nur kurz:
ich mag die Bandbreite, Abwechslung und den Mut der Longlist zum deutschen Buchpreis 2015, habe in den letzten Tagen die ersten Seiten aller 20 nominierten Titel gelesen und, für mich selbst, eine Vorauswahl getroffen:
sechs Titel, die ich kaufen und lesen werde – früher oder später.
[…“später“, denn diese nominierten Titel werden in den Zeitungen und Feuilletons, für die ich schreibe, meist von ältere Rezensent*innen besprochen: mein Job und Fachgebiet sind die Entdeckungen, US-Literatur, Jugendbücher, Indie-Titel… Überraschungs-Bücher und literarische Außenseiter, die noch recht wenige Menschen auf dem Schirm haben. Longlist-Titel sind so bekannt und allgegenwärtig, dass ich selten Schreib-/Rezensionsaufträge für sie bekomme.]
- alle 20 Titel, kurz und sympathisch vorgestellt von Sophie Weigand
- Leseproben, beim örtlichen Buchhändler
- Notizen/Trivia zum Preis und der diesjährigen Longlist (Literaturcafé)
- die „Hotlist“ (die besten Bücher aus unabhängigen Verlagen)
- Alternativen / interessante Titel jenseits der Longlist, von Deutschlandradio Kultur
Sechs Titel sprechen mich sehr an:
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- eine depressive Mutter im Prenzlauer Berg hat Angst vor dem sozialen Abstieg
- das Thema (Öko-Biedermeier in Berlin) ist oft Stoff für billige Witze und Satire – hier wird es ernster, sozialkritischer und, hoffentlich, klüger durchgespielt
- ich kenne Stellings Debüt von 2004, „Glückliche Fügung“, fand es recht seicht/konventionell… aber sympathisch
- Rezensionen auf Perlentaucher.de
„Mit vierzig Jahren und als Mutter zweier Kinder ist aus Sandra eine Art Kassandra vom Prenzlauer Berg geworden. Weggehen kann sie jedoch auch nicht, außerdem genießt sie ihre Privilegien. Sie feiert die Kindergeburtstage wie früher, wie Pippi Langstrumpf, doch der Kern der Utopie ist nicht mehr da. Bodentiefe Fenster – bodenlose Gegenwart.“ [Klappentext, gekürzt]
- 800-Seiten-Kindheits-und-Erinnerungsbuch über die BRD
- sehr überbordend, verspielt, voller Zitate und Zeitgeschichte
- vielleicht zu viel Retro-Kitsch, zu gewollt… aber die Welt und das Milieu sind sehr gut getroffen
- Rezensionen auf Perlentaucher.de
„Ein Spiegelkabinett der Geschichte im Kopf eines Heranwachsenden: Erinnerungen an das Nachkriegsdeutschland, Ahnungen vom Deutschen Herbst; das dichte Erzählgewebe ist eine explosive Mischung aus Geschichten und Geschichte, Welterklärung, Reflexion und Fantasie: ein detailbesessenes Kaleidoskop aus Stimmungen einer Welt, die 1989 Geschichte wurde. Ein mitreißender Roman, der den Kosmos der alten BRD wiederauferstehen lässt.“ [Klappentext, gekürzt.]
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3. „Winters Garten“, Valerie Fritsch, Suhrkamp
- eine seltsame Kleingartenkolonie – und dahinter die Stadt, Zivilisation, die zerfällt: ein dystopischer, aber sehr märchenhafter und stiller Roman über Alter und Ende
- altmodische Sprache, wahrscheinlich kaum Plot oder Überraschungen, erzählerische Raffinesse: das Buch funktioniert über Atmosphäre. 160 Seiten eigentümliche, bedrohliche Atmosphäre? das klingt machbar und sympathisch!
- aber: vielleicht trotzdem nur Kitsch und zäher, barocker Quatsch? wie ihr Klagenfurt-Video?
