und die Parameter Raum und Zeit fungieren dabei als weit gefasste Gratmesser.

Teil 3 versammelt „Reaktionsgedichte“, verstärkende Notationen zu Zitaten von Elazar Benyoetz.

Petra Ganglbauer

Petra Ganglbauer: Permafrost

Prosa

mitter verlag
Wels 2011

Zum ersten Teil des Buches, DIE RÜCKSEITE:

Die irdische Zivilisation pflanzt sich wie ein Krebsgeschwür weiter fort, das Geschäft geht weiter, und alles kann im Cyberraum erlebt und simuliert werden; wir selbst sind vielleicht nur eine Simulation – und der Untergang wird probeweise und widersprüchlich ins Bewusstsein gespült: Fragmente einer Katastrophe, über weite Strecken ein flackerndes Bewusstsein und eine merkwürdige Blase der Sicherheit, in der es keine Krankheiten, keine Feinde, keinen endgültigen Verlust gibt, sondern den Widerschein des Schreckens. Es gibt hier kein Gefühl von Rettung; vielmehr das Empfinden, dass die Apokalypse jederzeit durch die geschlossene Tür hindurch ins Haus dringt, gefiltert zwar, Widerspiegelung einer Widerspiegelung. Wer ist der „Master oft Desaster“? Vielleicht ist es Plato, der die Täuschung vernichtet, indem er in der trostlosen Höhle das Licht anknipst. Vielleicht aber sind wir Teil einer unbekannten Sprache, deren Programmierung fehlgeleitet ist. Der Text scheint ein Umlernprozess zu sein, streckenweise falsch oder gefälscht, eine vorläufige Abmachung. („Unser Text erweist sich als falsche Fährte“ S. 62).

Eben lese ich die Bücher von Maurice Blanchot und Jean-Luc Nancy über die „entwerkte Gemeinschaft“ und die „uneingestehbare Gemeinschaft“. Der vorliegende Text von Petra Ganglbauer buchstabiert die „Durchsprache“ (S. 58), aber nicht durch Nacht zum Licht führt der Weg, sondern durch Licht zur Nacht, wobei die Autorin punktgenaue Sätze findet („Wir sind andere Nöte. Andere Filme“). Der Text kündet mit seinem permanenten WIR davon, dass wir ein Schicksal haben, deshalb natürlich, weil das Desaster alle betrifft; die Gemeinschaft gibt es, aber es ist die Gemeinschaft derer, die von allen guten Geistern verlassen sind.

Zum zweiten Teil des Buches, DIE VORDERSEITE:

Vorderseite und Rückseite, das erinnert an eine Münze oder an ein Buch; das eine kann nicht ohne das andere sein. Als Leser habe ich das Gefühl, dass im 1. Teil das Blut stockt, im 2. Teil schießt es wieder ein, das Leben bekommt Farbe. Die Katastrophe übt Zwang aus, aber die Natur, die Sicherheit gibt, spendet die Freiheit, wahrzunehmen und die eigene Phantasie in Bewegung zu setzen. Das Ich (denn in der 1. Person sind diese Passagen geschrieben), schafft die Konsistenz, es leitet aus den Sinneswahrnehmungen eine innere Logik ab, die belebt. Das Wetter, die Berge, die gesamte Vegetation, Sonne und Mond, sie alle sprechen zu diesem Ich. In einem Ambiente von Fragen und Antworten keimt Hoffnung auf. Die Erzählerin hat sich in die Natur zurückgezogen. Angekündigt wird hier „…das täglich Kleine. Und Kind.“ (S. 77). Schon daraus lässt sich die Reduktion oder heilsame Regression ableiten, die hier vorherrschend ist. Das ist folgerichtig, denn nach der großen Zerstörung beginnt „das Menschlein“ (es ist im 1. Teil eingeführt worden) wieder von vorne, das Leben beginnt neu. Es ist das Staunen des Kindes UND des Erwachsenen, was einnehmend wirkt; jedenfalls hat es mich als Leser gebannt. Gibt es einen schöneren Satz als den? „Aber der Wald, und wenn er nur aus Bäumen besteht, ist die große Höhe der Seele.“ (S. 83). Perzeption und Apperzeption schaffen den Raum für die Seele, die Betrachterin der Welt stellt eine dialogische Beziehung her; nicht nur sie betrachtet die Welt, sie lässt sich von den Dingen betrachten und ansprechen. Manchmal wird die Natur anthropomorph gedeutet, man kann es als Erwachsenenspiel auffassen, oder als Teil einer heilsamen Regression. Das Hässliche, Abstoßende, Angst Machende, Bedrohliche, Unauflösliche hat hier keinen Platz; trotzdem sind die einzelnen Absätze keine Idyllen. Die Erzählerin ist als Person im Zentrum, ohne andere irgendwie zu verdrängen oder sich wichtig zu machen. Und es gibt die Andeutungen einer Beziehungsgeschichte; sie sind geheimnisvoll, sie sollen so bleiben, sie entstammen dem Geheimnis der Beziehung. Sicher hat die Autorin einen eigenen Zugang zu Wittgensteins Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Während im 1. Teil des Buches der Sprachverlust die Katastrophe anzeigt: „Die Sprache entgleitet, alles was ist, ist unverständlich.“- „Alles weg und verloren. Die Sätze, Gesichter der Sprache.“, ist im 2. Teil der Sprachverlust anderer Art: „Ich weiß nichts mehr zu benennen, weil alles ist wie es ist. / Mit den gelöschten Namen schwindet jegliches Vergessen. / Ist alles Existenz.“ Die Rede ist von einem erfüllten Schweigen.

