Pro Jahr bestehen 10 bis 15 Studierende die Aufnahmeprüfung und kommen – oft direkt nach dem Abitur – in die Stadt. Etwa fünf Jahre später schreiben sie eine Abschlussarbeit: manchmal ein wissenschaftlicher oder journalistischer Text. In vielen Fällen aber: ein Debütroman. Viele dieser Titel werden später in Verlagen veröffentlicht – und ich lese vier, fünf von ihnen pro Jahr.
Seit dem Ende der 90er Jahre sind über 50 Bücher von jungen Autorinnen und Autoren, die in Hildesheim studiert haben, in großen Verlagen erschienen. Literaturkritiker Stefan Mesch stellt fünf persönliche Favoriten vor.
Ein solcher Tonfall, ein solches Thema misslingt fast immer: Eliza zieht nach Berlin. Bisher lebte sie mit ihrer großen Schwester in einem Internat bei Amsterdam, ihre Mutter hat eine junge Geliebte in Paris, ihr Vater eine neue Frau und weitere Kinder. Zwei ältere Zwillingsbrüder leben in Rumänien, bei den Großeltern. Nora Wicke lässt eine heimatlose Frau aus einer oft abweisenden, verstreuten Großfamilie mit serbischen, rumänischen und deutschen Wurzeln durch Europa reisen, jahrelang: Nebenjobs, Kälte, vorsichtige Briefe und Annäherungen. Ein leiser, melodischer, manchmal schleppender Roman über Europa – schwermütig, klug, fast nie kitschig.
Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ blieb mir lange im Gedächtnis – auch, weil so viele Szenen, Einzelteile wie spitzes, ungeschliffenes Metall aus den Kapiteln stechen. „Tango für einen Hund“ ist ein glatteres, schnittigeres Buch – etwas seichter und weniger markant. Doch dafür so stimmig und professionell wie nichts anderes, das ich von Hildesheimern kenne: ein prima Jugendbuch, charmante Unterhaltung, ein wunderbar rundes Ding! Es geht um Weichei Ernesto, der seine Sommerferien in der Lüneburger Heide verschwendet, bis sein etwas dementer, energischer Onkel aus Argentinien einen Roadtrip durch die Pampa Niedersachsens anzettelt. Warmherzig, witzig, mit überzeugendem Ich-Erzähler. Und, versprochen: keine „Tschick“-Kopie.
Autobiografisches Essay, 52 Seiten, Hanser 2016. [nur als E-Book]
Jan gehört zu meinen besten Freunden. Doch richtig nah kommen wir uns selten: Er traut sich als Kulturjournalist oft an die schwersten oder absurdesten Themen. Nur über eigene Ängste spricht er kaum. Wie großartig, dass ausgerechnet hier – in einem 50-Seiten-E-Book über die Mainstream-PC- und Videospiele der 80er, 90er, 00er Jahre – kluge Erinnerungen und Emotionen so viel Raum einnehmen: Jan schreibt, was ihn als Kind an Spielen reizte. Wie sie helfen. Womit sie faszinieren. Experten und Hardcore-Gamer werden Vieles kennen. An einigen Stellen: zu viel Pathos. Doch selbst, wer kein Interesse an Spielen hat, liest Jans Erinnerungen mit Gewinn: kulturwissenschaftliche Beobachtungen – leidenschaftlich, nah, verständlich.
2015 veröffentlichte Anne Köhler einen Roman über eine junge, unglückliche Köchin in Hildesheim – der mich sehr langweilte: Mir war diese Hauptfigur zu zweifelnd, fade, flau. Besonders, weil Annes erstes Buch (2010) eine geisteiche, komplexe, viel liebenswertere Heldin hatte: Anne Köhler! Für jetzt.de schrieb Anne eine Kolumne über alle Nebenjobs, Praktika und bezahlten Projekte ihres Lebens. Wie viele Hildesheimer hatte sie Angst, alles nur oberflächlich zu wissen, zu wenig richtig zu beherrschen. Ihre Textsammlung hinterfragt diese Angst, bleibt aktuell, macht Mut – und empfiehlt sich besonders als Geschenk für Eltern oder Freunde, die nur geradere Lebenswege und Karrieren kennen. Leichte Texte. Schlaue Thesen!
Autobiografisches Sachbuch, 224 Seiten, Hanser Berlin 2012.
(Taschenbuch-Ausgabe 2014 bei Piper, mit neuem Titel: „Wie ich auszog, mich auszuziehen“.)
Um ihr Hildesheimer Kuwi-Studium zu finanzieren, tanzt Funny in einer Rotlicht-Bar in Hannover, nackt. Danach macht sie Diplom – mit einer kulturwissenschaftlichen, feministischen Selbstbeobachtung ihrer Rolle als Pole-Dance-Girl. Wer Spaß- und Comedy-Kolumnen sucht, wird hier enttäuscht: Funny schreibt auf hohem Niveau, häuft akademische Konzepte und Anglizismen. Stellenweise formuliert sie nerdy und verblasen wie ein Gender-Experte in der Spex. Trotzdem ist ihr Experiment so interessant, ihre Beobachtungen so originell, überraschend, kritisch, dass ich das Buch dauernd verschenken will. An jeden, der bei Sex-Workern nur an dümmliche Opfer denkt. Und bei Hildesheim nur an Bürgerlichkeit und Anpassung.
Stefan Mesch, geboren 1983 bei Heidelberg, studierte von 2003 bis 2008 Kreatives Schreiben in Hildesheim. Er lebt und arbeitet als Autor und freier Journalist für u.a. Deutschlandradio Kultur und ZEIT Online in Berlin und schreibt an seinem ersten Roman, „Zimmer voller Freunde“.
Weihnachten. Die Zeit, in der man in die Heimatorte fährt, wo man auf die Schultern geklopft bekommt.
– Schön, dich auch mal wieder zu sehen – Kommst ja gar nicht mehr vobei. – Und den Heimatdialekt kannst du auch nicht mehr.
Und dann, nach einer gewissen Zeit, Vorwürfe. Immer unversteckter, immer expliziter.
– Also, für mich wäre das nichts, in der Großstadt.
– Die ganze Kriminalität, die ganzen Ausländer.
– Ja, das ist ja schön, dass ihr euch Theater leistet. Zahlen wir gern, im Länderfinanzausgleich. Aber irgendjemand muss das Geld halt auch verdienen.
– (Hinter vorgehaltener Hand) Er ist jetzt was Besseres. Er weiß nicht mehr, wo er eigentlich herkommt.
Und dann die Erinnerungen, weswegen man da unbedingt fort wollte.
Die Demütigungen, der Hass. Schwule Sau!, Kommunistendrecksack!
Keine Angst, ich weiß noch, wo ich herkomme. Das vergesse ich euch nicht.
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…schrieb Netzfreund F. neun Tage vor Heiligabend.
„Sehr starke, sehr traurige Zeilen“, kommentierten seine Leser*innen, „Kommt mir bekannt vor“ oder einfach „Oha“ und „Sorry“.
Ich weiß nicht, ob es mir bekannt vorkommen darf oder sollte:
Als Teenager habe ich mehr Mitschüler mit Worten verletzt, als mich verletzten. Ich wurde nie ernsthaft homophob beschimpft oder gemobbt – und mir hat nie jemand gespiegelt, dass ich auf meiner Schule, in meinem Dorf keinen Platz habe. Man fand mich seltsam, affig, abgehoben, arrogant. Manchmal auch einfach langweilig. Ich wusste: So richtig passt das alles nicht, fast immer.
Doch ich sagte viel öfter, lauter, aggressiver „Ich will weg“, „Das reicht nicht“, „Ich fühle mich hier nicht wohl“…
…als dass man mir sagte „Hau ab!“ oder „Du reichst uns nicht!“
Ich dürfte keinen Text posten, wie F. ihn schrieb.
Doch ich überlege fast jeden Tag, sobald mich der Gedanke an mein Dorf, das Leben in der angrenzenden Kleinstadt und das Leben in Heilbronn (…wo drei meiner engsten Freundinnen mittlerweile leben, glücklich) beklemmen oder deprimieren: Darf ich das eng, beklemmend finden – oder bin ich einfach zu stur oder zu blöd, um dort glücklich zu sein?
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„Je weiter ich von dort, wo ich aufgewachsen war, weg kam, desto freier fühlte ich mich, desto mehr kam ich zu mir selbst, desto besser ging es mir.“
…schreibt Daniel Schreiber in „Zuhause“, einem 120 Seiten langen Essay über Sehnsucht, Geborgenheit, Identität und die Frage, wie man sich alte, bekannte und ganz neue Orte persönlich erschließen, erkämpfen, erarbeiten kann – und, wo solche Arbeit vergebens ist. Schreibers Buch erscheint erst am 20. Februar 2017; Hanser Berlin schickte mir ungefragt ein Leseexemplar. Ausführlich darüber sprechen, als Literaturkritiker, darf ich noch nicht.
Doch eine Stelle geht mir nicht aus dem Kopf:
„Es ist ein Irrtum, die Welt, aus der wir kommen, zu verklären […]. Für viele von uns ist es der schwierigste Ort, den wir in unserem Leben kennen, der Ort, an dem wir die meisten Konflikte austragen, der Ort, an dem wir uns im Leben am meisten reiben – der Ort, in anderen Worten, an dem wir uns am allerfremdesten fühlen.“
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Meine Eltern sind seit fast 20 Jahren geschieden – doch feiern immer noch gemeinsam Heiligabend: Ich bin stolz darauf, wie respektvoll die beiden miteinander umgehen und ich bin recht froh, meinen Vater in diesem Rahmen zu sehen. Am zweiten Weihnachtsfeiertag, jedes Jahr seit 2001, treffen sich meine Schulfreund*innen zum Raclette-Essen: Ich freue mich schon Monate vorher, alle wieder zu sehen, in einem festlichen Rahmen, Buchgeschenke zu verteilen, die neuen Wohnungen zu bewundern und viele Fragen zu stellen, die ich per Mail oder am Telefon nicht stellen kann.
Heiligabend in der Familie und das Freundeskreis-Raclette sind Traditionen, die mir wichtig sind – und Abende, auf die ich auf keinen Fall verzichten will: Einige meiner stärksten oder wertvollsten Erinnerungen stammen aus diesen Abenden, ich liebe die Kontinuität – und weiß, dass ich willkommen bin, erwünscht, und sich fast alle immer sehr freuen, mich zu sehen.
Trotzdem kosten beide Abende – und ihre Vorbereitung, meine Anreise, und die Versuche, Enttäuschungen, Missverständnisse, sehr private, kurze Momente vor, auf und nach diesen Treffen zu verarbeiten – Kraft: Ich bin ab dem 27. Dezember oft tagelang müde. Ich habe nie Lust, Geld, Energie, schon für Silvester neue große Pläne zu machen.
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„Freund G. feiert Weihnachten in einer Großfamilie, tagelang. Das kostet Kraft, aber: „Hinter allem [steht] die Lektion, dass am Ende das große Ganze zählt, nicht jede einzelne Stimmung, nicht jedes einzelne Wort.“ Das Anstrengende daran, in Berlin zu leben und die Zuhause-Freund*innen in Süddeutschland (die meisten: ohne Facebook) nur ca. alle zehn Wochen zu sehen, ist, dass ich solche Treffen oft behandle wie ein… Drive-by-Shooting: Allen SCHNELL sagen, wie sehr ich sie mag. Alle Fragen zwischen Tür und Angel stellen. „Ihr seid mir wichtig!“-Signalraketen und -Beteuerungen senden. Und dann wieder, wochenlang: kein Kontakt“
…schrieb ich auf Facebook über diese Raclette-Abende.
Doch es gibt ein zweites, größeres Problem:
Beide Abende sind wichtig. Doch sie sind nicht besonders schön, für mich.
Immer wieder schütteln mich Dinge durch – viel länger und stärker, als sie sollten:
Seit ich zuletzt daheim bei meiner Mutter war, Anfang November, hängte sie zwei große gerahmte Fotos zurück in den Flur. Beide zeigen unsere Familie, wie sie in den 80er Jahren war: Mein Vater stolz, meine Mutter unsicher, abgekämpft, mein Bruder und ich in einem Alter, von dem ich glaube, dass meine Mutter es bei Kindern am schönsten findet: Ich konnte nicht lesen. Familie war mein Lebensmittelpunkt. Ich war noch nicht so… seltsam, affig, abgehoben, arrogant wie später mit 9, mit 15, mit 19.
Vor ein paar Wochen kam mein Partner zu Besuch – hier in Süddeutschland. Das Dorf feierte gerade Kirchweih, und meine Mutter erzählte uns, man könne das schwer vergleichen: eine Handvoll Süßigkeiten- und Verkaufsstände, ein Karussell… in ihrer Kindheit in den 60er Jahren war das unbeschreiblich. „Und Bürsten wurden da verkauft! Wo hätte man die kaufen sollen, den Rest des Jahres? Da haben sich alle drauf gefreut.“
Bürsten, Mama? Der Händler auf der Kirchweih war eure einzige Möglichkeit, Bürsten zu kaufen?
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Mit 17 fuhr meine Mutter täglich nach Heidelberg, auf eine Haushaltungsschule. Ich hing noch in der Kreisstadt. Mit 19 fuhr sie nach Wien und Ungarn, allein. Mit Mitte 20 baute sie ein Haus, mit Ende 20 hatte sie Kinder, ihr Leben hat sich in einer Geschwindigkeit (und: Selbstverständlichkeit) geweitet, beschleunigt, entwickelt… mit der mein Leben nicht mithalten kann.
Ich bin nicht sicher, warum sie mir vor allem die rustikalen und fast… vormodernen Geschichten erzählt: Dass sie als Kind bei jedem Gewitter aufgeweckt wurde und in der Küche kauern sollte, falls ein Blitz einschlägt. Dass sie in den Sommerferien Tabakblätter auf Schnüre fädelte, die dann in Scheunen getrocknet wurden. Das Klo war außerhalb des Wohnhauses, die Wände waren mit Zeitungspapier tapeziert, und eine Meldung betraf Picasso und seine Geliebte. „Wie hätte ich sonst je wissen können, wer Picasso war? Das war etwas ganz Besonderes!“
Mit 18 sah sie mit ihrem Vater „Der letzte Tango in Paris“: Mein Opa wollte mitreden können oder ihr die Gelegenheit geben, danach einen Gesprächspartner zu haben – falls der Film zu viel für sie gewesen wäre. Das sind die Geschichten, die ich gern hören würde. Die Stellen, an denen meine Mutter ihrer Zeit voraus war. Mutiger. Hungriger. Oft aber klingt sie, als hätte ihr gar nichts gefehlt zum großen Glück – als still, duldsam, passiv monatelang auf die Kirchweih zu warten. Und den Bürstenverkäufer.
Neulich drückte sie „gefällt mir“ auf der Facebook-Seite von „Manufactum“.
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Sobald ich in Berlin Berliner treffe, erkläre ich ihnen viel zu schnell, warum ich nicht viel Lebensqualität aus Berlin ziehen kann: zu grau, zu karg, zu wenig Urban Density, keine wintertauglichen Third Spaces, die ich zu Fuß bequem erreichen kann.