- Rezensionen auf Perlentaucher.de
„‚Winters Garten‘, so heißt die idyllische Kolonie jenseits der Stadt, in der alles üppig wächst.Valerie Fritsch erzählt von einer Welt aus den Fugen. Und von zwei Menschen, die sich unsterblich ineinander verlieben, als die Gegenwart nichts mehr verspricht, die Häuser und Straßenzüge verfallen, die wilden Tiere in die Vorgärten und Hinterhöfe eindringen.“ [Klappentext, gekürzt.]
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4. „Siebentürmeviertel“, Feridun Zaimoglu, Kiepenheuer & Witsch
- 800 Seiten in der Türkei der 30er/40er Jahre
- sehr wuchtig, sprachverspielt, überraschend, episch: ich kenne von Zaimoglu „Kanak Sprak“ und „Liebesmale, scharlachrot“, und beides war mir zu gewollt, zu poetry-slam-haft und pubertär. der Ton in „Siebentürmeviertel“ ist selbstbewusster.
- Rezensionen auf Perlentaucher.de
„Eine fremde und faszinierende Welt, in der sich ein deutscher Junge behaupten muss: Es ist das Jahr 1939, und Wolf findet sich in Istanbul wieder, in der Familie von Abdullah Bey und mitten im Siebentürmeviertel, einem der schillerndsten Stadtteile der Metropole, in der Religionen und Ethnien in einem spannungsreichen Nebeneinander leben. Was als vorübergehende Maßnahme gedacht war, wird zu einer Dauerlösung, und Wolf muss sich zurechtfinden in diesem überwältigenden Kosmos. Er wird von Abdullah Bey an Sohnes statt angenommen, besucht die Schule und erobert sich seine Stellung unter den Jugendlichen des Viertels. Als er langsam zu begreifen beginnt, welche Rolle Abdullah Bey wirklich spielt, gerät er in große Gefahr.“ [Klappentext, gekürzt.]
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5. Getraud Klemm, „Aberland“, Droschl
- Baden bei Wien: eine Mutter Ende 50 und ihre Tochter Mitte 30 hadern mit ihren Beziehungen, Rollen und dem bürgerlichen Druck.
- 2014 erschienen, ebenfalls angelesen und gemocht: „Herzmilch“ (Perlentaucher)
- die meisten Bekannten, die bisher Gertraud Klemm lasen, sagen: mitteltiefgründig, mittelambitioniert, mittelinteressant. mal sehen.
- Rezensionen auf Perlentaucher.de
„Elisabeth, 58, versucht würdevoll zu altern. Ihr gutbürgerliches Leben ist am ehesten charakterisiert durch das, was sie alles nicht getan hat: sie hat nicht studiert und nicht gearbeitet, sie hat ihre Kinder nicht vernachlässigt und ihren Mann nicht mit dem Künstler Jakob betrogen, sie hat der Schwiegermutter nicht die Stirn geboten und stellt noch immer nicht den Anspruch, ins Grundbuch der Jugendstilvilla eingetragen zu werden. Mit Zynismus und verhaltener Selbstreflexion beobachtet sie das Altern der Frauen um sie herum. Und sie beobachtet ihre Kinder, vor allem Franziska, 35, die zu Wutausbrüchen neigt, mit den Anforderungen der Gesellschaft an ihre Mutterrolle hadert.“ [Klappentext, kaum gekürzt… weil er sehr gut geschrieben ist!]
6. Jenny Erpenbeck, „Gehen ging gegangen“, Knaus
- Professor mit Sinnkrise sucht Kontakt zu Geflüchteten am Berliner Oranienplatz
- politischer, aber poetischer Roman über die Frage, was Engagement bewegt und was Menschen einander geben können.
- ich mochte „Das alte Kind“ nicht, Erpenbecks staubige, viel zu betuliche Kurzgeschichten. auch hier im Portrait wirkt sie verkrampft (Link: könnte aber auch an der Journalistin liegen). aber „Heimsuchung“ gehört zu meinen Lieblingsbüchern: ich bin gespannt, wie modern/altmodisch der neue Roman mit Sprache und Themen umgeht… aber bleibe etwas vorsichtig.
