LobbyControl: gegen Lobbyismus im Berliner Regierungsviertel

Lobbycontrol Führung Berlin Regierungsviertel

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Der Expertenstaat

LobbyControl will aufdecken, wie Konzerne, Verbände und Agenturen den Bundestag beeinflussen.

Ein Rundgang durch den „Lobbydschungel“ im Berliner Regierungsviertel.

von Stefan Mesch

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Es geht um Input von Expertise.“

Dietmar Jazbinsek steht zwischen Reichstagsufer und Bundespresseamt. Oktober, Sonntagnachmittag. Viel Wind. Viel Sonne. Ausflugswetter: Heute haben über 40 Aktivisten, Touristen, Interessierte eine zweistündige Führung durch Berlin-Mitte gebucht.

Und Sie schreiben mit. Für wen?“ – „Edition Büchergilde.“ – „Aha.“

Ich sage nicht, dass wir Texte zum Thema „Expertentum“ sammeln – zu Wirkung und Vermarktung des Begriffs „Experte“. Doch obwohl er mein Thema nicht kennt, spricht Lobby-Kritiker Jazbinsek auf seiner lobbykritischen LobbyControl-Führung durch die Lobby-Szene Berlins zwar viel von Lobbyisten – aber fast genauso viel, immer weiter, von Experten, Expertise, Expertenwissen. Als gehöre das zusammen: Experten als Lobbyisten. Lobbyisten als Experten.

Lobbyismus kommt von Lobby – dem alten englischen Ausdruck für die Vorhalle des Parlaments. Dort tummelten sich Vertreter/innen unterschiedlicher Interessen, um mit Abgeordneten ins Gespräch zu kommen. Lobbyisten werden manchmal mit schwarzen Koffern voller Geld assoziiert. Dabei sind medialer Druck oder Arbeitsplatzargumente meist wichtigere Mittel.*

Es geht uns nicht um Schwarzgeld, Korruption, Bestechung“, sagt Jazbinsek. „Das überwachen Vereine wie Transparency International.“ LobbyControl e.V. beobachtet seit 2005 Lobbyisten. Die „Initiative für Transparenz und Demokratie“ sitzt in Köln, hat zehn Mitarbeiter und ein kleines Büro in Berlin. Eine eigene Watchgroup – nur für legalen Lobbyismus? Kurz klingt das für mich zweitklassig. Nebensächlich.

Denn beim Wort „Lobbyist“ denke ich an Betteln, Nörgeln, Jammern, Buhlen. An einen schwitzigen Händedruck, gequältes Lächeln, an ängstliche Milchbauern, die von der CSU neue Subventionen erquängeln, an streikende Hebammen, denen niemand zuhört, oder an die Angst der Rechten vor einer dubiosen „Homolobby“: Berufs- oder Bevölkerungsgruppen, die Gefahr laufen, abgehängt zu werden – und laut um Einfluss flehen. Nervige Bittsteller. Zaungäste. Unterlegene.

Auf 622 Bundestagsabgeordnete kommen geschätzte 5.000 Lobbyisten, allein in Berlin. Sie wollen der Macht ganz nah sein, auch räumlich, und mieten ihre Büros zwischen Reichstag und S-Bahnhof Friedrichstraße, zwischen Gendarmenmarkt und Potsdamer Platz. PR-Agenturen, Verbände und sogenannte Denkfabriken, die gezielt Einfluss auf Politik und Gesetzgebung, Medien und Öffentlichkeit nehmen wollen. Um 736 Abgeordnete des Europäischen Parlaments in Brüssel kümmern sich bis zu 20.000 Lobbyisten; auf einen Volksvertreter kommen also mehr als 27, schreibt Evelyn Runge in der ZEIT.

Wir stehen vor der geschlossenen Tür eines Bürogebäudes, in dem u.a. der Deutsche Brauer-Bund für „Erhaltung und Förderung des guten Rufs des deutschen Bieres“ kämpft und wirbt. Wir sind 15 ernste Menschen in Turnschuhen und Übergangsjacken, zwei Drittel über 50, der Rest studentisch. Neben uns ein Hundehaufen. Teure Cafés. Der großen Nachfrage wegen finden heute zwei LobbyControl-Führungen parallel statt: Dietmar Jazbinsek hat das Konzept vor sieben Jahren entwickelt. Um vor Ort zu informieren. Und, um als Aktivist im Viertel der Lobbyisten Präsenz zu zeigen – nah an Empfangstresen, Bürotüren. Und Lobbys.