Sobald jemand Hildesheim erwähnt – die Stadt, in der ich fünf Jahre lang studierte – will ich erklären, warum ich dort nicht glücklich war: zu wenig queere Menschen und Diversity, die immer gleichen wenigen Studierenden in allen Seminaren, das städtische Leben fast ohne Akademiker, Buchhandlungen, progressive Kultur.
Fünf Jahre lang war ich jeden Winter in Toronto, den Rest der Zeit zurück im Dorf, im leeren Haus meiner toten Großeltern. Ich glaube, im Vergleich zu vielen Leuten, die fort zogen, kann ich meiner Heimatregion (und, sowieso: meinen alten Freunden und meiner Familie) sehr viel abgewinnen: „Du bist noch so oft daheim? Du drehst nicht durch, nach zwei Tagen?“ Ich poste Fotos. Ich lade Leute ein, mich hier im Dorf zu besuchen. Ich schreibe einen Roman über mein elftes Schuljahr – das nirgendwo anders so dicht und wichtig hätte werden können.
Die Menschen hier geben mir sehr viel – sie wohnen nur meist viel zu lange, zermürbende Autofahrten weit weg von meinem eigenen Dorf: Egal, wen ich sehen will – ich sitze dafür 90 Minuten lang allein im Auto; das ich mir vorher von meiner Mutter leihen muss. Das Licht, die viele Natur, die Freude meiner Mutter, sobald ich zu Besuch komme oder länger hier schreibe, arbeite… ich kann hier auftanken.
Ich habe nur zu schnell das Gefühl, dass alle Menschen von hier, sobald sie mich ansehen und sagen „Schön – oder?“ meinen „Eigentlich fehlt hier nichts“ – und deshalb antworte ich ungefragt auf jedes „Schön – oder?“ mit einem „Mir fehlt DAS. Und DAS hat mich als Teenager schon genervt. Und DAS reicht nicht. Und DAS ist in Städten auch viel besser.“
Von 60 Tagen verbringe ich etwa zehn im Dorf. Das sind sieben oder acht Wochen im Jahr.
Es nicht SO schlimm, 50 Tage lang keinen Bahnhof vor der Tür zu haben. Keine S-Bahn. Keine Restaurants, die ich bequem erreichen kann. Keine Buchhandlungen. Keine sichtbaren queeren Menschen, keine postmigrantischen Theaterstücke, keine Cafés voller Laptops.
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Mein Fehler – jedes Jahr, zu Weihnachten:
Dass ich immer genau den Leuten, die freiwillig und gern hier leben, sobald wir uns kurz sehen, zeigen will, warum ich in Toronto und New York glücklicher war. Warum ist mir wichtig, dass ausgerechnet jene Freund*innen, denen das Leben in einer Stadt wie Heilbronn genügt, die nie im Ausland leben wollten, die eine Familie gründen, statt sich immer wieder auf neue Begegnungen und neue Bekanntschaften an neuen Orten zu stürzen, mir sagen: „Ja. Du hast mich überzeugt. Stefan? Ich verstehe, dass du das Leben in Städten schneller, reicher, dynamischer, stimulierender empfindest“?
Ich behandle – ausgerechnet – die Leute, die gern hier leben, wie eine Jury, die mir immer wieder bestätigen soll, dass meine Langeweile, mein Überdruss, mein Augenrollen oft gerechtfertigt sind. Meine städtischen, meine queeren, meine Akademikerfreunde fragen sich, warum ich so oft zurück komme, so viel Zeit im Dorf verbringe: „Was gibt dir das? Mir gäbe das nichts.“ (Denen müsste ich meinen Überdruss gar nicht erklären.)
Meine Provinzfreunde aber fragen: „Was hast du denn dagegen?“ (und: „Nenn uns doch bitte nicht ‚Provinzfreunde‘! Das klingt ja schlimm.“).
Die „Jury“ fühlt sich dann als Angeklagte.
Ich treffe Menschen, auf die ich mich seit Wochen freue – und sage: „Der Fernbus war teuer und schwer zu erreichen. Die Fahrt in Mamas Auto dauerte ewig. Heilbronn gibt mir nichts. All dieses Hin-und-Herfahren zermürbt mich. Meine Facebook-Freunde wissen mehr von mir als ihr, mittlerweile. Das Raclette kostet Kraft. Mir fällt hier kein Café ein, in dem ich gern sitzen würde. Ach… und kommt mich gern in Berlin besuchen. Aber da ist es trostlos, grau, kalt und alles liegt zu weit auseinander.“
Waren für meine Mutter wirklich die biederen 80er Jahre in der Kleinfamilie die schönste Zeit des Lebens? War noch früher die Kirchweih einer der schönsten Tage ihres Jahres? Und wenn: Ist das so schlimm für mich? Warum werde ich wütend, sobald jemand sagt: Struktur ist gut. Nachbarn sind gut. Das Dorf ist groß genug. Alles, was wichtig ist, ist um uns herum ausreichend vorhanden. Eigentlich ist alles da. Das passt schon, im Großen und Ganzen.
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Ich glaube, Weihnachten wird leichter, sobald ich diese Großstadt-Plädoyers, Wegzieh-Rechtfertigungen verschiebe: Fast alle Menschen, mit denen ich regelmäßig spreche, schreibe, befreundet bin, verstehen sofort, dass ich in einem Dorf nicht sonderlich gut aufgehoben bin. Aber die Leute, von denen ich mir am dringendsten wünsche, zu hören „Klar. Geh! Ich glaube nicht, dass du hier glücklich werden könntest“, sind die Leute, die hier glücklich wurden. Oder daran arbeiten. Und sagen: „Hör auf, zu jammern, dass hier alles fehlt. Hier ist so viel. Du müsstest dir nur mehr Mühe geben.“
Der Tag, an dem ich richtig gern hier bin, ist nicht der beste Tag, um allen dauernd ungefragt und wütend zu erklären, warum ich grundsätzlich lieber woanders bin.
schon 2015 stellte ich 20 aktuelle Reihen vor, hier (Link).
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20. Black Magick
Autor: Greg Rucka, Zeichnerin: Nicola Scott
Image Comics, Oktober 2015 bis Februar 2016.
5+ Hefte in 1+ Sammelbänden, wird Mitte 2017 fortgesetzt.
Wer nie ein aktuelles US-Comic las, findet im Mystery-Thriller „Black Magick“ einen simplen, geradlinigen Einstieg: Greg Rucka ist mein Lieblings-Comicautor, Nicola Scott eine der beliebtesten Zeichnerinnen. „Black Magick“ zeigt Rowan Black, Ermittlerin in Portland, Oregon und Mitglied eines geheimen heidnischen Kults: Rowan ist eine Hexe. Sie hat okkulte Kräfte, wird in eine Geiselnahme verwickelt, muss Ritualmorde aufklären – ohne, sich vor Kollegen zu enttarnen.
Eine etwas altbackene Idee, in Band 1 noch nicht anspruchsvoller erzählt als in TV-Einerlei wie „Charmed“ oder „Constantine“. Auch Rowans Vokuhila-Frisur lässt viele Szenen gestrig wirken. Doch Rucka ist Experte für Polizeiarbeit, liebt feministische, komplexe Ensembles, und Nicola Scott hat ein Auge für Lichtstimmung und Grusel. 2016 waren beide mit einer (leider steifen) Neuauflage von „Wonder Woman“ ausgelastet. Doch 2017 geht „Black Magick“ weiter.
Bisher kein dichter, raffinierter Comic. Aber ein einladender! Wer Rucka kennt, weiß: Seine Reihen werden schnell tiefer, klüger, dunkler.
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19. Arcadia Autor: Alex Paknadel, Zeichner: Eric Scott Pfeiffer
Boom! Studios, Mai 2015 bis Februar 2016.
8 Hefte in einem Sammelband, abgeschlossen.
„The Matrix, but better“, lobten Kritiker dieses Polit- und Cyberpunk-Drama über eine Familie, zerrissen zwischen der Kunstwelt Arcadia und der verwüsteten Erde: Ein Virus tötete sieben Milliarden Menschen – doch das Bewusstsein von vier Milliarden davon konnte in ein Netzwerk übertragen werden. Dort lebt die Oberschicht wie in einem grenzenlos bizarren Videospiel, mit Superkräften und allen Gestaltungsmöglichkeiten. Arbeiter dagegen haben nicht einmal genügend Rechenleistung, um sich Gesichter und Haut animieren zu lassen.
Lee Pepper sah seine Familie sterben; und bewacht seitdem ein Rechenzentrum für Arcadia-Daten in Russland. Während diplomatischer Machtspiele droht die lebendige Minderheit, „The Meat“, Arcadia den Stecker zu ziehen. Das Netzwerk aber hat eigene Druckmittel – und Lee und seine digitalisierte Frau, Tochter, Sohn stehen zwischen den Fronten. Leider sind die Zeichnungen von Eric Scott Pfeiffer freudlos, karg: Grandios versponnene Ideenwelten von Autor Alex Paknadel werden sinnlos nüchtern aufgemalt. Figuren und Konzept faszinierten mich wochenlang. Doch ein Lesespaß ist dieser holprige, graustichige Comic selten.
Ich hoffe, der Autor findet bessere Zeichner. Oder aus „Arcadia“ wird eine elegante TV-Reihe: Herz, Talent, Ideen? Alles hier, im Überfluss. Jetzt fehlen noch Farbe, und liebevolle Details.
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18. The Violent Autor: Ed Brisson, Zeichner: Adam Gorham
Image Comics, Dezember 2015 bis Juli 2016.
5 Hefte in einem Sammelband, in sich geschlossen – aber könnte fortgesetzt werden.
Viele der besten Comics wollen beim Erzählen immer auch beweisen, was Comics leisten können – als eigene Kunstform. „The Violent“ dagegen könnte auch ein Film sein, ein düsterer TV-Mehrteiler, Theaterstück oder sozialrealistischer Roman. Mason und Becky haben eine dreijährige Tochter, leben an der Armutsgrenze und tun alles, um nicht weiter abzurutschen. Becky war drogensüchtig, Mason saß im Gefängnis. Nichts soll je wieder schief gehen. Natürlich geht alles schief, sofort.
Ed Brisson zeigt ein beklemmend banales Drama um einen Mann auf Bewährung, der alle Risiken eingeht, um seiner großen Liebe zu beweisen: Wir schaffen das. Zeichner Adam Gorham hält viele nichtssagende Straßen und Wohnungen Vancouvers sympathisch nichtssagend fest. Ein Comic, der an keiner Stelle allergrößte Kunst sein will. Doch der gerade deshalb überzeugt:
Einfach, packend, ohne künstlerische Eitelkeiten, Schrullen. Ein großer, kleiner Wurf!
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17. Monstress Autorin: Marjorie Liu, Zeichnerin: Sana Takeda
Image Comics, seit November 2015.
8+ Hefte, bisher ein Sammelband, wird fortgesetzt.
Eine recht konventionelle Fantasy-Saga. Mit Kostümdesign und Architektur, so kunstvoll, dass alle Stärken der Reihe daneben zu Schwächen werden: Figuren? Plot? Solide. Doch erst die vielen Details (Zeichnerin: Sana Takeda) machen „Monstress“ lesenswert. Einzelgängerin Maika trägt ein Monster in sich. Zwei reiche Hochkulturen führen Krieg. Beide halten sich für moralisch überlegen, aber sind zu jedem Tiefschlag fähig. Während Maikas Gegner für sich entscheiden: „Der Zweck heiligt die Mittel“, versucht die Außenseiterin, auch die schwächsten, taktisch unwichtigsten Leben zu schützen.
Ich brauchte gut 100 Seiten, um die Geschichte unter den barocken Steampunk- und Jugendstil-Klischees ernst zu nehmen. Zu viele Ideen hier wirken altbekannt. Der Rest zu oft verzweifelt möchtegern-originell. Tolle Kostüme und Architektur allein werden nicht entscheiden können, ob sich die Reihe lohnt: Wie klug, wie bitter werden Maikas Zwickmühlen weiter gedacht?
Politisch, psychologisch, grandios detailverliebt – oder doch nur Schauwerte, Kitsch, Effekte? Ich schwanke.
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16. Prez Autor: Mark Russell, Zeichner: Ben Caldwell
DC Comics, Juni bis Dezember 2015.
Als zwölfteilige Heftreihe geplant, doch nach sechs Heften (in einem Sammelband) abgesetzt; sehr gute Kritiken, deshalb steht die Möglichkeit einer Fortsetzung im Raum.
Ein Teenager als US-Präsident: 1973 zeigte ein albernes DC-Comic im „Richie Rich“-Stil fünf kurze Hefte lang, wie ein frecher Schüler das Establishment düpiert. 2015 gab es ein Remake über die junge Fast-Food-Angestellte Beth Ross, die via Twitter versehentlich zum Star wird, dann durch parteipolitische Intrigen Präsidentin. Trotz bester Kritiken las ich die Reihe erst im November, nach Trumps Wahlsieg – und war bestürzt, begeistert, fassungslos: der Comic der Stunde, schon wieder abgesetzt, wegen schlechter Verkaufszahlen.
„Prez“ nutzt Klischees über die Generation Y, setzt raffinierte Spitzen gegen die Macht von Konzernen, US-Außenpolitik, Erregungs- und Populismus-Dynamiken im Netz – fast alles klüger, bissiger, subversiver als die besten taz-Artikel. Doch besonders Menschen über 40 fühlen sich wohl: So frisch und jugendlich die Reihe wirkt, ihr Blick erinnert an Satiriker der Generation X, Douglas Coupland, „Die Simpsons“. Auch charmant – doch etwas harmloser: Autor Mark Russels kapitalismuskritische „Familie Feuerstein“-Neuauflage von 2016.
Abgründig, schmerzhaft, unvergesslich: Ich kenne kaum dichtere, smartere Satire.
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15. Action Comics Autor: Dan Jurgens; wechselnde Zeichner, v.a. Patrick Zircher und Tyler Kirkham
DC Comics, erscheint seit Juni 2016 zweimal im Monat; Heft 1 heißt „Action Comics 957“.
14+ Hefte in 3+ Sammelbänden, wird fortgesetzt. Parallel lesen: die Reihen „Superman“, „Trinity“ und „Superwoman“.
Immer wieder landen langjährige Heldencomics in erzählerischen Sackgassen – und räumen auf, indem ein komplizierter Zwischenfall (Zeitschleifen, Dimensionslöcher, parallele Welten) neue, simplere Zustände schaffen soll. 2011 hieß das: Superman und seine große Liebe Lois Lane werden ersetzt, durch jüngere Versionen, in einer neuen Welt. Jene Doppelgänger waren nie verheiratet, sind schroffer und pragmatischer; ein neuer Lex Luthor ist eher Antiheld als Schurke. 2015 strandete der ursprünglichere Superman in dieser neuen Gegenwart – in Dan Jurgens Reihe „Lois & Clark“: Er hat jetzt einen Sohn im Grundschulalter und lebt mit seiner Lois heimlich auf einer Farm.
