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Ich habe das alles nicht gewollt

Wer hat eigentlich den inflationär genutzten Begriff Shitstorm unter die Leute gebracht? Sascha Lobo wagt sich aus der Deckung und bittet um Verzeihung. Er sieht bei sich zumindest eine Mitschuld.

Ich habe, ohne es zu beabsichtigen, die Welt ein bisschen schlechter gemacht. Dafür bitte ich um Entschuldigung.

Recherchen zeigen nämlich, dass ich eine Mitschuld daran trage, dass das Wort Shitstorm in deutschen Medien zum Alltagsbegriff wurde. Inzwischen steht es sogar im Duden. Es gibt zwar eine relativ eindeutige Herkunft, auf Englisch umschreibt „shitstorm“ allgemein sehr unangenehme Situationen. Aber die mediengängige Bedeutung im Sinn von Netzempörungssturm existiert so fast nur im deutschsprachigen Raum – aus Deutschland, Österreich und der Schweiz stammen beinahe alle Google-Suchen nach „Shitstorm“ weltweit.

Ein kurzer, persönlicher Rückblick: Im Sommer 2009 fungieren meine Frisur und ich als sogenannte Testimonials für die Werbekampagne der Telekommunikationsfirma Vodafone. Auf Twitter und in Blogs werden das Unternehmen wie auch die Beteiligten an der Kampagne harsch und anhaltend kritisiert. Auch deshalb, weil kurz zuvor bekannt wurde, dass Vodafone das Netzsperren-Vorhaben maßgeblich unterstützt. Ein eigener Hashtag namens #vodafail wird auf Twitter Tausende Male verwendet. Schließlich werden die wütenden Anwürfe in allen möglichen sozialen Medien so laut, dass auch viele klassische Medien, online wie offline, über die Empörungsstürme berichten. Weil der Ton dabei rau ist – auf meinem Blog werde ich mit den barschsten, blumigsten, buntesten Beschimpfungen bedacht -, könnte man annehmen, dass es sich um einen klassischen Shitstorm handelt.

Aus heutiger Perspektive ist das zweifellos richtig. Das Überraschende ist aber: In keinem einzigen der vielen Blog-Artikel im Jahr 2009 wurde der Empörungssturm anlässlich der Vodafone-Kampagne mit dem Begriff Shitstorm in Verbindung gebracht, ebenso wenig in Medienbeiträgen. Mehr noch: Die Google-Blog-Suche auf Deutsch findet vom 1. Januar 1900 bis zum 31. Dezember 2009 den Begriff Shitstorm nullmal (der einsame Treffer für die Podcast-Seite brouhaha.de kam laut Betreiber Alex Wunschel erst 2012 nachträglich durch eine Umbenennung des Untertitels der Seite zustande, der inzwischen auch über einem Artikel von damals prangt).

Im dpa-Archiv scheint Shitstorm erstmalig im Februar 2012 aufzutauchen, die ersten Medienberichte stammen aus dem Sommer 2010. Auf SPIEGEL ONLINE wurde das Wort erstmals am 10. Juni 2010 erwähnt und als Szenebegriff für „Zwitscher-Sturm“ erklärt. Vorher findet sich Shitstorm am 22. März 2010 in einer Kolumne von Josef Winkler in der „taz“. Auch längere Recherchen fördern für redaktionelle Medien keine frühere Erwähnung (im deutschen Sinn des Worts) zutage als diejenige in der Ende Januar erscheinenden Ausgabe der 1924 gegründeten Kulturzeitschrift „Magazin“. Auf dem Titel angekündigt als „Ich bin eine Zielscheibe“, findet sich im Heft ein vergleichsweise weinerliches Interview. Thema ist die Pöbelwut im Netz: „Da kann man sich richtig vorstellen, wie der vor dem Rechner sitzt, und Empörung quillt aus seiner Nase. […] Im Internet wird das übrigens ‚Shitstorm‘ genannt.“ Ärgerlicherweise bin ich der Interviewte.