Tatsächlich passen Industrieverbände und Interessensgruppen wie der Brauer-Bund schlecht zu meinem Bild vom schwitzigen, bettelnden Lobbyisten: „Unternehmen und ganze Branchen suchen Nähe und Kontakt zum Parlament“, erklärt Jazbinsek, „um persönlich auf Gesetzesentwürfe und das politische Klima Einfluss zu nehmen.“ Sie laden auf Partys und Empfänge, schalten Anzeigen, geben Studien und Gutachten in Auftrag, wollen die öffentliche Meinung prägen, Appelle in Medien platzieren.

Seit 1969 kürt das Tabakforum einen prominenten „Pfeifenraucher des Jahres“, charmant, ohne offene Agenda. „2013 zum Beispiel den Herrn Lammert, CDU. Präsident des deutschen Bundestags.“ Der Brauer-Bund ernennt einen „Botschafter des Bieres“, zuletzt u.a. Cem Özdemir, Peter Altmaier, Volker Kauder.

Nichts davon ist verboten. Einiges davon ist anrüchig. Das Meiste ist profane, handwerklich gut umgesetzte Öffentlichkeitsarbeit. Aber zusammengenommen zeigen die Dokumente, wie Konzerne in Deutschland vorgehen, wenn sie Einfluss auf Medien, Politik und Öffentlichkeit nehmen, schreiben Sebastian Heiser und Martin Kaul 2011 in der taz über die „Geheimpapiere der Atom-Lobby“.

Heute, am geschlossenen Brauer-Bund-Büro, erinnert Jazbinsek an die Debatten um Alkopops und jugendliches „Komasaufen“ ab Mitte der Nuller Jahre: Um erst mehr Bier, bald härteren Alkohol bei jungen Frauen abzusetzen, brachten Spirituosenhersteller fruchtige und süße Mischgetränke auf den Markt und warben um junge Käufer. Der Drogen- und Suchtrat forderte Werbeverbote.

Der Brauer-Bund, der Profisport, die Industrie- und Handelskammer, die Werbewirtschaft… alle stellten sich gegen den Suchtrat und gaben eigene Gutachten in Auftrag.“ Von Brauern bezahlte Experten sollten belegen: Falls durch neue Steuern, Werbeverbote und staatliche Regulierung der Absatz und Profit von Brauereien sinkt, geht der deutsche Vereinssport kaputt – weil die Vereine von Brauereien gesponsert werden. Die Bundesliga ist in Gefahr. Das Privatfernsehen. Und: öffentliche Toiletten!

Ein Werbeverbot für vier Billboards [im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg] gilt als unwahrscheinlich. Die Firma Ströer durfte sie aufstellen, weil sie die Instandhaltung einiger Brunnen und öffentlicher Toiletten im Bezirk finanziert. Das ist Sponsoring im Wert von insgesamt 240.000 Euro im Jahr. Ein Betrag, der dem Bezirk fehlen würde – angesichts des erwarteten Haushaltsdefizits von 4,9 Millionen Euro für 2013, schreibt die taz 2013 über den Versuch einer Bürgerinitiative, Außenwerbung einzuschränken – und die unerwarteten Verstrickungen, finanziellen Abhängigkeiten zwischen Staat und Firmen, die solchem Widerstand im Weg stehen.

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Es geht um Vermarktung von Expertise: Interessenverbände geben Gutachten in Auftrag. Für viel Geld kann man bei Agenturen nachweisen lassen, dass z.B. die Erde eine Scheibe ist“, höhnt Jazbinsek. Dabei sind Gutachter, Studien, Experten für parlamentarische Entscheidungen unerlässlich. Denn bevor Abgeordnete über Gesetzesvorhaben abstimmen, müssen sie alle Risiken und Folgen abzusehen versuchen: Sie rufen Kommissionen ein. Kontaktieren Wissenschaftler, Aktivisten, NGOs. Und eben: Wirtschaftsvertreter.