„Permafrost“ ist also kein Bericht von Anfang und Ende, sondern umgekehrt, vom antizipierten Ende und einem immer möglichen Neubeginn.

Gerwalt Brandl

Fritz Widhalm: EIN BUCH

edition das fröhliche wohnzimmer
Wien 2011

Das neue Buch von Fritz Widhalm ist im wahrsten Sinn des Wortes ergreifend. Es packt zu, zieht uns hinein in den Lebenskreis, den ganz persönlichen Entwicklungskosmos des Autors.

Lesend werden wir zu Zeitzeugen seiner/ einer Generation, machen die Entwicklungen des Autors regelrecht mit und stürzen uns voll Enthusiasmus auf ein Stück Musik- oder auch Literaturgeschichte.
Buchtitel, Autor/inn/enkolleg/innen blitzen namentlich auf; Menschen aus dem nahen Umfeld des Autors, allen voran und sehr, sehr oft seine Lebensgefährtin Ilse Kilic, werden ausführlich einbezogen.

„ich schreibe ein buch.“, beginnt dieses Buch und somit sind wir mehr oder weniger auch Realtime-Zeugen.

Es ist, als ob Widhalm noch einmal und nachdrücklichst mit dem Finger, nein mit der Füllfeder, dem Bleistift oder der Tastatur auf spezifische Momente und Persönlichkeiten aus Kunst, Musik, Literatur oder auch Philosophie und Psychoanalyse verweist, um uns wach zu rütteln, damit wir tiefer gehen, weg von der Oberfläche einer vermeintlichen (eingebildeten) Jetztzeit.

Das Buch ist auch voll Glitter und Glamour. Und tja, süß ist das Buch und sahnig! Zum Anbeißen und Angreifen, zum Hören, zum Schauen.

Mit Fotos und Zeichnungen und einer Liste der Lieblingshits des Autors von 1956 bis 2005. Sehr empfehlenswert!

Petra Ganglbauer

Sabine Gruber: Stillbach oder die Sehnsucht

Roman

Verlag C.H.Beck
München 2011

Sabine Grubers neuer Roman erzielt seine besondere Qualität aus dem Zusammenwirken von Geschichtsaufarbeitung, historischem Bewusstsein und einer besonderen Atmosphäre – die vor allem dann wirksam wird, wenn die Autorin akribische Naturschilderungen einsetzt, um innerseelische Prozesse zu spiegeln.

Dazwischen werden historische und persönliche Ereignisse situativ, topografisch oder aber auch erinnernd festgehalten. Besonders erwähnenswert sind die aufgeladenen Bewusstseinswiedergaben. Sie muten bisweilen synästhetisch an.
Der Roman lässt auch zu, das sich die Zeiten miteinander verschränken, Gegenwart und Vergangenheit miteinander da und dort (wie) verschmelzen.

Dicht erzählt die Autorin über die Geschichte Südtirols, die Resistenza und den deutsch-italienischen Faschismus.
Die Romansequenzen werden ergänzt durch ein ausführliches Glossar, das auch jenen Leser/inne/n dienlich ist, die mit den angesprochenen Kapiteln der Geschichte und deren Protagonisten nicht so vertraut sind.

Es geht aber auch um Liebe, Enttäuschung, Unterdrückung in einem ganz persönlichen Rahmen: Stillbach, ein fiktionales Dorf in Tirol fungiert dabei als Ausgangsort. Emma geht 1938 nach Rom, um als Zimmermädchen in einem Hotel zu arbeiten; sie heiratet schließlich dort ein. Ines, ebenfalls aus Stillbach, die 1978 in demselben Hotel in den Ferien jobt, schreibt Jahre später deren Geschichte nieder. Parallel oder auch immanent wird auch das politische Geschehen in Rom 1944 und 1978 aus der Sicht Emmas und Ines‘ aufgezeigt.
Clara, auch aus Stillbach und nach dem Tod von Ines nach Rom gereist, um deren Nachlass zu ordnen, findet dieses Manuskript, welches im übrigen einen wesentlichen Teil in Sabine Grubers Roman ausmacht; also eine Geschichte in der Geschichte ist.

Ein empfehlenswertes Buch!

Petra Ganglbauer