2016, im nicht lesenswerten „The Final Days of Superman“ starb der jüngere Superman. Seitdem übernimmt die ältere Version die Hauptrolle. In vier verknüpften, oft exzellenten Heftreihen – „Action Comics“, „Superman“, „Superwoman“ und „Trinity“ – wird dieses Durcheinander durchdacht, von allen Seiten. Es gibt zwei Lois Lanes. Kann man Lex Luthor trauen? Ein Fremder ohne Kräfte behauptet, Clark Kent zu sein. Supermans Sohn will selbst Held werden. Zu viele ermüdende Kämpfe, mittelmäßige Zeichnungen. Doch tolle Figurenarbeit, Rätsel, Ensembles und Intrigen.
Wirres Chaos? Nein: Ein Helden-Mosaik, so stimmig, herzlich, menschlich wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
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14. Harrow County Autor: Cullen Bunn, Zeichner: meist Tyler Crook
Dark Horse Comics, seit Mai 2015.
18+ Hefte in 4+ Sammelbänden, wird fortgesetzt.
Provinz und Außenseitertum, Pubertät und das Erwachen von Zauberkräften, Feminismus und Hexerei – all das passt zeitlos gut zusammen, und wird aktuell z.B. im feministischen Hexen-Comic „Sabrina“ souverän erzählt. „Harrow County“ dagegen ist eine Klasse für sich: Statt ältere Comic-Käufer anzusprechen, können Ton, Blick, Zeichnungen hier auch Zwölf- bis Achtzehnjährige erreichen. Toll kindlich-zeitloses Design, toll jugendliche Ängste, toll erwachsene Psychologie.
In Band 1 wird Emmy klar, dass sie die Wiedergeburt einer Hexe ist – und am 18. Geburtstag geopfert werden soll. Band 2 bis 4 werden, trotz schlimmer Ausgangslage, immer warmherziger, differenzierter, heimeliger: Wie findet man seine Rolle – am Ort, an dem man leben muss oder will? Was kann man der Gemeinschaft geben – doch was dürfen Familie und Nachbarn auf keinen Fall verlangen? Ein Grusel- und Coming-of-Age-Märchen über Heimat, Armut, Rassismus, weibliche Selbstverwirklichung während der Weltwirtschaftskrise.
Schaurige Nostalgie, meisterhaft schlicht gezeichnet und koloriert. Einfach – aber niemals kindisch!
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13. Detective Comics Autor: James Tynion IV, Zeichner: meist Eddie Barrows oder Alvaro Martinez
DC Comics, seit Juni 2016 zweimal im Monat; Heft 1 heißt „Detective Comics 934“.
13+ Hefte in 2+ Sammelbänden (und einem Crossover-Band namens „Night of the Monster Men“, der übersprungen werden kann), wird fortgesetzt.
Kate Kane ist Batwoman. Tim Drake war Robin. Cassandra Cain und Stephanie Brown kämpften als Batgirl. Wer nur die Batman-Filme kennt, ist überrascht, wie viele Unterstützer*innen Bruce Wayne im Comic um sich schart – eigensinnige Stimmen in Gotham City, mit interessanten Konflikten, Weltanschauungen, Dynamik. Weil Batman selbst meist wortkarg, kalt, paranoid bleibt, leuchten solche Konstrastfiguren. Doch in den großen monatlichen Heftreihen, „Batman“ und „Detective Comics“, werden sie meist ignoriert, und ihre eigenen Serien (Ausnahme: „Batwoman“ und Stephanie Browns „Batgirl“) bleiben zu oft zweitklassig, nebensächlich.
Autor James Tynion liebt die „Bat-Family“, gab vielen Figuren schon in „Batman Eternal“ eine bessere Bühne. Sein Neustart bei „Detective Comics“ ist ein Fest, ein Schachspiel, ein Charakter-Drama, in dem nicht nur Bruce glänzen darf, sondern endlich auch die vielen heimlichen oder unbekannteren Helden.
Große Auftritte – und ein Miteinander, das ich mir als Fan seit fast zehn Jahren wünsche!
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12. The Fix Autor: Nick Spencer, Zeichner: Steve Lieber
Image Comics, seit April 2016.
6+ Hefte in mindestens 2 Sammelbänden, wird fortgesetzt.
Bitter wie „Fight Club“, und zynischer, unverschämter als jede Hochstapler- oder Buddy-Cop-Komödie, die ich kenne: Roy und Mac sind die lustlosesten, nachlässigsten Polizisten der Welt. Nebenher schmuggeln sie Drogen, überfallen Rentner. Doch auch das bemerkenswert schlampig, lapidar. Immer wieder sterben Menschen. Besonders tragisch, dringlich, spannend wird das nie. Fressen oder gefressen werden? Leben und leben lassen? Egal: Wozu groß reflektieren?
„The Fix“ warf mich um. Weil Krimis die Ermittler oft als Idealisten zeigen, die Gauner als virtuose, ehrenvolle Künstler. Roy und Mac sind Stümper, die einfach keinen Bock haben, sich Mühe zu machen mit anderen Menschen – doch die dafür von Autor Nick Spencer nie besonders in die Ecke gedrängt oder bestraft werden: „The Fix“ fragt nicht nach Moral, Verpflichtung. Sondern zeigt, wie man arbeitet – sobald man jeden Ehrgeiz verloren hat.
Krimi? Nein. Ein aggressiv lässiges Portrait zweier Nihilisten, denen ganz Los Angeles am Arsch vorbei geht.
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11. Nailbiter Autor: Joshua Williamson, Zeichner: Mike Henderson
Image Comics, seit Mai 2014.
27+ Hefte in 5+ Sammelbänden, wird fortgesetzt.
Geniale Autorinnen und Autoren? Unbezahlbar! Doch was ist mit den nüchtern kompetenten Genre-Handwerkern, Story-Ingenieuren, Fließband-Erzählern, Routiniers? Seit 25 Heften liebe ich die simple, packende Erzählweise von Joshua Williamson – an dessen Arbeit nichts besonders tief, markant, klug, ambitioniert wirkt. Doch bei dem alles wunderbar spannend, kompetent vor sich hin schnurrt: knallige Cliffhanger, schnippische Dialoge, klare Figuren.
Es geht um Buckaroo, einen kleinen Ort im regnerischen Oregon, aus dessen Bevölkerung aus unerklärten Gründen immer neue Serienmörder hervortreten. Ein FBI-Ermittler, ein weiblicher Sheriff und ihr Ex-Freund, der als Killer „Nailbiter“ überführt wurde, stolpern durch immer blutigeren, absurderen, surrealen Irrsinn. „Akte X“, mit schnelleren Antworten. „Twin Peaks“, doch ohne jeden Anspruch, Kunst zu sein. Ein glatte, souveräne Reihe – ohne „Das Schweigen der Lämmer“-Ambitionen.
Viele Psycho-Thriller scheitern, weil sie schwülstige Thesen zur Natur des Menschen suchen. „Nailbiter“ hält den Ball viel flacher. Doch trifft dabei fast jedes Mal!
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10. Gute Nacht, Punpun Autor und Zeichner: Inio Asano.
Shogagukan, 2007 bis 2013.
147 monatliche Kapitel, gesammelt in 13 Sammelbänden, abgeschlossen (2016 auf Deutsch).
Wir kennen die Klischees: junge Männer, die sich über Monate ins Zimmer sperren. Schülerinnen in Uniform – fetischisiert, aber angefeindet. Japans Jugend, zerfleischt oder deformiert durch Prüderie, Erfolgsdruck, „toxic masculinity“.
Inio Asano zeichnet toll fotorealistische Hintergründe – doch tragisch hässliche, rotznasige Kinder. Deshalb wirkt „Punpun“ die ersten drei, vier Bände lang wie eine patzig parodistische Mischung aus Rotz und Zuckerwatte: die Grundschulzeit eines Außenseiters, seine Tagträume, eine große Liebe. Die mittleren Bände zeigen Einsamkeit auf Mittel- und Oberschule, und sind betörend klug, hart, melancholisch. Im letzten Drittel sind Verlierer Punpun und seine Flamme Aiko am Ende – ruiniert von schlimmen Eltern, Pädagogen, dem System. Asanos Comic ist ein dunkler, epischer Bildungs- und Fehlbildungs-Roman, an vielen Stellen grell oder sentimental. Aber auf jeder Seite: dringlich, packend, wahr.
Ach so – und während hier fast jeder sonst konventionelle Manga-Körper hat, sieht sich Punpun selbst als läppisches Cartoon-Vögelchen.
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9. Wonder Woman: The True Amazon Autorin und Zeichnerin: Jill Thompson
DC Comics, September 2016
als Buch erschienene Graphic Novel, 128 Seiten; hat ein recht offenes Ende: Fortsetzung sehr wahrscheinlich.
2002 bis 2006 schrieb Greg Rucka moderne, sehr politische „Wonder Woman“-Comics. 2011 bis 2014 schuf Brian Azzarello ein blutiges, aber originelles Fantasy-Epos über Wonder Womans Krisen mit Zeus und Hera. Wer klagt, es gäbe kaum gute Geschichten über die Amazonen-Prinzessin, irrt. Was bisher aber schmerzlich fehlte: Bücher für Kinder im Grundschulalter.
Jill Thompson zeigt in fast naiven Aquarellen, wie Diana als verwöhnte, hochmütige junge Thronerbin um die Bewunderung der Amazonen aus dem Hofstaat ihrer Mutter kämpft – doch an Stallmeisterin Alethea scheitert. 120 Seiten lang glauben wir, zu lesen, wie aus Diana eine Heldin, Diplomatin und „True Amazon“ wird. Tatsächlich aber nimmt die Geschichte, wie in einem archaischen Märchen, eine existenzielle, überraschend kraftvolle Wendung. Als Kind hätte mich das Buch über Jahre begeistert und schockiert. Noch heute, mit 33, kann ich die Fortsetzung nicht erwarten.
Harmlose Bilder. Doch die allergrößten Fragen, Themen, Konflikte.
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8. The Vision Autor: Tom King, Zeichner: Gabriel Hernandez Walta
Marvel Comics, November 2015 bis November 2016.
12 Hefte in zwei Sammelbänden, abgeschlossen.
Viele Marvel-Helden haben seit den 40er, 50er, 60er Jahren monatliche Auftritte in einer oder mehreren Heftreihen – und deshalb heute absurd barocke Vorgeschichten. Die Kunst der zwölfteiligen, abgeschlossenen Reihe „The Vision“? Für Band 1 (Heft 1 bis 6) spielt das Vorleben der Figur keine Rolle. Und in Band 2 (Heft 7 bis 12), sobald wir den melancholischen Roboter, sein Umfeld, alle akuten Konflikte verstehen, spannt Autor Tom King dann doch plötzlich große Bögen durch Jahrzehnte Marvel- und „Avengers“-Historie.
The Vision ist ein Kunstmensch, der sich spontan eine eigene Familie konstruiert, in die Vorstadt zieht, Alltag im „Mad Men“- oder Norman-Rockwell-Stil durchleben will. Sein herbstliches Idyll zerbricht – und was mit alten, simplen Roboter-Fragen wie „Haben Androiden-Kinder echte Liebe, Androiden-Nachbarn echten Respekt verdient?“ beginnt, wird in Band 2 zu einem überraschend reifen Liebes-Drama (und: Superhelden-Duell).
Autor Tom King tut gern besonders tiefgründig, avantgardistisch. Oft gaukelt er Komplexität eher vor – durch Zeitsprünge, Montagen. Hier aber wirklich: Treffer!
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7. Billy Bat Autor und Zeichner: Naoki Urazawa
Kodansha, Oktober 2008 bis August 2016.
165 monatliche Kapitel, gesammelt in 20 Sammelbänden, abgeschlossen (auch auf Deutsch fast vollständig).
Rätsel-Serien wie „Lost“ beantworten eine Frage, doch werfen dabei zwei neue auf – und lange vor dem Finale haben viele Fans alle Geduld verloren. Der Historien-Thriller „Billy Bat“ zeigt eine geheimnisvolle Fledermaus, die über Jahrhunderte immer neuen Menschen immer Neues bedeutet – als Totem und Symbol, als Comic-Held und Maskottchen. Und als verborgene Stimme im Kopf, die u.a. das Attentat auf John F. Kennedy vorherzusagen scheint. Naoki Urazawa erzählt eine Kulturgeschichte von Zeichenkunst und Comic, von Groschenheften, Vergnügungsparks, Perfektionisten wie Walt Disney. „Billy Bat“ fragt, was eine Figur bedeuten kann, über Generationen und Grenzen hinweg. Und, wo sich Comic-Kultur und Kulturimperialismus überschneiden – besonders zwischen Japan und den USA.
Ein warmherziges, überraschendes Geflecht aus liebevollen, meist klugen japanischen und amerikanischen Leben: Künstler und Strategen, Zyniker und Fans, Kapitalisten, Idealisten, Kinder, Kindsköpfe… und viele ältere Männer, die zurück schauen auf die großen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts.
Schwer und verkopft? Nein: „Billy Bat“ erzählt ein Riesen-Epos – in überraschenden, optimistischen Häppchen. (Nur bitte nächstes Mal: mehr Frauen!)
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6. Injection Autor: Warren Ellis, Zeichner: Declan Shalvey
Image Comics, seit Mai 2015, nach jeweils 5 Heften längere Pause.
10+ Hefte in 2+ Sammelbänden, wird fortgesetzt.
Oft schreiben Comics schon schwarze Zahlen, sobald 5.000 Menschen ein Heft kauften. Deshalb können sie kantiger, seltsamer erzählen als Filme. Leider stammt Warren Ellis‘ Verständnis von „kantig und seltsam“ aus den 80er oder 90er Jahren: Paganismus, Cyberpunk, Hexerei, Verschwörungen, experimentelle Drogen… kein Ellis-Thema ist so crazy, mutig, originell, wie Ellis selbst zu glauben scheint – und darum war Band 1 von „Injection“ ein zwar kluger, sympathischer globaler Ensemble-Fantasy-Techno-Thriller… aber eben: kein restlos origineller, gewitzter.
Die Reihe zeigt fünf brilliante (und großteils queere, bisexuelle) Forscher und Kollegen, die eine Erfindung – die Injection – in die Welt entließen, doch heute mit zunehmend monströsen Folgen ringen. Band 2 stellt Vivek in den Mittelpunkt, Millionär, Snob, Detektiv oder Exorzist (?) in Manhattan. Eine hochbegabte Sherlock-Holmes-Figur, bei der ich zum ersten Mal seit Jahren dachte: „Ja! Hier zeigt ein mindestens kongenialer Autor Methoden und Einfallsreichtum eines echten Genies.“
Ellis‘ Versatzstücke, Puzzleteile sind oft nah am Klischee. Doch Ellis‘ Gesamtbild und die Erzählweisen hier? Einzigartig. Unerhört originell!
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5. Die Stadt, in der es mich nicht gibt Text und Zeichnungen: Kei Sanbe
Kadokawa, Juni 2012 bis März 2016.