Zu oft, behauptet Jazbinsek, finden solche von der Wirtschaft finanzierten Experten heraus: Was Konzernchefs gut tut, ist für alle gut. Nur, was die Wirtschaft stärkt, hat Zukunft. Je schwächer der Staat, desto stärker die Segnungen des freien Markts. Von Konzernen und Verbänden finanzierte Gutachten entwerfen einen „Himmel“ – oder eine „Hölle“: Überall, wo durch Gesetze und Kontrollen wirtschaftliche Hürden gesetzt oder die Rechte und Interessen Schwächerer über das Wohl von Arbeitgebern gestellt werden, sind Wachstum, Fortschritt, Freiheit in Gefahr. Die einzige Chance auf Zukunft… und auf saubere öffentliche WCs? Lobbyisten sagen: weniger Reglements. Mehr Raum für Unternehmen und Konzerne. Ein starker Staat tue allen weh. Nur eine starke Wirtschaft bringt Menschen weiter.

Fehlt dem Brauer-Bund Geld für Werbung, sehen die Experten des Brauer-Bundes das deutsche Qualitätsfernsehen in Gefahr: ProSieben und RTL II“, sagt Jazbinsek. Die Gruppe lacht – verbittert, überheblich. Die grauhaarige Krankenschwester mit dem Stop-CETA-Button. Die grauhaarige Lehrerin mit Jamie-Lee-Curtis-Frisur. Das Paar mit Trekkingrucksack, Pudelmützen. Keiner hier sieht aus, als könne er mehr als acht private Sender nennen. Oder zwei Serien aus dem aktuellen RTL-II-Programm.

Lobbyisten stellen sich gerne als Informationsdienstleister für die Politik dar. Mit zahlreichen Studien sollen die eigenen Positionen sachlich untermauert werden. Immer wieder fällt auf, dass der vermeintliche wirtschaftliche Nutzen überzogen dargestellt wird, wenn Unternehmen etwas politisch durchsetzen wollen. Ein Beispiel aus jüngster Zeit: die TTIP-Studien der Bertelsmann-Stiftung.*

Wir stehen noch immer auf dem Bürgersteig. Dietmar Jazbinseks Tour führt von einer Bürofassade zur nächsten: Er weist auf Firmenschilder aus Messing oder gebürstetem Stahl, zeigt auf die Eingangstüren und dunklen Lobbys. Doch zu sehen gibt es nichts. Alles hat geschlossen: Sonntag.

Unsere Tour ist ein Selbstläufer. 2014 hatten wir 150 Führungen.“ Gewöhnlich finden sie werktags statt – doch gestern war eine große Demo gegen TTIP, das US-Freihandelsabkommen. „Über Lobbyismus als solchen brauche ich Ihnen nicht viel zu erzählen. Oder? Sie waren gestern auch alle auf der Demo?“ Jeder nickt. 15 Leute, ohne Ausnahme. „Dazu möchte ich Ihnen gratulieren!“

Knapp die Hälfte der Teilnehmer lebt nicht in Berlin. Doch alle haben gestern protestiert – und lassen mit der 10 Euro teuren Führung ihr persönliches Protest- und Engagement-Weekend ausklingen. Spricht Jazbinsek von „Front Groups“ oder „Third Parties“, nicken die älteren Männer. Bei trockenen Witzen schnauben und seufzen die Frauen. Er spricht über „Frau Merkel“ und „den lieben Herrn Söder“, und irgendwer mit grauem Haar wirft allen bitteren Pointen ein süffisantes „Na: Das ist doch toll!“ hinterher.

Seit einigen Jahren schaffen sich Lobbyisten zudem (halb)öffentliche Orte: Flagship-Stores und Showrooms, Musterfilialen und öffentliche Cafés, bis hin zu großen repräsentativen Veranstaltungsräumen (Allianz, Telekom). Dort veranstalten Verbände und Unternehmen Diskussionsrunden und Events, zu denen auch die Politik regelmäßig eingeladen wird. Gerne werden diese neuen Orte auch als Form der Transparenz beschrieben. Allerdings bleibt diese „Transparenz“ oberflächlich.*

Wir stehen am Firmenschild der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, die für freie Wirtschaft und die Interessen der Arbeitgeber wirbt – indem sie eigenes Schul- und Lehrmaterial für den Unterricht anbietet. Dann stehen wir an der Tür der American Chamber of Commerce – deren Anwälte verhindern konnten, dass Togo abschreckende Fotos auf Zigarettenschachteln druckt. Im überdachten Zollernhof des ZDF stehen wir zum ersten Mal länger als zwei Minuten in einem Gebäude. „Manchmal werfen sie mich hier raus. Heute störe ich wohl gerade nicht?“

In mehreren Empfangshallen und Lobbys hat Jazbinsek Hausverbot, „wegen despektierlicher Äußerungen“. Manchmal, sagt er, kommen auch Lobbyisten an die Türschwellen und schimpfen – oder melden sich als Teilnehmer zu Führungen an, um mitzuhören. Er klingt stolz.