Der Wunsch der Netzgemeinde, den Empörungswellen einen Namen zu geben

Kurz zuvor, am 6. Januar 2010, hatte ich in einem Blog-Artikel zu einem Voting über einen Shitstorm-Vortrag auf der Internetkonferenz re:publica aufgerufen. Es scheint der erste deutschsprachige Blog-Beitrag mit Shitstorm zu sein. Das Wort selbst hatte ich vermutlich im Herbst 2009 aufgeschnappt. Zu diesem Zeitpunkt finden sich die ersten Kommentare in deutschsprachigen Blogs, die Shitstorm im heutigen Sinn verwenden. Im amerikanischen Slang-Lexikon Urban Dictionarysteht als vierter Unterpunkt auch eine Definition von 2007, die der heutigen nahezukommen scheint. Muttersprachler aber sind über die hiesige Verwendung des Begriffs in der Regel so irritiert, dass diese Sub-Bedeutung eher nicht die Quelle des denglischen Worts sein dürfte (ebenso wenig wie übersetzte Literaturzitate).

Viel wahrscheinlicher ist, dass im netzdiskussionsintensiven Jahr 2009 der Wunsch in der deutschsprachigen Netzgemeinde übermächtig wurde, für die Empörungswellen einen griffigen Namen zu finden. Ungefähr wie „Handy“ hörte sich Shitstorm offenbar für deutsche Ohren so treffend an, dass niemand mehr nach der eigentlichen Bedeutung fragte. Ich folgte diesem Missverständnis und plapperte das Wort nach. So entstanden mein Blog-Artikel und das Interview mit dem „Magazin“ – ausschlaggebend aber scheint mein Vortrag auf der re:publicaim April 2010 gewesen zu sein. Denn bis einschließlich März 2010 interessierte sich laut den Google-Trends überhaupt niemand für Shitstorms, ab April erwachte das Interesse. Der endgültige Durchbruch kam in zwei Stufen, nämlich mit der Nominierung zum Anglizismus des Jahres 2010 und mit der ein Jahr später folgenden Wahl von Shitstorm zum Anglizismus des Jahres 2011. In den englischsprachigen Berichten dazu ist die Erklärungsbedürftigkeit der Bedeutung für US-Amerikaner zu erkennen.

Meine Beteiligung an der Entstehung des medialen Begriffs Shitstorm tut mir aufrichtig leid. Jeder theoretische, wortväterliche Stolz verfliegt, denn diese Bezeichnung hat weit mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht:

  • Shitstorm wird in der Regel als Dysphemismus gebraucht und diskreditiert so jede Empörung.
  • Shitstorm verlagert damit den Bruch mit den guten Sitten auf die Seite der Wütenden, unabhängig vom Grund für die Wut: Wer mit Schmutz wirft, muss unrecht haben.
  • Shitstorm erleichtert Tätern daher erheblich, sich medial als Opfer eines digitalen Mobs darzustellen.
  • Shitstorm ist dabei so subjektiv, dass Lokalpolitiker schon Shitstorm-Interviews geben, wenn sie auf Facebook etwas ruppig nach der Uhrzeit gefragt wurden.
  • Shitstorm verschiebt so den Maßstab, wie mit vollkommen normaler, aber nicht zustimmender Kommunikation im Netz umgegangen wird.
  • Shitstorm sät damit durch die bloße Verwendung die Angst vor dem Netz.
  • Shitstorm wird deshalb auch von Unternehmen als vorgeschobene Begründung verwendet, nicht in sozialen Medien aktiv zu sein.

Deshalb plädiere ich dafür, das längst in den Brunnen gefallene Kind wenigstens anständig zu beerdigen – und das Wort Shitstorm nicht mehr unbedacht und inflationär zu verwenden. Auch nicht die von mir vorgeschlagene, deutsche Alternativbezeichnung „in Stuhlgewittern“. Anfang Februar 2013 erschien auf SPIEGEL ONLINE in der Rubrik Karrierespiegel das Porträt eines neuen Berufsbildes. Es trug den Titel „Der Shitstorm-Manager“. Ich habe das alles nicht gewollt.

tl;dr

Für meine Beteiligung an der Verbreitung des doofen Worts Shitstorm bitte ich um Verzeihung.

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