44 monatliche Kapitel, gesammelt in 8 Sammelbänden, abgeschlossen (auch bald auf Deutsch). Fünfteiliger Epilog im Dezember 2016 abgeschlossen.
„Vertraute Fremde“, ein Mainstream-Bestseller von Jiro Taniguchi, folgte einem Mann über 50, plötzlich zurück im Körper seines 14jährigen Ich. Kei Sanbe zeigt ein ähnlich melancholisches Zeitreise- und Kindheits-Drama – aber als Krimi: Pizzabote Satoru, Ende 20, wird in der Zeit zurück geworfen, oft nach kleineren Unfällen oder Verletzungen, und hat meist wenige Minuten Zeit, sie zu verhindern. Als seine Mutter ermordet wird, erlebt er einen drastischeren Zeitsprung: Er ist zurück im kalten Hokkaido, im Winter seines zehnten Lebensjahrs, über Monate gestrandet. Eine Mitschülerin wurde damals ermordet; der Täter wurde nie gefasst.
Lange wirken die Zeichnungen zu schlicht, naiv. Band 1 dreht sich banal im Kreis. Erst spät wird klar: Hier wird eine Mutter-Sohn-Geschichte über Courage, Vertrauen, soziales Engagement gezeigt, mit vielen starken, komplexen Frauen, Wärme, Lebensweisheit und einem raffinierten Katz-und-Maus-Spiel durch mehrere Zeitschleifen und -stränge. Ich hoffe, Autor (oder Autorin?) Kei Sanbe wird noch weiter über die verzweigenden Lebensläufe und schweren Entscheidungen der Figuren erzählen.
Simple Grundidee – doch endlos interessante Abzweigungen, Chancen, Varianten. Ab Band 2 wird das zum kleinen Wohlfühl-Meisterwerk.
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4. Darth Vader Autor: Kieron Gillen, Zeichner: Salvador Larroca
Marvel Comics, Februar 2014 bis Oktober 2016.
26 Hefte (und das gelungene Crossover „Vader Down“), gesammelt in 4 (+1) Sammelbänden, wird mit der Spin-Off-Reihe „Doctor Aphra“ fortgesetzt.
Seit 2014 erzählen „Star Wars“-Romane und -Comics neue, offizielle Geschichten mit den alten Figuren. Jason Aarons Heftreihe „Star Wars“ blieb hölzern. Doch Kieron Gillens „Darth Vader“ wurde zum unerwarteten Highlight (…auch einen Blick wert: die Reihen „Han Solo“ und „Poe Dameron“). Zeichner Salvador Larroca liebt Blaupausen, filigrane Technik; Autor Gillen herben Sarkasmus, dramatische Ironie, Realpolitik.
Dr. Aphra, eine gerissene Archäologin, kam so gut an, dass sie Ende 2016 ihre eigene Reihe erhielt. Auch die blutrünstigen Droiden BT-1 und 0-0-0 fanden Fans. Doch trotz zahlloser Szenen, die nur die Niedertracht, Kaltschnäuzigkeit aller Figuren ausstellen, bleibt schwarzer Humor kein Selbstzweck: Wie lebt, laviert, paktiert man als wichtiges, aber unbeliebtes Zahnrad in einem totalitären System?
Statt Vader zu vermenschlichen oder zu feiern, zeigen fünf kluge, knallige Bände, wie autoritäre Despoten allen schaden – den Machtlosen, der Welt, sich selbst.
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3. The Fade Out Autor: Ed Brubaker, Zeichner: Sean Phillips
Image Comics, August 2014 bis Januar 2016.
12 Hefte, gesammelt in 3 Sammelbänden, abgeschlossen.
Ed Brubaker ist großer Krimi-Liebhaber und -Experte, und will in seinen Comics oft Stimmungen und Ton einer vergessenen Ära oder Vorlage treffen. Zwei Bände lang wirkt „The Fade Out“ wie eine solche Hommage – auf den Film Noir der späten 40er Jahre, „Sunset Boulevard“ und Raymond Chandler, auf bittere Verlierer im Sündenbabel Hollywood, die spät begreifen, dass sie für immer Spielfiguren bleiben zwischen Studiobossen, Mafiosi, Femmes fatales.
Dass Brubaker hier nicht nur aufwärmt, spielt, wird im finalen Band 3 beglückend offensichtlich: Was als guter Comic für Nostalgiker begann, wächst zu einem Stück Kunst, das wirklich jeder mit Gewinn lesen kann. Denn statt Figuren nur als Kanonenfutter hin und her zu schieben, zeigt Brubaker die großen Archetypen der McCarthy-Ära in einer Tiefe, Wärme, Farbigkeit, auf die ich nicht vorbereitet war. Ein Denkmal an mutige, gebrochene Menschen im LA der Studio-Ära.
Gewann den Eisner Award 2016. Freut jeden, der alte Krimis mag. Und verführt jeden, der Krimis nie sehr mochte!
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2. Invisible Republic Text: Corinna Bechko und Gabriel Hardman, Zeichnungen: Gabriel Hardman
Image Comics, seit März 2015.
13+ monatliche Hefte in 2+ Sammelbänden, wird fortgesetzt.
Verwaschene Farben. Ein passiver, hasenfüßiger Reporter ohne Esprit, Geist, Witz. Die arg pompöse Grundidee: Revolution auf einer fernen Kolonie der Erde, und eine Gegenrevolution, 40 Jahre später. Straßenschluchten, Nieselregen, brutalistische Betonbauten – als hätte man „Blade Runner“ ohne großes Budget in einer Hertie-Filiale in Stuttgart gefilmt, im November 1980. „Invisible Republic“ startet freudlos. Nie wirkte epische Science-Fiction prosaischer.
Doch meine Gewissheit, hier etwas ganz Besonderes, Einmaliges zu lesen, wächst: In jeder Geschichte, die auf historisch realen Freiheits- oder Klassenkämpfen fußt, schwingt Pathos oder linke Heldenverehrung, Parteilichkeit, Patriotismus. „Invisible Republic“ kann das umschiffen – durch das besondere Setting: Wären all diese Partisanen und Agitatoren, Rebellen, Linksterroristen und Whistleblower in Prag, auf Kuba oder in Ost-Berlin, zu viele Menschen würden beim Lesen säuseln: „Prag! Kuba! Ost-Berlin! Schon auch eine schöne, hoffnungsvolle Zeit!“
Der blutige Freiheitskampf einer Kolonie. Und 40 Jahre später: das Ende einer Diktatur. So analytisch, pathosfrei, reflektiert erzählt, wie bei einer Erden-Nation niemals möglich.
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1. Panter Autor und Zeichner: Brecht Evens.
Deutsch bei Reprodukt.
120 Seiten, abgeschlossen.
Sollen wir das putzig finden? Christine ist traurig, weil ihre Katze starb – und entdeckt plötzlich einen neuen besten Freund: ein wilder, farbenfroher, charismatischer Panther springt aus ihrer Kinderzimmmer-Kommode und überredet sie, zu albern, zu kuscheln und zu flirten. Tier und Mensch, Alt und Jung, Groß und Klein – so innig wie Otto und Benjamin Blümchen, Calvin und Hobbes, Pete und das Schmunzelmonster.
Was aber wollen diese aggressiv drolligen Gestalten eigentlich von Kindern? Welche Balus wünschen sich einen Mogli – und wozu? „Panter“ ist eine viel zu bunte, kuschelige, munter-bezaubernd-manipulative Graphic Novel über ein Kind, das umworben wird – von einem kunter-tupfig-lustig-bunten, allerliebsten… Raubtier.
Freundschaft? Nein. Der Belgier Brecht Evens zeigt die Dynamiken von Grooming, Missbrauch, sexueller Gewalt.
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und:
Gefeierte US-Reihen wie „Saga“, „Lazarus“, „Ms. Marvel“ und „Southern Bastards“ veröffentlichten auch 2016 neue Hefte und Sammelbände, auf gewohnt hohem Niveau. Auch der Manga „I am Hero“ überzeugt seit Jahren.
angelesen und gemocht: [Update – 12 Bücher ab Sommer 2017, mehr hier]
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Colson Whitehead:“Underground Railroad” (Hanser, 21.8. – Deutsch von Nikolaus Stingl) “Cora ist eine von unzähligen Schwarzen, die auf den Baumwollplantagen Georgias schlimmer als Tiere behandelt werden. Da hört sie von der Underground Railroad, einem geheimen Fluchtnetzwerk. Über eine Falltür beginnt eine atemberaubende Reise, auf der sie Leichendieben, Kopfgeldjägern, obskuren Ärzten, aber auch heldenhaften Bahnhofswärtern begegnet. Jeder Staat, den sie durchquert, hat andere Gesetze, andere Gefahren. Wartet am Ende wirklich die Freiheit?”
Mariana Leky:“Was man von hier aus sehen kann” (Dumont, 18.7.) “Selma, eine alte Westerwälderin, kann den Tod voraussehen. Immer, wenn ihr im Traum ein Okapi erscheint, stirbt am nächsten Tag jemand im Dorf. Unklar ist allerdings, wen es treffen wird. Das Porträt eines Dorfes, in dem alles auf wundersame Weise zusammenhängt.”
Geoffrey Household:“Einzelgänger, männlich” (Kein & Aber, 5.9. – Deutsch von Michel Bodmer) “Europa Anfang der Dreißigerjahre: Ein Jäger schleicht sich auf das Anwesen eines gefürchteten Diktators, legt an und zielt. Ein unvorstellbar spannender Thriller, geschrieben aus der Sicht des Verfolgten.” [Klassiker von 1939]
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Gael Faye:“Kleines Land” (Piper, 2.10. – Deutsch von Brigitte Große, Andrea Alvermann) “Als Kind pflückte Gabriel in Burundi mit seinen Freunden Mangos von den Bäumen. Heute lebt er in einem Vorort von Paris. Dorthin floh er, als der Bürgerkrieg das Paradies seiner Kindheit zerstörte. Doch er muss noch einmal zurück.”
Betty Smith:“Ein Baum wächst in Brooklyn” (Suhrkamp/Insel, 23.10. – Deutsch von Eike Schönfeld) “Die elfjährige Francie Nolan ist eine unbändige Leserin – und möchte Schriftstellerin werden. Ein Traum, der im bunten, ruppigen Williamsburg von 1912 kaum zu erfüllen ist. Hier brummen die Mietshäuser vor all den Zugewanderten.” [Klassiker von 1944.]
Tom Drury:“Grouse County” (Sammelband einer Romantrilogie, ich las und mochte “Die Traumjäger”; 5.8. – Deutsch von Gerhard Falkner, Nora Matocza) “Irgendwo im Mittleren Westen: Das Leben der Menschen zerbröckelt langsam, alle jagen unrealistischen Träumen nach – und sind Dorn im Auge des örtlichen Sheriffs, Dan Norman, der die Harmonie in seinem County wahren will. Die jüngere Generation sieht dagegen nur einen Ausweg, dem ländlichen Mief zu entkommen: nie mehr zurückkehren. Der Band enthählt die drei Romane »Das Ende des Vandalismus«, »Die Traumjäger « und den bisher auf Deutsch unveröffentlichten Roman »Pazifik«.”
Margaret Atwood:“Aus Neugier und Leidenschaft. Gesammelte Essays [bis 2005]” (Berlin Verlag, 13.10. – Deutsch von Christiane Buchner, Claudia Max, Ina Pfitzner) ” Rezensionen zu John Updike und Toni Morrison; ein Afghanistan-Reisebericht, der zur Grundlage für den ‘Report der Magd’ wurde, leidenschaftliche Schriften zu ökologischen Themen, Nachrufe auf einige ihrer großen Freunde und Autorenkollegen…”
Elena Lappin:“In welcher Sprache träume ich?” (Kiepenheuer & Witsch, 7.9. – Deutsch von Hans Christian Oeser) “Hineingeboren ins Russische, verpflanzt erst ins Tschechische, dann ins Deutsche, eingeführt ins Hebräische und schließlich adoptiert vom Englischen – jede Sprache markiert einen neuen Lebensabschnitt in der Familiengeschichte Elena Lappins: Fragen nach Heimat, Identität, Judentum und Sprache. Sensibel geht sie den Erzählungen, Lebenslügen und Geheimnissen der Eltern und Großeltern nach und schildert, was es heißt, mit gleich mehrfach gekappten Wurzeln zu leben und auch nach dem Verlust einer Muttersprache schreiben zu wollen.”
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Benjamin Alire Saenz:“Die unerklärliche Logik meines Lebens” (Jugendbuch, Hanser bei Thienemann, 19.8. – Deutsch von Uwe-Michael Gutzschhahn) “Sich gegenseitig auffangen – das haben Sal und seine beste Freundin Samantha bisher immer geschafft. Doch gelingt das auch, wenn alles droht, auseinanderzubrechen? Das letzte Schuljahr stellt ihre Freundschaft auf eine harte Probe. Sam gerät an einen miesen Typen, während Sal verzweifelt versucht, nicht zu einem zu werden.”
Guy Gavriel Kay:“Am Fluss der Sterne” (Fantasy, spielt 400 Jahre nach “Im Schatten des Himmels”, Fischer TOR, 26.10. – Deutsch von Ulrike Brauns) “Einst galt Xi’an als schönste Stadt der zivilisierten Welt, der Kaiserhof als Hort des Luxus und der Kultur. Doch seit Kitai in weiten Teilen an die Barbaren aus dem Norden gefallen ist, herrscht Angst auf den Straßen, und das Heulen der Wölfe hallt durch verfallene Gemäuer.”
James Corey:“Babylons Asche” (Science Fiction, Band 6 der “The Expanse”-Reihe, Heyne, 13.6. – Deutsch von Jürgen Langowski) “Die Menschheit hat das Sonnensystem kolonisiert. Auf dem Mond, dem Mars, im Asteroidengürtel und noch darüber hinaus gibt es Stationen und werden Rohstoffe abgebaut. Doch die Sterne sind den Menschen bisher verwehrt geblieben. Als der Kapitän eines kleinen Minenschiffs ein havariertes Schiff aufbringt, ahnt er nicht, welch gefährliches Geheimnis er in Händen hält – ein Geheimnis, das die Zukunft der ganzen menschlichen Zivilisation für immer verändern wird.”
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CHRIS KRAUS, „I love Dick“ (Matthes & Seitz, 30. Januar. Deutsch von Kevin Vennemann.)
Vom 7. bis 12. Dezember 2016 sehe ich die erste Staffel von „Westworld“…
…und werde zu jeder Episode kurze Ideen, Anmerkungen, Fragen bloggen. Ich bin Kulturjournalist und schreibe meist über Literatur. Doch ich liebe gute Serien (Favoriten: „Six Feet Under“, „Willkommen im Leben“, „Mad Men“, „Girls“, „Neon Genesis Evangelion“) und blogge hin und wieder ausführlich über Serien und Filme, z.B.
Über „Westworld“ – Michael Crichtons Drehbuch/Grundidee, den Film von 1973 und Staffel 1 der HBO-Serie von 2016 – spreche ich auch am 15. Dezember auf Deutschlandradio Kultur, im Magazin „Lesart“.