Kurz führt er uns in den Showroom von Daimler-Benz. Doch noch bevor er sprechen kann, fragen Anzugträger, was wir wollen. „Nur kucken“, sagt er, dreht sich um – grundlos triumphierend, als hätte er gerade etwas bewiesen. Eine Grauhaarige sagt ihrem Begleiter: „Er wollte uns nur zeigen, wie schnell er wieder gehen muss!“

Jazbinek lobt Sahra Wagenknechts „Impertinenz“ in Talkshows. Er freut sich über die aktuellen VW- und ADAC-Skandale. „Wie kindlich, eigentlich“, sagt mein Freund, als ich vom Nachmittag und all den Fußmatten, Schwellen, Türklinken erzähle: „Zwei Stunden lang im Kalten stehen, vor Firmen- und Klingelschildern? Im Grunde ist das lächerlich.“

Im 300 Seiten dicken „LobbyPlanet“, dem „Lobbyführer“ durch Berlin, zeigt LobbyControl in mehreren Routen, „wo zwischen touristischen Sehenswürdigkeiten und glitzernden Einkaufswelten Politik gemacht wird.“ Der Ton erinnert mich an Foodwatch, Thilo Bodes gut gemeinte und erfolgreiche – aber mir oft populistisch, patzig scheinende – Watchgroup zum Thema Ernährung und Etikettenschwindel:

Unseren Kindern wird in der Schule der Kopf verdreht mit Schulmaterialien und Kooperationsprojekten, die von Unternehmen wie RWE, VW oder Wirtschaftsverbänden angeboten werden: Mittlerweile beteiligen sich 16 der 20 umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland an der Erstellung von Unterrichtsmaterialien* Fotos zeigen LobbyControl-Aktivisten mit Schildern: „Bildung statt Meinungsmache!“ Simple Slogans, Unterschriftenlisten. Viel Stolz und viel Empörung: Gestört wird das diskrete Beisammensein von Politikern und Interessenvertretern allenfalls durch die Stadtführungen von LobbyControl, die regelmäßig vor der Aufzugtür Station machen.*

LobbyControl hat einen Etat von 600.000 Euro. „Wenn man erstmal Tagesschau- und Heute-Journal-tauglich ist“, erklärt Jazbinsek, „wachsen auch die Spenden.“ Der Verein übt Kritik an Studien und Konzern-PR, will Gegengewicht und Korrektiv sein, kämpft um Deutungshoheit. Meldungen wie „Vom Ministerium zur Allianz-Lobbyistin: Ex-Staatssekretärin (FDP) wechselt die Seiten“ sollen aufrütteln. Politischen Druck aufbauen.

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Besonders die bezahlten Nebentätigkeiten von Abgeordneten sorgen für Debatten um Einflussnahme, Interessenkonflikte und Transparenz: LobbyControl „setzt sich für erweiterte Offenlegungspflichten ein.“ Oft geht es auch um Greenwashing: den Versuch von Unternehmen, sich durch PR-Aktionen besonders umweltfreundlich zu geben. Und um die „Drehtür“, mit der Lobbyisten in die Politik und Politiker in Lobby-Positionen wechseln und sich ihr Insiderwissen von Konzernen bezahlen lassen. Das „Lobbypedia“-Wiki dokumentiert Verstrickungen.