- Rezensionen auf Perlentaucher.de
„Wie erträgt man das Vergehen der Zeit, wenn man zur Untätigkeit gezwungen ist? Richard, emeritierter Professor, kommt durch die zufällige Begegnung mit den Asylsuchenden auf dem Oranienplatz auf die Idee, die Antworten auf seine Fragen bei jenen jungen Flüchtlingen aus Afrika zu suchen, die in Berlin gestrandet und seit Jahren zum Warten verurteilt sind. Und plötzlich schaut diese Welt ihn an, den Bewohner des alten Europas, und weiß womöglich besser als er selbst, wer er eigentlich ist.“ [Klappentext, gekürzt.]
zwei Titel auf der Kippe:
- „89/90“ von Peter Richter wirkt kompetent geschrieben und unterhaltsam – aber ich habe das Gefühl, schon fünf solcher Bücher zu kennen. wäre das ein unbekanntes Buch/Geheimtipp, ich würde es bald lesen. aber es findet sein Publikum sicher auch ohne mich.
- „Die Stunde zwischen Wolf und Gitarre“ von Clemens J. Setz hat 1000 Seiten und wirkt sehr verspielt: ein Buch, das seinen Leser*innen wahrscheinlich viele Fallen stellt. ich habe Angst, mich auf Figuren einzulassen – wenn mir schon die ersten Seiten signalisieren: da geht es eher um literarische Spiele, Fragen der Perspektive, Überraschungen und Überrumpelungen.
mehr:
Hallo Stefan,
schade, dass du 89/90 nur auf die Warteliste setzt. Auch wenn ich vielleicht durch meine (fast) dresdnerische Herkunft nicht ganz unparteiisch an das Buch heran gehen konnte, so empfinde ich es weniger als Wendebuch, sondern mehr als ein Aufzeigen der Anfänge dessen, was aktuell mit den Stichworten Heidenau, Pegida und Meißen in Verbindung gebracht wird. Vielleicht bekommt das Buch bei dir noch eine Chance.
Gruß vom glücklichen Leser Marc
Hallo Stefan, bei Witzel kann ich Entwarnung geben. Das ist alles, aber kein Retro-Kitsch. Für mich ist »Der Teenager« schon jetzt eines, wenn nicht DAS Buch des Jahres. lg_jochen
Diese Titel sprechen mich auch sehr an, die Klemm https://literaturgefluester.wordpress.com/2015/08/22/aberland/, die ich schon gelesen habe, als letztes, vier andere werde ich vermutlich lesen und den Witzel, der mich vom Titel anspricht, muß ich mir erst organisieren, aber da gibt es noch einige andere interessante Bücher, wie ist es mit dem von der Monique Schwitters https://literaturgefluester.wordpress.com/2015/08/25/eins-im-anderen/, das ich von den bis jetzt gelesenen, für das poetischste halte, dicht gefolgt, von Key Weyand https://literaturgefluester.wordpress.com/2015/08/28/applaus-fuer-bronikowski/, der ja auch noch mit seinem Realismus punktet und Vladimir Vertlib, ehe ich es vergesse, spricht mich auch noch sehr an, ebenso „89/90, das liegt schon auf meinem Badezimmerlesestoß und den Trojanow lese ich gerade, ein genau recherchiertes Buch, mit einem sehr wichtigen Thema, das aber ohnehin leider nicht mehr sehr unbekannt ist, würde ich mal schätzen
Hallo Stefan,
bitte lies und rezensiere unbedingt das Buch von Jenny Erpenbeck, mich würde sehr deine Meinung dazu interessieren. 😉
Bisher hab ich von ihr nur Dinge, die verschwinden gelesen und das mochte ich sehr.
Liebe Grüße,
Janine