1_01: Solide Kulissen, tolle Landschaften, ruhige und übersichtliche Kamerafahrten, grandiose Lichtstimmung! Ich fühle mich in dieser Erzählwelt wohl. Nur der „Kampfstern Galactica“-Look hinter den Kulissen stört: Seit über 20 Jahren sehen futuristische Anlagen fast immer gleich aus. Wollen (oft kreative) Mitarbeiter*innen so arbeiten – in dunklen, sterilen, monotonen Labors? Und müssen die Lagerräume und Sublevels immer aussehen wie in „The Pretender“ oder Michael Crichtons „Coma“: super-creepy?
1_02: Die Hosts sind mir bisher, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, sympathisch. Doch Tonfall und Stimmung in der Zentrale machen mich kirre: Zu viele fluchende, paranoide, grundlos gehässige Kollegenschweine, die aufeinander einhacken. Ich denke a) an „unReal“, eine Soap über gnadenlose, bitchy Produzent*innen eines Reality-Formats, aber b) auch an die vielen Berichte über den Stolz, Perfektionismus und die übertrieben gute Stimmung der Menschen, die Disney-Parks betreiben: „Imagineers“. Im „Westworld“-Team wird mir der Conflict Ball zu hart, hämisch geworfen. Jeder sägt am Ast von jedem anderen? Das wird schnell unfreiwillig komisch.
1_03: Mich freut, dass der einzige Mensch, bei dem Libido, Begehren, Sexualität wichtig sind, queer oder lesbisch sein könnte: Elsie (Shannon Woodward). Und ich mag, wie gemütvoll und versponnen Bernard denkt, arbeitet, reagiert. Ich kann mir vorstellen, dass er der größte Sympathieträger wird. Oder, interessanter: für immer mehr Schwierigkeiten sorgt, Menschen in Gefahr bringt.
1_04: Shakespeare-Zitate? Uff. Immerhin: Mal sehen, ob Gertrude Stein zitiert wird/wichtig bleibt, und, ob „Westworld“-Fans deren Bücher durchsuchen. Trotzdem ist mir das drei Nummern zu… gravitätisch. Bei „Lost“ nervte mich schnell, wie sicher sich vor allem die beiden alten Männer Locke und Ben sind, Hauptfiguren in einem großen, metaphysischen Spiel zu sein. Anthony Hopkins (als Robert Ford) und Ed Harris (als Gunslinger) raunen, schmunzeln, spielen, monologisieren im selben Stil… und gehen mir schon im Pilotfilm auf die Nerven: Ich weiß nicht, wieso Harris glaubt, es gäbe ein tieferes Level, eine versteckte Spielebene. Ich weiß nicht, wieso Hopkins nur darauf wartet, dass die Hosts ihre Schöpfer überflügeln. Doch ich fände schöner, klüger, subversiver, falls die beiden Männer nicht Recht hätten, und ihr metaphysisches Gewäsch… Gewäsch bleibt. (Schön an Harris: In echten Bezahl-Spielen sind reiche Geldgeber, „Walfische“, sehr wichtig – und ich glaube, über das Entitlement und die Illusionen von alten Männern, die viel Geld ausgeben, um in einem Spiel zu Göttern zu werden, kann man interessante(re) Geschichten erzählen. Toller Text z.B. über den Spiele- „Walfisch“ Stephen Barnes.)
1_05: Mir scheint, das Hinter-den-Kulissen-Team hat bisher ein, zwei Figuren mehr als nötig. Muss jemand sterben oder gehen? Wer sind die Cylons, Maulwürfe, Betrüger? #balance
1_06: Wie lange dauert ein Narrative Loop, ein Erzähl-Durchgang im Park? Im Pilotfilm sah es aus wie ein Tag – doch die meisten Besucher*innen sind, denke ich, viel länger zu Besuch, und gute Storylines brauchen viel mehr Zeit. Wer räumt auf, wäscht die Kostüme, repariert die Kulissen? Und: Wann? Müssen Besucher*innen z.B. nachts für ein paar Stunden bestimmte Sets verlassen? Oder wird immer nur am Ende jedes Loops geputzt?
1_07: Wer genug Geld hat, um sich von anderen tagelang bedienen zu lassen, ist oft grausam, distanziert oder überraschend ordinär. Mir gefällt, dass das Produktionsteam Westworld als einen Ort beschreibt, in dem reiche Menschen Indianer töten wollen – weil das viel über Feindbilder sagt, Klassenkampf, Rassismen, Klischees. Ich wünsche mir viel mehr Szenen mit Besuchern: Was wollen sie kompensieren? Funktioniert die Illusion, für sie? Sobald im echten Leben Leute erzählen, warum sie MMORPGs spielen, in Disney-Parks reisen, Kreuzfahrten buchen, lassen ihre Gründe tief blicken. Mehr davon hier, bitte: Wie banal, wie rassistisch, wie plump muss der Park sein, damit Menschen dort gern ihr Geld lassen? Bisher z.B. scheinen mir die Gangster/bösen Hosts flach, schlecht geschrieben – was aber zu meiner Befürchtung passt: Ich halte Lee Sizemore (der Brite, der einfallslos flucht und die Storyline der Hosts entwarf) für einen Stümper. Und ich glaube, die Zielgruppe des Parks will eine eher flache Geschichte.
1_08: Dolores ist programmiert, um keiner Fliege etwas zuleide zu tun. Sie tötet die Fliege – und der Pilotfilm endet. Freund M.: „Das hätte nebenher gezeigt werden müssen, in einer beiläufigen Geste. Nicht als finaler Schock. Die Serie erzählt zu langsam, plump.“
1_09: Ich denke an Liverollenspiele – in denen sich Spieler*innen treffen und gemeinsam verabreden, eine Illusion aufrecht zu halten – und wünsche mir, dass a) mehr Besucher*innen die Illusion des Parks als Herausforderung verstehen, daran rütteln, die Roboter und Erzählmechaniken bewusst trollen, sich verhalten wie in einem Luzidtraum; und b) die Serie selbst zeigt, wo die Park-Illusion an ihre Grenzen gerät und, ob extreme Nähe zur Wirklichkeit gut für den Spielspaß ist… oder eben: gerade nicht. Dass im Saloon „Paint it black“ von den Rolling Stones läuft, halte ich für ein gutes Zeichen: Den Machern des Parks ging es offenbar nicht darum, Geschichte (History) nachzubauen… sondern um eine möglichst mitreißende Oberfläche, Spielmechanik. Grundsätzlich also: Alles, was bisher zu schmuddelig, düster, hart war, um in den Holodeck-Episoden von „Star Trek“ thematisiert zu werden? Hier ist Platz! Bitte erzählen, bitte hinterfragen!
1_10:Der Vorspann langweilt mich schon beim ersten Ansehen. Es gibt kaum HBO-Intros, die ich gern mehrmals sehe (vielleicht „Game of Thrones“, weil je nach Episode neue, andere Locations gezeigt werden; vielleicht „True Blood“, wegen Sound/Tempo/Dynamik). Doch bei „Westworld“ denke ich an „Six Feet Under“, 2001: Wenn man bei HBO lange Intros noch heute wichtig/sinnvoll findet… will ich bitte etwas sehen, das ich nicht bereits 2001 sah. (Aber: Das sind 3D-Drucker, oder? Ich bin gespannt, ob die Serie noch etwas Interessantes/mir Neues zeigen wird, über z.B. das Drucken von Fleisch und Fasern.)
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2_01: Zu viele Serien starten mit einem Neuankömmling und seinen ersten Schritten durch ein ihm fremdes System. Im Pilotfilm erschien Teddy kurz als diese Sorte Figur – ein Gast, unterwegs zu einem weiteren Urlaub mit Dolores? Mich freut, dass Folge 1 dann anders verlief; doch Folge 2 trotzdem zeigt, wie neue Besucher – William und Logan – den Park erleben. Auch Maeve (Thandie Newton) hatte im Pilotfilm kaum Raum. Gut, dass offenbar nicht jede Folge vor allem um Dolores, Ford, Bernard kreisen wird.
2_02: Ich bin gesichtsblind – aber kann die „Westworld“-Rollen recht gut unterscheiden, durch Kostüme und die Trennung Park/Zentrale. Ein kleineres Problem sind Stimmen: Spricht Bernard mit Dolores – oder hört sie auch Fragen von Ford? Ich brauche noch Zeit, um das treffsicher zu hören. Den nackten Teddy im Säuberungs-Glaskasten erkannte ich nicht. Die Köpfe in Fords Büro sagen mir so wenig wie die Halle der Gesichter bei „Game of Thrones“. Und ein Problem für mich als Deutscher: „Fackeln im Sturm“ ist lange her. Jedes US-Kind erkennt eine Konföderierten-Uniform; weiß wohl bereits, welches Jahrzehnt der Park nachbildet, wie Mexikaner, Schwarze, Nord-, Südstaatler und Native Americans hier zu- und gegeneinander stehen. Ich weiß es nicht.
2_03:Weniger Panorama- und Luftaufnahmen: In Folge 2 wirkt alles enger, etwas billiger inszeniert. Doch ich bin froh um den modernen Shuttle-Bahnhof, und habe hoffentlich bald ein wenig Überblick, wie die (grundlos düstere) Zentrale aufgebaut ist. [Trotzdem erinnerte mich der Bahnhof an z.B. das tiefste Level des Berliner Hauptbahnhofs. Ich denke oft: Hätte Deutschland noch mehr Geld – alles sähe bald so aus. Nur: mit mehr gebürstetem Stahl.]
2_04: Ich mag, wie viele Handlungsstränge parallel ablaufen. Aber wünschte, alles würde sich schneller, interessanter überschneiden. Meist haben Serien drei Stränge pro Episode. Ab vier parallelen Storylines wird es oft etwas träge. „Westworld“ bleibt langsam, einfach, eher schlicht erzählt – doch durch die sechs, sieben Stränge hatte ich angenehm viel zu denken. Mein Partner hätte Park und Zentrale dagegen lieber kennen gelernt, indem pro Folge nur eine Figur genau verfolgt wird: ein Host, ein Gast, eine Mitarbeiterin wie Elsie, dann Bernard oder Ford… doch mir gefallen die schnellen Brüche, Abwechslungen, Kontraste. Aber: Serien mit vielen Strängen haben oft besondere Episoden, in denen von Anfang an oder plötzlich, mittendrin nur noch eine einzelne Figur ins Zentrum tritt. Deshalb: Bleibt die Struktur? Wirklich in jeder Folge?
2_05: Bei Maeves Flucht durch die Zentrale dachte ich erneut an Michael Crichtons „Coma“. Body Horror (Körper, mit denen etwas *überhaupt* nicht stimmt) und Rape Culture (Frauen als Objekt, Sex als Machtspiel) sind in fast jeder Szene Thema (wie in vielen HBO-Serien, durchgängig) – doch bisher sehe ich nicht, dass „Westworld“ daraus interessante Fragen zieht: Stumpfe ich ab, wenn alle 15 Minuten eine Frau/Maschine/Puppe vergewaltigt wird? Der ganze Park scheint auf Mord, sexuelle Gewalt, „Hier darfst du mit Unterlegenen, die sich nicht wehren können, ohne Angst vor Strafe alles tun“-Versprechen zu setzen: ein recht simples Menschen-, Kunden-, Spieler-Bild. Gibt es NUR Gäste, die Westworld als Western-GTA-Sandbox genießen – und keinen, der das sinn- oder trostlos findet? Und: Werden jetzt zehn Folgen lang einfach nur Tabus verletzt, Verkommenheit gezeigt? Gibt es z.B. Kinder-Roboter, die für Sex bereit stehen? (Nebenbei: Trotz so vieler geschundener, manipulierter Körper wird bisher nichts über Behinderung erzählt.)
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3_01: Online-Freund Gabriel Yoran las meine Fragen zu Folge 1 – und stutzte, warum ich nicht auch z.B. nach dem narrativen Raum frage: „Wo ist da eigentlich was?“ Jetzt, während Folge 3, überlegte ich tatsächlich dauernd: Wie werden die Hosts – z.B. Dolores für ihre vielen Verhöre – hinter die Kulissen transportiert? Warum brauchen Elsie und Stubbs Stunden, um den verirrten Host zu finden? Ist die Zentrale so schlecht überwacht, dass Maeve minutenlang flüchten kann – ohne, dass Sensoren Alarm schlagen? Sobald sich alles weiter zuspitzt, werden wir bestimmt auch Hubschrauber, Hovercrafts, absurde Technik mitten im Park sehen – dramatische Anachronismen. Und was liegt außerhalb der Anlage? Wann spielt das? Bernard führt einen simplen Video-Chat mit seiner (Ex-)Frau – doch sagt (lügt? witzelt?): „You know how hard it is to get an open line out here.“ Wir wissen nichts über die Welt jenseits des Parks – und solche Auslassungen sollen, denke ich, späte Überraschungen, Schockeffekte, möglich machen. Doch ich würde lieber jetzt schon sehen, wie sich Park, Zentrale und Außenwelt/politische Gegenwart gegenseitig bedingen.
3_02: Dolores‘ Kleid, Frisur, Haarfarbe: Alice im Wunderland. Ford lässt sie holen – und sie ist nackt. Bernard lässt sie holen – und sie bleibt angezogen. Ich mag diese Verhöre/Diskussionen (und bin meist überrascht, wie lange solche Szenen dauern, ohne, langweilig zu werden), doch ich habe Angst, dass eine menschliche Figur unsterblich werden wollte/sollte, und jetzt als Virus in den Hosts steckt: Arnold? Oder Charlie, Bernards toter Sohn?
3_03: Schön, wie schnell „Westworld“ Leitmotive, Arc Words, Grundfragen und Gegensatzpaare etabliert. Sprechende Ortsnamen – Escalanto, Pariah, Sweetwater, die „Ghost Nation“. Wiederkehrende Sätze wie „There’s a path for everyone“ oder „Not much of a rind on you“ (Body Horror!). Ich mag, dass übers Träumen gesprochen wird, doch überraschend selten übers Spielen oder über Schuld/Unschuld, oder über Kunst/Künstlichkeit – als Gegenteil zu Natur/Natürlichkeit. Ich mag, dass Ford eine Pyramide entwirft und die Spitze nicht kennt. Ich mag, dass das Labyrinth eine besonders interessante Mitte hat, doch der Park selbst nach außen hin komplexer, attraktiver, reicher wird… und, dass die Serie gern mit Kreisen arbeitet statt mit simpleren Modellen wie „oben vs. unten“, „innen vs. außen“, „hinten vs. vorne“. Beginnt jede einzelne Folge mit Dolores? [Spoiler: nö.] Und wiederholen sich bedeutungsschwangere Sätze nur, weil Menschen/Künstler den Hosts Skripte schrieben – oder gibt es (wie z.B. in „Lost“) auch Wiederholungen, die suggerieren: Das ganze Universum hat hier eine gewisse Symmetrie, Sinnhaftigkeit, höhere Ordnung – nicht bloß der künstliche Park? Mich würde freuen, wenn der Park voll literarischer Motivketten steckt – doch die Zentrale, die echte Welt gar nicht. #realismus #zufall
3_04: Zu viele Szenen im Park sind nur spannend, weil wir nicht wissen, wer Host ist, wer Besucher. Auch Dolores‘ Pistole ist für mich v.a. interessant, weil unklar bleibt, ob sie auch Menschen verletzt. Ich dachte erst, Besucher lassen sich erkennen, weil Leute im 19. Jahrhundert anders fluchten – doch für mich klingen fast alle Figuren gleich (…albern): Der Ton in der Zentrale bleibt zickig, lächerlich überspannt. Und auch im Park wird ständig „Fuck“ gesagt. Will „Westworld“ zeigen: Reiche Menschen sind triebgesteuert, vulgär? Die Technik wird sophisticated – aber der Mensch bleibt plump? Ein fauler Gast mault: „We should have done the Riverboat thing“ – und dieses „Riverboat Thing“ klingt wie eines der fadesten, abgeschmacktesten Angebote im Park: Ich bin gespannt, ob wir die Flussfahrt später noch sehen. Überhaupt wünsche ich mir mehr Besucher, die alles behindern, aus der Rolle fallen, scheitern. Mehr Theme-Park-Kritik und -Parodie-Momente!