Lobbyismus zeigt sich deutlicher im öffentlichen Raum. So hängten im Wahlkampf 2013 nicht nur die Parteien Plakate auf, sondern auch Lobbyverbände wie ‚Die Familienunternehmen‘. Auch wenn sich Lobbykampagnen an die Öffentlichkeit wenden, sollen ihre eigentlichen Hintergründe und Ziele, manchmal auch Initiatoren und Geldgeber, nicht selten lieber unerkannt bleiben. Es bleibt für die Öffentlichkeit in vielen Fällen unbekannt, wer auf wichtige Entscheidungen maßgeblich Einfluss hatte.*

Wird wirklich nur, wer sich eigene Räume im Regierungsviertel leisten kann, zuverlässig gesehen und gehört? „Man muss nah an der Politik sein und Abgeordnete ‚positiv begleiten‘, mit viel persönlichem Kontakt. Freunde macht man sich am besten, wenn man sie noch nicht braucht. Erst schafft man Nähe durch Einladungen, gemeinsames Feiern, Preise wie ‚Pfeifenraucher des Jahres‘. Die ersten Forderungen kommen viel später“, erklärt Jazbinsek. So macht Kapital politische Einflussnahme leichter: Verbände behalten Jugend- und Nachwuchsorganisationen der Parteien im Auge wie Bundesliga-Scouts – um möglichst früh an Jungpolitiker zu treten.

Wer einen besseren Zugang und das bessere Kontaktnetzwerk hat, wer früher an Informationen kommt, ist klar im Vorteil. Im Vorteil gegenüber Wettbewerbern, aber auch allzu oft gegenüber schwächeren, am Allgemeinwohl ausgerichteten Interessen. Diese schwächer repräsentierten Interessen geraten leicht unter die Räder.*

Dietmar Jazbinsek ist Mitte 50. Er ist Gesundheitswissenschaftler und Journalist; arbeitet vor allem gegen Tabakkonzerne: die Zigarettenlobby. Während es kühler wird und er uns immer neue Empfangstresen und Fußmatten zeigt, veröffentlichen die ersten Zeitungen Analysen der TTIP-Demo vom Vortag: Was spricht gegen Freihandel? Lassen sich die Demonstranten von simplem Anti-Amerikanismus leiten? Warum marschierten so viele Rechte mit? „Die Proteste gegen TTIP bedienen vor allem rechtspopulistische Ressentiments“, fasst Spiegel Online zusammen.

Ich bin auch dagegen. Weil damit sozusagen die Wirtschaft quasi über die Politik gesiegt hätte und wir dann in allen möglichen Lebensbereichen kein Mitbestimmungsrecht mehr hätten“, erklärt eine Anti-TTIP-Demonstrantin dem Vlog-Reporter Tilo Jung: „Und das würde dann von den Konzernen hier strukturiert werden, das Leben hier, mehr oder weniger, in den sich jetzt noch demokratisch nennenden Ländern. Oder Deutschland. Das wäre schlimm!“

Das Kräfteverhältnis von Journalismus zu PR verschlechtert sich weiter, und auch die Grenzen verwischen häufiger. Vorgefertigte Informationen von Interessengruppen („PR-Material“) finden immer wieder ungefilterten Zugang zu den Medien. Vorproduzierte Beiträge, mediengerecht aufgemachte „Studien“ und attraktives Bildmaterial werden angesichts von Zeitdruck und Personalmangel teilweise ungeprüft übernommen. Über die Beeinflussung der Öffentlichkeit und spezifischer Zielgruppen wie Wissenschaftler/innen, Journalist/innen oder anderen Multiplikatoren üben „Public Affairs“-Agenturen indirekte Einflussnahme auf die Politik.*

LobbyControl will die „massiven Ungleichgewichte“ sichtbar machen – und inszeniert sich als mutiger, engagierter David im Kampf gegen Goliaths, die allesamt „in bester Lage“ Büros einrichten und Politiker hofieren können: „TTIP läuft auf eine Art Staatsstreich hinaus“, sagt Jazbinsek. Alle nicken. „US-Knast“, sagt Jazbinsek, wenn er „Gefängnis“ meint. Alle nicken. „Unsere liebe Frau Merkel“, „unser lieber Herr Kauder“… finden alle Zuhörer diesen „Heute Show“- Sarkasmus gewitzt?