3_05: Ist „Buffy“ eine gut geschriebene Serie? Um das zu wissen, achte ich lieber darauf, wie sorgfältig ein secondary character wie Cordelia gearbeitet ist – nicht Heldin Buffy selbst. Ich bin besonders glücklich, wenn selbst tertiary characters wie Anya sorgfältige, liebevolle, intelligente Charakter-Momente haben. In „Westworld“ schaue ich deshalb gern und genau auf kleine Rollen wie Elsie, Stubbs, Clementine, vielleicht auch Teddy: dass Anthony Hopkins und Evan Rachel Wood hundert kluge Sätze sagen dürfen bis Folge 10, ist keine so große Autoren-Leistung. Bitte zeigt mir, dass auch die Randfiguren keine Pappkameraden, Klischees sind! Ich mochte die Meta-Gespräche über Nebenrollen, hier in Folge 3, und warte ab, ob es sich „Westworld“ als Serie so leicht macht wie Sizemore als Autor und a) viele tragische doomed Sidekicks einbaut und b) Frauenfiguren wie Maeve stärker und attraktiver machen will, indem die Autoren beschließen: „So. Aggression und Bitchiness um 20 Punkte erhöhen.“
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4_01: „You think the grief will make you smaller inside, like your heart will collapse in on itself, but it doesn’t. I feel spaces opening up inside of me like a building with rooms I’ve never explored.“ Schönes Bild – und sympathisch, wie schnell Bernard fragt, wer solche Sätze für Dolores geschrieben hat, mit welcher Absicht. Trotzdem: Bisher hat „Westworld“ nichts besonders Kluges über Schmerz, Verlust, Trauma erzählt. Da muss mehr kommen! (Bitte auch zum Begriff „Freiheit“.)
4_02: Gehören alle Native Americans im Park zur „Ghost Nation“? Sind alle in Decken gehüllte Bankräuber, die Hector Escaton (Rodrigo Santoro) begleiten, Hosts? Hat Wyatt die Kontrolle über die als Büffel-Monster verkleideten Schlächter; oder treten auch Besucher seinem Todes-Kult bei? Was tat Lawrence, um am Galgen zu enden? Noch immer sind mir alle „bösen“ Hosts zu eindimensional – und ich wünschte, es gäbe mehr Native Americans und mehr Gäste, die bei ihnen leben. (…was aber vielleicht daran liegt, dass in Deutschland Indianer fetischisiert werden. Ich glaube, vor allem Ostdeutsche würden tausendmal lieber einen „Der mit dem Wolf tanzt“-Freizeitpark besuchen als einen Cowboy-Park.)
4_03: Folge 4 [Update: und 5, und alles aus 6 bis auf die lange Szene mit Maeve und Radioheads „Motion Picture Soundtrack“] ist für mich der trägste, schleppendste Teil der Staffel; vor allem der Western-Stränge wegen: teuer inszeniert, doch mit seichten Hosts in simplen Abenteuer-Szenen, ohne besondere Dringlichkeit, Spannung. Die Erlebnisse von William/Logan und von Ed Harris‘ Gunslinger wirken auf mich wie Sidequests, Holodeck-Lappalien. Für Folge 4 schrieb Ed Brubaker, einer meiner Lieblings-Comicautoren (große Empfehlung: „The Fade Out“, 3 Bände), am Drehbuch mit. Doch für mich kippt die Serie hier von „sehen!“ zu „weniger frustrierend als ‚Lost‘, ‚Galactica‘, ’24‘ – doch oft genauso halb-durchdacht und schleppend.“ Oder, um Logan zu zitieren: „I don’t have time for this color-by-numbers bullshit.“
4_04: Arnolds Schnitzeljagd zum/durchs Labyrinth wirkt recht… konventionell, bisher. Mich verwirrt, dass Ford und die Parkleitung nichts über das Symbol zu wissen scheinen, obwohl es an mehreren Stellen offen auftaucht; und, dass Ed Harris erst nach 30 Jahren Urlaub im Park diesen Indizien folgt. Schade, dass Armistice – die Frau mit dem Schlangen-Tattoo, gespielt von Ingrid Bolso Berdal – ein Host zu sein scheint: Bisher haben wir keine Besucherin länger im Park erlebt. [Edit: Doch. Ich dachte, Armistice und Marti seien die selbe Rolle.]
4_05: Theresa wirkt steif, etwas humorlos (eine Sorte Frau, die Zuschauer meist ablehnen), und, in fast allen Gesprächen, überrumpelt (eine Sorte Figur, von der Zuschauer schnell sagen: „Wie sinnlos. Sie stört nur!“). Romantisch, dass Bernard ihr riet, die Arme nicht zu verschränken – doch etwas patronizing. Dramatisch, dass Ford sie auf der Hazienda bedrohte und einschüchterte – doch: super-patronizing. Ford wirkt cartoonhaft böse: Entweder, er ist übermächtig, kann alles kontrollieren, wissen (…bis runter zur Klapperschlange). Oder, er überschätzt sich, und die Figur ist – genau wie Sizemore – eine Kritik an Hochmut/Hybris. So oder so: Die Menschen der Zentrale werden greller, plumper, langweiliger, mit der Zeit. Nicht: interessanter.
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5_01: „Your mind is a walled garden.“ Bisher überzeugen mich die Metaphern für Bewusstsein und Erinnerung, die Ford und Bernard so lieben, nicht – und auch die Umsetzung solcher Bewusstseins-Prozesse und -Glitches in filmische Bilder könnte mutiger, origineller sein. Beide Männer sprechen viel über Eleganz – doch betreiben eine Kunstwelt, in der „Eleganz“ oft nur die plumpsten Ventile/Angebote für Gewalt und Sex maskieren, rechtfertigen, aufhübschen soll. Wie „elegant“ ist „Westworld“ als TV-Serie… und sollen wir „Eleganz“ hier als echten Wert, Leistung verstehen (Kunst! Zivilisation!) oder als Kosmetik, Oberfläche, dekadente (Selbst-)Täuschung: eine Rechtfertigung/Ausrede, um Gewalt auszuüben…?
5_02: Sind Lawrence und El Lazo die selbe Figur, in zwei verschiedenen Loops? Oder nur der selbe Roboter, aber mit einem neu aufgesetzten/eingespielten Rollenprofil? Falls Host-Körper nur noch „Trägermedien“ für ein digitales Bewusstsein sind: Könnte jemand (Arnold? Dolores?) durch andere Hosts huschen, in sie überspringen? Oder sie fernsteuern? Gibt es Hosts, die zeitgleich mehrere Körper kontrollieren? Kann man Bewusstsein kopieren, auf separate Roboter aufspielen, kann sich eine Host-Persönlichkeit zeitgleich in zwei Körpern entwickeln, spalten: digitale Zwillinge? Oder gibt es umgekehrt – wie bei den Borg – ein Hive-Mind, einen Schwarm?
5_03: Bei „Lost“ nervten mich mysteriöse Tiere – weil dort jedes Wesen, das sich seltsam verhielt, sofort die Frage nach einer höheren Instanz („Ist die Erzählwelt von ‚Lost‘ übernatürlich?“) aufwarf, oder nach einem tieferen Sinn („Sind den Autoren von ‚Lost‘ Motivketten so wichtig, dass sie den Realismus der Erzählwelt opfern – um durch seltsame Tiere ein paar literarische Effekte zu setzen?“). „Westworld“ dagegen darf das – denn wenn sich ein Tier im Park seltsam verhält, denke ich: „Was verrät das über das Design des Parks, die Agenda von Ford oder Arnold?“, nicht: „Zeigt sich in dieser Anomalie ein Gott innerhalb (Mystik!) oder außerhalb (Autoren!) der Erzählwelt?“ Trotzdem: Fords Klapperschlange, Fords Windhund, Felix‘ Vogel? Bisher wirken diese Tier-Spielereien beliebig. [Update nach Folge 7: Hat Ford gelogen – und die Katze und/oder den Hund als Kind selbst getötet?] #intelligentdesign
5_04:Ich mag, wie genussvoll sarkastisch Elsie den „necro-perv“ Dustin in die Ecke treibt, und denke an Veronica Mars‚ Schwung (und Hass). Schlimm nur, dass fast alle Menschen (größte Ausnahmen: die zwei ungesunden Sentimentalos William und Bernard) die schmierigsten „Männer sind Schweine“-Klischees bedienen. Sieht jeder hier die Hosts als „Dolls“ und „Fuck Puppets“? Will „Westworld“ Sympathie für Hosts schaffen, indem die Menschen immer tiefer sinken? Und: Als Arnold vor 30 Jahren fast den Park zerstörte – war das ein Akt der Gewalt gegen Hosts? Oder gegen die Besucher und das Management? #roboterrechte #hostsalsbesseremenschen
5_05: „William doesn’t want to sexually engage with the hosts. How much of that is him being moral and how much of it is him being scared of his own desires?“ Eine wichtige Frage, aus einem sympathischen Interview mit Darsteller Jimmy Simpson: Jede „Westworld“-Figur, die glaubt, das „Gute“, „Richtige“ zu tun, wirkt dabei etwas… platt. Absichtlich? Sollen wir Dolores feiern, wenn sie sagt „People come here to change the story of their lives. I imagined a story where I didn’t have to be the damsel“? Ist es so leicht, sogar fürs Hosts – sich aus der Unmündigkeit zu befreien? Dass Dolores jetzt Hemd und Hose trägt, gibt mir noch kein „Yeah! Strong Female Characters!“-Hochgefühl. Als Zuschauer aber freut mich, wie unklar, ambivalent das bleibt. Ich will das mögen. Doch mag noch mehr, dass mich die Serie immer wieder daran erinnert, was genau ich da mögen will/soll: eine Kette von inszenierten, sentimentalen Erzähl-Effekten.
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6_01: Es gibt zwei… Komplexitäts-Regler, an denen die Serie beliebig drehen kann. Die Autoren können psychologisch fragen: „Wozu ist jede Figur fähig? Wie tief, weit kann sie sich entwickeln, wie klug können Gegner ihr widersprechen, welche geheimen Absichten, Widersprüche lauern in ihr?“ (Ford, Theresa, Logan – sogar Sizemore?) Oder die Autoren fragen nur technisch: „Welche Backdoors, Rätsel, Programme, Bewusstwerdungsprozesse schlummern in den Hosts?“ (Dolores, Teddy, Maeve – sogar Clementine?) In beiden Fällen geht es um Figuren und ihr Potenzial. Doch Variante 1 braucht Psychologie, Debatten. Variante 2 vor allem Schocks, Science-Fiction-Bla, drastische Twists. Ich fürchte, das ist der Serie wichtiger. Statt „Huch: diese Figur hat viel mehr Tiefe als gedacht!“ setzt jede Folge auf „Whoa: In diesem Host laufen noch drei, vier weitere geheime, unbewusste Sub-Routinen!“ Buh!
6_02: Das für mich größte Problem der Serie: Wie wenig die Zentrale sieht, bemerkt. Ich verstehe, dass der Park weitläufig ist. Ich verstehe nicht, warum die Hosts keine Kamera im Auge haben. Warum Felix und Sylvester nicht überwacht werden. Warum keine Karte in der Zentrale live Alarm schlägt, sobald jeder Mensch und jeder Host in Park oder Zentrale atypische Bewegungen macht. Logan und der Gunslinger waren mehrmals in Gefahr, in Außenbereichen des Parks. Wie viel Gewalt Hosts ausüben dürfen und, wie schnell und effektiv jemand in der Zentrale darauf reagieren kann, scheinen die „Westworld“-Autoren von Fall zu Fall zu entscheiden – oder selbst nicht genau zu wissen. Buh!
6_03: Ich kann nicht fassen, dass ich noch immer sehnsüchtig an die Soap/Satire „unReal“ denke, sobald in der Zentrale gestritten wird: Das ständige „Shit! What the fuck?“ geht mir (besonders bei Elsie) auf die Nerven. Szenen wie zwischen Sizemore, Theresa und Charlotte Hale sah ich vor 20 Jahren in „Verbotene Liebe“. (Nochmal: Warum erfinden die eitlen, von sich selbst überzeugten „Westworld“-Schreiber einen so platten, eindimensional satirischen Autor?) Schwitzende Büromenschen, die erschreckt auf Bildschirme starren und in alle Richtungen lügen, sah ich vier Staffeln lang in „24“ (…dann hatte ich genug). Das „gruselige“ Theater und das „gruselige“ Sublevel wirkten albern. Und ich verstehe Elsie, wenn sie zischt: „It’s like everybody around here has got some kind of fucking agenda except for me.“ Statt Tiefgang: Gifteleien, Wassertreten, künstliches Drama, Scheinkomplexität. Shenanigans, unwürdig für eine scheinbar raffinierte, „elegante“ Serie über raffinierte, hochintelligente Profis. Buh!
6_04: Ich schrieb im Tagesspiegel, wie viel Respekt ich vor Nacktszenen, öffentlicher Entblößung habe. Dolores sollen wir als Zuschauer, glaube ich, schwierig oder tragisch finden. Thandie Newton dagegen hat eine heroische, gewollt sympathische, schlichtere Rolle. Einfacher geschrieben – doch großartig gespielt: verletzlich-aber-bedrohlich, schnippisch-aber-ratlos, zynisch-aber-empathisch. Maeve als Heldin der Serie. Wow.
6_05: Vor knapp zehn Jahren wollte Autor Dwayne McDuffie mehrere schwarze Held*innen ins Ensemble des „Justice League“-Comics aufnehmen – doch wurde von seinen Vorgesetzten bei DC Comics an die „Rule of Three“ erinnert: Zeigt ein Plakat, Heftcover o.ä. drei schwarze Figuren, glaubt das Mainstream-Publikum „Nichts für mich: Das ist ein Nischen-Produkt für Schwarze.“ Mich freut, dass – trotz des Western-Settings – in fast jeder „Westworld“-Szene Figuren of Color wichtige Rollen spielen. Und, dass bisher kein Gegner ihre Hautfarbe als Vorwand nutzte, um sie herabzusetzen (…bis auf Arschloch Sylvester, als er seinen Kollegen Felix „Ding Dong“ nennt).
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7_01: Für fast jede Szene in Folge 7 spricht eine Figur über ihre Vorgeschichte und/oder Sehnsüchte. Theresa fehlen leider solche Szenen. Und Dr. Ford wirkt eher noch eindimensionaler, mit der Zeit. Ich denke an Robert Loggia in einer meiner Lieblingsserien, „Wild Palms“ (5 Folgen, 1992). An Dennis Hopper als Bowser im „Super Mario“-Kinofilm (1993). Und an mehrere – besser geschriebene – Walt-Disney-artige Theme-Park-Leiter in Naoki Urasawas Manga „Billy Bat“: Hopkins ist keine Katastrophe. Doch seine Mimik nervt, und Fords philosophische Fragen, Ideen scheinen mir immer zwei Levels weniger klug/verstörend, als sich die „Westworld“-Autoren das wohl vorstellten. #knappvorbei
7_02: Mir geht zwar nahe, wie Maeve oder Dolores mit ihren Sinnkrisen, ontologischen Brüchen, Bewusstseins-Problemen umgehen. Welche Haltung sie zur Welt, ihren Rollen und den anderen Figuren finden, in einer verwirrenden Gegenwart, nach einer traumatischen Vergangenheit (oder mehreren traumatischen Vergangenheiten!), als meist machtlose Frauen. Die recht flachen, schematischen Vorgeschichten von z.B. Ford (real), Bernard (erfunden) oder Teddy (erst idealistisch-aber-seicht, dann, mit seiner neuen Rolle in Wyatts Massaker, geändert zu zynisch-aber-seicht) sind mir dagegen zu Schema F, sentimental. Das ist wohl Absicht: Dass „Westworld“ beim Effekte-Setzen immer auch zeigen will, wie leicht es sich viele Serien, Geschichten darin machen, Effekte zu setzen und Freudian Excuses für ihre Figuren zu bauen. Aber: Zugleich die Idee „Serien sind voller Kitsch, weil Menschen Kitsch brauchen!“ zu behandeln UND fünfmal pro Folge Kitsch zu liefern, in der Hoffnung, dass wir Zuschauer rufen „Hach. Wie traurig und bewegend!“… ist eine Gratwanderung, die, finde ich, hier oft misslingt.
7_03: Delos will 30 Jahre Nutzer- und Besucherdaten aus dem Park schmuggeln. Ich bin gespannt, was solche Daten wichtig macht, wem Westworld heimlich nützt (oder nutzen sollte, gegen Fords Willen). Als Facebook-Nutzer denke ich, klar, erstmal an Persönlichkeitsprofile, Targeting. Als jemand, der sich bei Sci-Fi oft langweilt, an Supersoldaten oder „Matrix“-artige „Wie lässt sich Wahrnehmung manipulieren, um Menschen ruhig zu stellen?“-Pläne. Im Großen aber bin ich positiv überrascht, dass „Westworld“ bisher niemals metaphysisch wurde: kein Roboter-Pinocchio, der endlich echter Junge werden will, kein toter Charlie als Geist in der Maschine, keine Replacement Goldfishes und – trotz Maeves Storyline – auch keine KI, die sich als besserer, reinerer Mensch versteht, oder nächste Stufe der Evolution. Alles, was bisher metaphysisch, religiös hätte wirken können – Dolores‘ „Erwachen“, Arnolds Spiel, Bernards Reveries – passierte nur, weil Programmierer es absichtlich so programmierten. Kein Twist der Serie wollte bisher zeigen: Maschinen überflügeln uns durch spontanes, unerklärliches Eigenleben; Menschen waren Götter/Schöpfer, doch jetzt sind ihre Schöpfungen plötzlich bessere Schöpfer. Sondern nur: Niemand weiß genau, was Ford und Arnold diesen Maschinen erlauben, möglich machen. #keingottkitsch
7_04: Schön, dass Bernard am Krankenbett das selbe Outfit trägt wie in der Zentrale. Schnellere Menschen denken wohl gleich: „Eine gebaute Erinnerung. Bernard ist ein Cylon!“ – doch ich sah es nicht kommen. Auch Theresas Tod überraschte, schüttelte mich – gute Arbeit! Nur, dass [Spoiler:] William und der Gunslinger/Man in Black identisch sind, weiß ich leider schon seit Folge 2 – weil ich Williams Namen googelte und sofort Schlagzeilen zum „Westworld“-Finale gezeigt bekam]. Ich bin träger, langsamer als viele Netz-Nerds und freue mich, wenn mich eine Serie austrickst, überrumpelt: Williams… Situation hätte ich aber frühestens hier, in Folge 7, in Betracht gezogen, während des Gesprächs im Zug: „[Logan] wanted to see what was at the end of all this. And yet, here you are. Your friend didn’t make it this far. Maybe you’ve got more of an appetite for this than you think.“ (Wichtig nur, weiterhin: an den äußeren Rand zu gehen ist Roberts Vorstellung vom Ende der Westworld-Erfahrung. Arnolds Vorstellung sieht vor, in die Mitte zu gehen, ins Zentrum des Labyrinths. Das sind zwei verschiedene Ideen davon, was eine Geschichte und ein sinnerfülltes Leben ausmachen, und ich hoffe, beide werden von der Serie noch gut zu Ende gedacht und kontrastiert.)
7_05: Ist die große Lektion von „Westworld“: Das Leben hat keine Bedeutung – doch Bedeutung zu schaffen (wie Robert, als Schöpfer), lohnt sich…? (Falls ja: Warum ist Robert dann so fürchterlich, in jeder Hinsicht?) Wohl eher nicht: Das Leben hat keine Bedeutung – doch Geschichten durchaus, und sie bis zum Ende zu lesen, durchzuarbeiten (wie Ed Harris), lohnt sich…? Wohl leider auch nicht (obwohl ich das persönlich glaube): Das Leben hat keine Bedeutung – doch selbst mit läppischen „Spielfiguren“ sollte man ordentlich umgehen (wie William – wobei ich mich frage, ob er Dolores noch als Figur sieht, oder wir als Zuschauer vor allem denken sollen: „Mist! Er projiziert. Was für ein Träumer, was für ein Tölpel“…?) Nachtrag, nach Folge 10: Die tatsächliche Lektion [Erst Leid macht uns zur vollständigen Persönlichkeit] war mir zu seicht – doch mich freut, wie klug und deutlich das „Westworld“-Finale alle Lektionen, die ich hier aufliste, als Fehlschlüsse/zu-kurz-gedacht zeigt.
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8_01: Theresas Geschichte scheint vorbei – und ich bin unzufrieden. Eine ältere, markante, vermeintlich kompetente Frau, die sieben Folgen lang nur reagieren konnte… doch kaum Kontrolle, keine Chance hatte, zu zeigen, wofür sie steht und, warum sie ein Gewinn ist, in ihrer Rolle/Position. Das ist für mich Captain-Janeway-Feminismus: Wer diese Sorte ältere, autoritäre, ‚kalte‘ Frau respektiert, freut sich kurz. Doch wer solche Frauen nervig findet, hat keinen Grund, nach sieben Folgen zu sagen: „Doch – interessante Figur. Und gut, dass sie so nüchtern blieb und viel Verantwortung trug!“ (Ich denke an Chefin Erin Driscoll in Staffel 4 von „24“: auf den ersten Blick stark – doch dramaturgisch ein Witz.)
8_02: Erst jetzt verstanden: Das schwarze Gebälk des Kirchturms in der Wüste ist der Turm, den Ford in Folge 2 „White Church“ nannte; die Kirche war außen nur weiß verkleidet. Ich weiß nicht, ob „Westworld“ hier clever mit Schwarz-gegen-Weiß- und Unter-Weiß-ist-Schwarz- und Weiß-und-Schwarz-nehmen-sich-nichts-Kontrasten spielt? [Und: Ist Arnold in diesem „Die Hosts lernen tanzen“-Dorf gestorben, damals?] Könnte man Figuren sogar paarweise anordnen, je zwei Rollen, die auf den selben Konflikt „hell“ (idealistisches Menschenbild) oder „dunkel“ (zynisches Menschenbild) reagieren? William und Logan, Arnold und Ford, Bernard und Theresa, Dolores und Maeve, Sylvester und Felix? Ist Stubbs ein Gegenpart zu Elsie? Wer vertritt die gegenteilige Weltanschauung von Charlotte? […erst später verstanden: Das Dorf mit der weißen Kirche war nicht nur ein namenloses „Testdorf“/Beta Village für den Park – sondern Escalante, aus Teddys/Wyatts Backstory.]
8_03: Ich hoffe, Williams‘ und Dolores‘ Reise an den Rand des Parks ist trotz Logans Rückkehr noch nicht um – und, dieses „Ende“ des Park-Erlebnisses wird uns zeigen, wie Ford als Erzähler denkt: Wie er sich die Spitze, das Fazit, die schwerste Stufe, Quintessenz eines Parkbesuchs vorstellt. Glaubt auch Ford, der Park soll den Besuchern zeigen, „wer sie wirklich sind“? Ich mag den Rand der „Truman Show“ und hoffe auf eine visuell interessante Lösung.
8_04: Schön auch Dolores‘ Kohlezeichnung des Tals – die nur funktioniert, so lange das Leintuch NICHT glatt und gerade hängt. Ich weiß nicht, ob das als Metapher gedacht war und für welches Sinnbild das stünde – doch der Effekt wird mir lange im Gedächtnis bleiben: ein einfaches Gemälde, ’schief‘ auf eine völlig unebene Oberfläche aufgetragen, die irgendwelche unwichtigen (?) Gegenstände überdeckt, deren Form/Kanten trotzdem jeden Strich bestimmen. The past is never dead – it’s not even past? Man kann nur ‚gerade‘ zeichnen, indem man völlig schief zeichnet und all das verdeckte Zeug untendrunter mitdenkt?
8_05: Ein großes Fass – vielleicht das größte der Serie – ist die Frage nach Gewalt als Agency. Ich schrieb schon weiter oben, dass ich als Besucher/Spieler im Park am liebsten gar keine Gewalt ausüben würde. Weil das ein Spiel, in dem ich selbst nicht sterben kann, interessanter, raffinierter macht. Und, weil ich – wie William, anfangs – glauben will, dass es sich lohnt, als Mensch das Richtige zu tun statt das Einfache/Bequeme. Mein Partner mag „Westworld“, doch ist angewidert, wie viele Messerwunden, zerschossene Köpfe, Gewaltorgien in jeder Folge gezeigt werden. „Das ist eben HBO. In fünf Jahren sehen wir Serien, in denen Frauen nur noch nackt durch Blut waten, 60 Minuten lang“, witzelte ich. Aber im Ernst: „Westworld“ ist eine Serie, in der es dauernd Gewalt gibt – doch bisher habe ich (anders als in z.B. „24“, in vielen „Batman“-Filmen und -Comics, in den meisten Krimis) noch keine einzige „Westworld“-Szene gesehen, die mir zu vermitteln schien: „Gut so. Manchmal ist Gewalt nötig.“ Ich bin gespannt, was mit Maeve und ihrer Armee passiert, und ob die Serie uns dazu verführen soll, sie als feministischen, kick-ass Terminator zu feiern, sobald sie zurück schlägt. Sylvesters Kehle durchzuschneiden kam mir nicht wie ein „Hurra! Die unterdrückte Frau hat Agency! SO sieht Stärke aus!“-Triumph-Moment vor. Niemand, der bisher irgendwen erschoss, erschlug, kalt stellte, schien von der Serie dafür als Held gelobt zu werden. #pazifismus #idealismus
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Bei Romanen weiß ich oft schon nach der Hälfte, ob sie funktionieren.
Bei Serien aber ist oft das (Staffel-)Finale entscheidend: Manchmal zeigt erst die letzte Folge, ob die Autor*innen wussten, was sie tun – oder einfach vor sich hin erzählten. Gleich sehe ich Folgen 9 und 10. Vorher noch: Fragen – an deren Antworten sich zeigen wird, ob „Westworld“ eine Zwischendurch-Serie ist… oder ein (kleines) Must-See:
Gibt es „Geister“ im Code der Hosts?
Machte sich Arnold unsterblich – lebt er in z.B. Dolores weiter?
Ist der heutige Arnold, die Stimme in z.B. Dolores‘ Kopf, ein „echter“ Mensch, der sein Bewusstsein digitalisieren konnte und jetzt als Programm lebt – oder nur der digitale Abdruck eines Menschen, angefertigt von ihm selbst, zu Lebzeiten?
Wie sehr werden Maeve und Dolores für ihre „Menschwerdung“ gefeiert: Ist das Ziel, möglichst menschlich zu werden – oder sind Hosts die besseren Menschen?
Wie menschlich können Hosts, wie unsterblich können Menschen in „Westworld“ werden?
Beneiden Hosts die Menschen… doch beneidet kein sterblicher Mensch stattdessen die Hosts – und wünscht/kauft sich digitale Upgrades?
Will die Serie (kitschig) zeigen: Geist, Herz, Liebe, Menschenwürde können aus einem biologischem oder aus einem künstlichen Bewusstsein entspringen – sie haben den selben Wert, sind gleich „echt“, gleich „tief“?
Die ersten Folgen zeigten viel Milch. Kommt da noch was?
Teddys Rolle blieb recht sinnlos: Wertet das Ende die Figur noch etwas auf?
Und Lawrences‘ Tochter – die das Labyrinth in den Staub zeichnete: Gehört sie, wie Dolores, zu einer Sorte Hosts, die von Arnold „erweckt“ wurde?
Gibt es Hosts mit mehreren Körpern?
Wozu braucht Charlotte die Daten?
Sehen wir die Außenwelt – und wird diese Welt besser oder schlechter, falls es Charlotte gelingt, die Daten dort zu benutzen?
Sehen wir Fords neues Narrativ, und erzählt es (…auch: auf einer Meta-Ebene) davon, was am alten Narrativ nicht klappte?
Wird Staffel 2 grundsätzlich anders erzählen? Wird Staffel 2 so erzählen, wie sich Ford ein besseres Park-Narrativ vorstellt? (…oder, meta: Wird Ford erklären, was an der Erzählweise von Staffel 1 problematisch war?)
Wie spiegelt das Finale den Pilotfilm? Haben sich viele Storylines und Machtverhältnisse in der Zentrale am Ende nur im Kreis gedreht – will „Westworld“ zeigen, dass auch echte Menschen oft in einem Loop leben, oder einem „Pfad“ folgen müssen?