Zu vieles hier klingt für mich harsch, polemisch, vage und pauschal – nach Buhlen, Jammern, Nörgeln, Quängeln: Die Anti-TTIP-Demonstranten gestern, die Anti-Lobby-Aktivisten heute haben den Ton von Bittstellern, Abgehängten, Unterlegenen. Genau so, wie ich mir Lobbyisten vorstellte, bisher: „Und hier ist noch ein teures Büro! In bester Lage!“, sagt Dietmar Jazbinsek triumphierend. Vor wie vielen Klingelschildern kann man stehen und entrüstet sein, in 120 Minuten?

Sobald Begriffe wie „US-Knast“ fallen, lege ich Zeitungsartikel fort. Schon bei „die Tabaklobby“, „die Atomlobby“ fragte ich mich bisher: Sind das nicht Kampfbegriffe? Schreckgespenster? Schubladen wie die „Homolobby“? Wenn Foodwatch den „Goldenen Windbeutel“ für „die dreisteste Werbelüge“ verleiht, klingt das für mich so populistisch, flach, bemüht und abstoßend wie die PR-Texte der Brauer zum „Botschafter des Bieres“. Ich war auf keiner TTIP-Demo. Ich klicke Online-Petitionen fort, deren Anliegen mir wichtig sind – statt meinen Namen unter Texte zu setzen und neben Rednern zu laufen, bei denen mir ein Satz, eine Wendung grell, böse, unpräzise, zu populistisch scheint. Egal, wie gut dieser Aktivismus gemeint scheint.

„In der U-Bahn wurde uns vorgeworfen, dass wir das Kind instrumentalisieren“, erzählt ein Elternpaar: An ihrem Kinderwagen steht auf großen, aber stümperhaft bemalten Pappquadraten „STOP TTIP“. Die Gruppe lacht über den Vorwurf. Ich denke: Doch. In meiner Kindheit war mein Vater CDU-Mitglied. Ich will nicht wissen, welche Schilder und Slogans er an meinen Kinderwagen geheftet hätte.

Deregulieruns- und Privatisierungsmaßnahmen verkleinern den demokratischen Raum. Die Entgrenzung der Märkte hat die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zugunsten großer Unternehmen und der Kapitalseite verschoben. Produktionsstandorte werden verlegt, Gewinne steuersparend zwischen Tochtergesellschaften verschoben und Aktienkurse besser versorgt als die eigenen Angestellten.*

Sind Zuhörer so homogen, dass sich ein Redner kaum Mühe geben muss, sie noch zu überzeugen, sprechen Amerikaner von „preaching to the choir“: Kein Priester muss versuchen, mit seiner Predigt den Kirchenchor zu bekehren – denn der hängt eh schon an seinen Lippen. Und obwohl Jazbinsek ruhig, offen, einfach und, im Großen, überzeugend spricht… fehlt der Tour alle Spannung: Ist jeder hier, um sich erzählen zu lassen, was er eh schon weiß? Wollen wir uns als Protest- und Kapitalismuskritik-Experten fühlen – indem ein echter Experte unsere Ängste, Ahnungen, Ressentiments bestätigt? Und uns persönlich zum Demonstrieren gratuliert?

Lobyisten prägen mit, wie unsere Welt aussieht“, fasst Jazbinsek zusammen. Die Kommissionen im Bundestag laden „zu Experten ernannte Interessensvertreter ein. Vordergründig geht es um externen Sachverstand, Expertise.“ Aber, so „LobbyPlanet“: „Das Ideal einer ausgewogenen und gleichberechtigten Interessenvertretung, bei der sich das beste Argument durchsetzt, ist eine Illusion.“

Ich bin Journalist. Fakten müssen stimmen. Und ich bin Autor. Ich will, dass der Ton stimmt. Jazbinseks Anekdoten sind oft großartig – aufschlussreich, klar, mit überraschenden Zusammenhängen: „Taiwan und der Iran sind wichtige Märkte für US-Tabakkonzerne. Denn Rauchen gilt als patriarchal. Überall, wo Frauenrechte erst allmählich zum Thema werden, werden auch Zigaretten begehrter: Sie werden zum Symbol moderner, emanzipierter Frauen.“

Warum kommen mir Sätze wie „Verbände wollen die öffentliche Meinung prägen, Appelle in Medien platzieren“ grenzwertig vor: einen Tick zu grell, populistisch? Warum hätte ich einen Satz wie „Die Atomlobby will ihre Botschaften in Medien platzieren“ sofort als „paranoid“ verworfen?

Dazu kommen Stiftungen und sogenannte Denkfabriken (Think Tanks). Kampagnen sollen den Eindruck vermitteln, dass man eine mehrheitsfähige Meinung vertritt. Mit Slogans wie ‚Mehr Mut zum Markt‘ (Stiftung Marktwirtschaft) soll etwa der Rückbau des Sozialstaates in den Köpfen der Menschen als unumgänglich und zu ihrem eigenen Wohl geschehend verankert werden.*

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2011 entdeckten US-Wirtschaftspsychologen den „IKEA-Effekt“: Menschen falteten Origami-Tiere und sollten eine Summe festlegen, die sie für ihre fertigen Tiere zu zahlen bereit waren. Was sie selbst falteten, kam ihnen wertvoller vor als die Arbeit anderer. Scheinen uns IKEA-Möbel ein bisschen wertvoller – weil wir Mühe hatten, sie aufzubauen? Sind wir so stolz auf unsere Leistung, dass Dinge für uns kostbarer werden… die uns etwas abverlangen?

Ich gebe noch eine Liste herum“, sagt Dietmar Jazbinsek zum Abschied: „Tragen Sie Ihre Mailadressen ein, dann schicken wir weitere Informationen.“ – „Sie meinen aber nicht den LobbyControl-Newsletter?“, fragt eine Grauhaarige zurück. „Den haben wir doch schon lange!“ Wieder nicken alle. Preaching to the choir.

Nach Auskunft des Bundestags haben fast 1000 Lobbyisten dauerhaften Zugang zu Gebäude, [weil ihnen die parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen Hausausweise ausstellen]. Sie können ihrer Tätigkeit im Verborgenen nachgehen. Der Bundestag weigert sich, die Namen der Einflüsterer bekannt zu geben. Es wird nicht einmal eine Liste ihrer Organisationen veröffentlicht, schreibt Robert Roßmann in der SZ.

So lange Büros im Regierungsviertel den Verbänden wichtig sind, um Nähe, Präsenz zu zeigen… sind Demonstrationen, Lobbyführungen, aus-dem-Haus-Gehen den Gegnern von Verbänden wohl genauso wichtig – aus den selben Gründen. Empfehlen kann ich den Spaziergang nicht – wenn alles auch ausführlicher, faktensatt im „LobbyPlanet“ steht und online. Doch vielleicht geht es weniger um meinen persönlichen Widerwillen, zuzuhören, wenn Menschen „unsere liebe Frau Merkel“ sagen, oder „sich jetzt noch demokratisch nennende Länder“.

Sondern darum, sich anzuziehen. Eine Tour zu buchen. Zu bezahlen. Auf Fußmatten und neben Hundehaufen zu stehen, zu frösteln und durch die Glasscheiben auf „die da drinnen“ zu schauen, die mit „denen da oben“ per du sind. Dass ich bisher bei Lobbyisten an schwitzige Schlipsfiguren dachte, die jeder ignoriert, und bei „die Tabaklobby“ an polemische Kampfbegriffe, zeigt, wie dringend es Gegengewichte braucht. Fakten und Kontexte, wie sie LobbyControl seit zehn Jahren sammelt, gewichtet, erklärt und verbreitet.

Abgeordnete sind nicht dumm“, sagt Jazbinsek. „Sie wissen, dass Wirtschaftsvertreter einseitig argumentieren – und hören bewusst auch Gegenstimmen an.“ Im besten Fall sind die Kommissionen Sammelbecken für jede Sorte Experte. Im schlechtesten Fall machen Lobbyisten Stimmung im Parlament. Und Anti-Lobbyismus-Lobbyisten Stimmung vor der Tür. Stimmungsmache gegen Stimmungsmacher. Feuer – bekämpft mit Feuer.

Mit * markierte Zitate: LobbyPlanet Berlin 2015, teilw. gekürzt

lobbycontrol berlin führung 2015

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Stefan Mesch, geboren 1983, ist Autor und Kulturjournalist. Er schreibt für ZEIT Online, der Freitag, Deutschlandradio Kultur und den Berliner Tagesspiegel und ist Experte für u.a. US-Literatur, Superheldencomics, die Seifenoper „Verbotene Liebe“ und das Entdecken vergessener Bücher.

mehr Infos zum „Experten“-Projekt der Edition Büchergilde: hier.

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