Gibt es eine Möglichkeit, den Park als Besucher besser, ganz anders durchzuspielen als William und der Gunslinger? Fragt Staffel 2 (und/oder: Fords neues Narrativ) nach anderen, positiveren Spielweisen anderer Besucher – oder sind Park und/oder Narrativ und/oder Hosts bis dahin eh kaputt, unspielbar?
am Wichtigsten:Sehen wir das Zentrum des Labyrinths, und hat es damit zu tun, wie Arnold starb? Teddy erklärte in Folge 5: „The maze is an old native myth. […] at the center, there’s a legendary man who had been killed over and over again countless times, but always clawed his way back to life. The man returned for the last time and vanquished all his oppressors in a tireless fury. He built a house. Around that house he built a maze so complicated, only he could navigate through it. I reckon he’d seen enough of fighting.“ .
Ich muss an Fords creepy Roboter-Familie denken und frage mich, ob wir im Zentrum des Labyrinths ein vergleichbares Haus von Arnold sehen – oder: eine abstraktere Idee davon, was sich Arnold unter „Zuhause“, „Heimkommen“, „Nicht-mehr-Kämpfen-Müssen“ vorstellt.
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9_01: Zwei „Westworld“-Konzepte, zu denen ich mir Fanpages, Texte, Apps wünsche: Das 20-Punkte-Persönlichkeitsprofil der Hosts. Candor, Vivacity, Coordination, Meekness, Humility, Cruelty, Self-Preservation, Patience, Decisiveness, Imagination, Curiosity, Aggression, Loyalty, Empathy, Tenacity, Courage, Sensuality, Charm, Humor, Bulk Apperception. Und die Idee, dass jede Host-Persönlichkeit auf einer (traumatischen) „Cornerstone“-Erinnerung fußt. Was ist deine Cornerstone-Erinnerung? Die Szene, aus der sich alles weitere erklärt?
9_02: Jedes „Dr. Quinn“-TV-Westerndorf hat einen Arzt und einen Prieser. Dass solche Standardfiguren in Sweetwater keine Rolle spielten, freute mich – aber hätten Dolores und Maeve bei ihren ersten Zweifeln, Aussetzern die Ratgeber, Ansprechpartner gehabt, die echte Frauen in den 1880ern in ihren Städtchen hatten… hätten sie ihre Welt weniger schnell und grundsätzlich in Frage gestellt. Dass jetzt, kurz vor Schluss, plötzlich Kirche und Beichtstuhl wichtig werden, lässt mich nochmal grundsätzlicher fragen: Schön, dass fast alle Figuren Atheisten sind (oder ihr Vertrauen jedenfalls in andere Faktoren legen als in Gott). Doch „Gott“ ist in „Westworld“ nur noch Synonym für „Die Person, die am schnellsten denkt, am meisten Macht und Gestaltungsraum hat.“ Das ist zu wenig.
9_03: „I want to love Westworld. I go into every episode of the show hoping that this will be the week the games get put aside so Nolan and Joy can start telling the real story, but with each passing week it feels like the games are the real story„, klagt Alan Sepinwall in seinem besten Text zur Serie – der Kritik zu Folge 9. Ich stimme zu…
9_04: …denn alles, was die Figuren und ihre Standpunkte ausmacht, kann/soll in dieser Erzählung dauernd geändert, verdreht, zurückgenommen werden, möglichst dramatisch. Bei den Hosts sowieso: Wer kann sagen, wer Teddy, Maeve, Dolores „wirklich“ sind? Doch auch bei Logan, William, dem Gunslinger und den Figuren in der Zentrale: Charlottes Andeutungen, Fords beredtes Schweigen etc. machen mir keinen Spaß – denn auch nach neun Folgen weiß ich kaum, wofür diese Leute stehen, und fürchte auf weitere Enthüllungen, die wieder alles umwerfen. Am schlimmsten ist für mich Arnold. Eine Figur ohne Gesicht, deren Weltanschauung, Privatmythologie entscheidend ist für unser Verständnis vom Park, dem Menschenbild hinter den Hosts, Haltung und Philosophie der kompletten Serie. Bernard ist eine Marionette, Ford ein Rätsel, Arnold eine körperlose Stimme, Theresa tot, Sizemore ein schlechter Witz, William macht sich vermutlich etwas vor, der Gunslinger lässt sich nicht in die Karten sehen, und Maeve, Teddy, Dolores sind nur wandelnde Fragezeichen. Das sind keine Figuren, die kluge Standpunkte klug diskutieren. Sondern Chiffren, die hin- und hergeschoben werden können, nach Belieben.
9_05: „Wer ist die Frau mit dem Ronja-von-Rönne-Gesicht?“ …war alles, was mir zu Angela einfiel. Erst später, online, habe ich verstanden, dass ich den Host hätte erkennen müssen, dass Angela zu drei verschiedenen Momenten drei verschiedene Rollen spielt. Die Western-Storylines bleiben halbdurchdacht, leben von Vertröstungen: El Lazo, Teddys Rolle in Wyatts Massaker, die „Ghost Nation“… immer sind Hosts und Spieler unterwegs, stoßen dabei auf vielsagende Namen, bedrohliche Andeutungen – doch alles bleibt nur hastiger, lästiger, nichtssagender Zwischenschritt, und hinter jedem großen, vermeintlich wichtigem Namen verpufft die selbe Sorte Wegwerf-Bösewicht. Vielleicht ist das Methode – denn auch Hectors Safe ist leer und damit nur MacGuffin/Mittel, die Geschichte voran zu treiben. Als Zuschauer machen mir solche Szenen keinen Spaß, und je länger ich über sie nachdenke, desto ärgerlicher und unlogischer scheint mir alles. Warum z.B. glaubt Hector sofort, in einer Kunstwelt zu leben? Er weiß, dass Maeve die Safe-Kombination kennt und den Safe hätte leeren können. Der Sex im brennenden Zelt, am Ende: Trash.
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10_01: „We have now basically arrived at the plot of the original movie — theme park robots violently escape the shackles of their programming — only in a circumstance where we are rooting for the robots to wipe their tormentors from the face of the planet, is intriguing. That is a show I reckon I could have fun watching, provided it’s not the same overconfident, antiseptic puzzle box that too much of this season was — especially since it all seems to be a prologue for what the actual show will be about“, fasst Alan Sepinwall zusammen. Mich freut – immerhin – dass Staffel 2 ganz andere Konflikte und Hierarchien zeigen muss. Ein paar Ideen zu Season 2, bei TV Tropes.
10_02: Ich denke oft an „The Dark Knight Rises“ von 2012. „The Dark Knight“ (2008) fand ich großartig – doch die Fortsetzung steckte voll riesiger Sätze, Fragen, Konzepte, bei denen ich bis heute vermute: „Das sieht nur aus wie eine Idee. Das klingt nur wie ein großer Satz.“ (z.B. die Bezüge zur Occupy-Bewegung.) Auch bei „Westworld“ gibt es solche Nolan-Sätze, unvergesslich: „A metaphor.“ – „You mean a lie.“ – „Yeah.“ Entweder, Jonathan Nolan hat sehr, sehr lang über solche Sätze und die riesigen Fässer, die sie öffnen, nachgedacht… oder doch: viel zu kurz.
10_03: Arnold trauert um seinen Sohn und bringt sich (mit Dolores‘ Hilfe) um, damit die Investoren Roboter für eine Gefahr halten und den Park nicht öffnen. Ford sind alle Menschen egal – er bringt sich (mit Dolores‘ Hilfe) um, um den Hosts Kontrolle über den Park zu schenken? Ich verstehe ungefähr, was beide Männer am Park stört. Doch ich verstehe nicht, was diese Selbstmorde dafür so zwingend macht – oder erzählerisch zu einem großen Gewinn. [Seltsam auch, wie steif, roboterhaft alle Delos-Aktionäre wirkten, am Strand und während der Gala.] #lapidarerabgang
10_04:Tessa Thompson spielt toll – und ich hoffe sehr, dass Charlotte Hale überlebt. Doch folgende Sätze glaube ich ihr nicht: „But for all of Ford’s obsessing with the hosts‘ verbal tics and convoluted backstories, most of the guests just want a warm body to shoot or to fuck. They would be perfectly happy with something a little less baroque.“ Hier lässt „Westworld“ die Antagonistin (?) sagen: „Tiefgang/barocke Erzählwelten sind Ballast.“ Als sollten wir als Zuschauer denken: „Nein! Barockes Erzählen ist großartig, und ‚Westworld‘ beweist es!“ Doch für mich ist die Serie als Serie kein überzeugendes Argument dafür – und mich stört, dass die Autoren hier so tun, als würde jeder, den „Westworld“ nicht überzeugt, stattdessen einfach nur nach „a warm body to shoot or to fuck“ verlangen. #strawmanargument
10_05: Das selbe Problem, deutlich größer: Ich hätte als Parkbesucher Mühe, mich zu motivieren. Denn wollen Gäste wirklich einen Park, in dem sie nie sterben, ihre Taten kaum Konsequenzen haben? Fast alle Gamer, die ich kenne, suchen herausfordernde Spielwelten. Folge 10 tut so, als hätte sich Delos geirrt, und Ford müsste der Park-Spielmechanik (bzw. den Hosts) ein überfälliges Geschenk machen: die Fähigkeit, zurück zu schlagen. Auf der „Menschenrechte für Roboter“-Ebene verstehe ich das. Doch so zu tun, als wollten alle Menschen alle Hosts 30 Jahre lang nur verlieren sehen – weil Menschen nunmal so sind? Ich glaube das nicht.
10_06: Das selbe Problem – so groß, dass es der ganzen Staffel schadet: Fords Pyramide und Arnolds Labyrinth sind das selbe System. Man wird in mehreren Stufen/Schritten zur Person: 1) Memory, 2) Improvisation, 3) Self-Interest, 4) Suffering. Wenn Maeve sagt, dass sie die Erinnerungen an ihrer Tochter behalten will, wenn Bernard von Cornerstones spricht, wenn Dolores ihre toten Eltern nicht hinter sich lassen will… sollen wir diese Figuren (Hosts!) reif und menschlich finden. Aber: Ich sehe keinen Grund, dieser (netten, aber flachen) Idee erst Strahlkraft zu geben, indem man behauptet Park-Besucher, normale Menschen etc. tun fast immer alles, um Leid oder Widerstände auszublenden. Die „Lösung“ des Labyrinths wirkt groß, weil 08/15-Menschen in „Westworld“ viel zu klein, schwach, unreif wirken.
10_07: Arnold ist Bernard. Arnolds Sohn ist Bernards Sohn. Dolores ist Wyatt. Dolores hört Arnolds Stimme. Doch eigentlich hört sich Dolores, im bicameral-mind-Modell, selbst: Dolores ist Arnold ist Dolores ist Dolores (…und, klar: William ist der Gunslinger; und Teddy fragte sich kurz, ob er selbst Wyatt war): Folge 9 und 10 tun so, als seien all das besondere, kluge dramaturgische Kniffe. Mir wären ein gut gespielter, präzise ausgearbeiter Arnold, ein Wyatt mit klarer Haltung, deutliche Unterschiede zwischen Arnold und Bernard etc. lieber gewesen statt eine Gleichung, bei der jede unbekannte Variable wurstig „erklärt“ wird mit „X? Das ist ein Teil von Y. Und Y ist eigentlich Z. Und Z war mal X.“
10_08: Schön, dass das Finale – wie die ersten vier Folgen – mit Dolores begann. Schön, dass mehrere Bögen geschlossen wurden (z.B. das Foto von Julia, am Times Square). Trotzdem freut mich, dass „Westworld“ keinen großen Loop erzählte und alle Figuren mit ganz neuen Konflikten und Rollen zurück lässt: Dolores als Tyrannin? Maeve als militanter Freedom Fighter? Empathiker Bernard, der sich die ganze zweite Staffel fragen kann, welche Rechte Menschen haben und, ob der Zweck die Mittel heiligt…?
10_09: James Marsden spielte in vielen Liebesfilmen den Romantic False Lead – ein netter Kerl, den die Hauptfigur später für Mr. Right verlässt. Ich hätte mir für Teddy eine bessere, halbwegs stimmige Geschichte oder Entwicklung gewünscht – doch freue mich, dass „Westworld“ bei keiner Heldin zeigt: „Hier ist ein Mann – und er kann dich retten.“ Besonders William erscheint mir (während der 30 Jahre zwischen „Ich suche Dolores“ zu „Ich vergewaltige sie in der Scheune“) als selbstmitleidiger, schäbiger, nutzloser Fuckboy: eine narzisstische Knalltüte, die „Liebe“ liebt – doch seine Partnerin hängen lässt.
10_10: „Die Serie hat ein plattes Menschenbild: Der Park soll zeigen, wer Leute wirklich sind – doch enthüllt bei William, dass er ein weinerlicher, leerer Soziopath ist? Warum sind alle Menschen in dieser Serie im Grunde ihres Herzens Müll?“, klagte ich nach dem Finale. „Nein“, widersprach mein Partner: „Ich glaube, Williams Storyline soll einfach zeigen: Der Park macht krank. Jeden.“
10_11: Elsie küsst Clementine. Besucherin Marti schläft mit Clementine. Logan liegt mit zwei weiblichen und einem männlichen Host im Bett. Nach drei, vier Folgen aber verschwinden alle queeren Momente. Besser als nichts? Oder, wie Buzzfeed findet: deprimierend wenig?
10_12: Toll inszenierte Szene – doch für mich Tiefpunkt, Widerspruch: Wir sollen den Ausbruch von Hector, Armistice, Felix und Maeve sexy, kathartisch, „Matrix“-mäßig großartig finden – oder? „Westworld“ zeigte neun Folgen lang: Leere, selbstzufriedene Gaffer wie Logan lechzen nach Gewalt. Die Serie tat so viel, um mir jede Lust auf explodierende Köpfe zu nehmen. Wozu dieser Schritt zurück? Massaker sind okay, wenn die Hosts gewinnen? (Aber: Es gibt mehrere Parks? „Samurai World“? „Shogun World“? Vorfreude!)
10_13: Ich tue mich ähnlich schwer damit, zu klatschen, wenn Dolores den Gunslinger im Finale durch die Kirche schleift, wie er sie im Pilotfilm Richtung Scheune schleifte: Die Serie hat eindringlich und engagiert gezeigt, wie schnell Frauen, Minderheiten, Schwächere Gewalt erleben können und, wie machtlos sie sind. Aber der… recht billige „Your time is over, trauriger alter Mann!“-Feminismus im Finale langweilt mich – und ich habe Angst, dass Staffel 2 ähnlich plump nach Parallelen suchen wird zwischen Maeves Kampf und z.B. der schwarzen Bürgerrechtsbewegung.
10_14: Der größte „Autoren? Das ist nicht so gesellschafskritisch, clever, wie ihr hofft“-Moment (hier wirklich: „A metaphor? You mean a lie.“), schon in Folge 9: „We humans are alone in this world for a reason. We murdered and butchered anything that challenged our primacy. […] Do you know what happened to the Neanderthals, Bernard? We ate them. We destroyed and subjugated our world. And when we eventually ran out of creatures to dominate, we built this beautiful place.“ …erklärt Dr. Ford – vor einem Indianer-Federschmuck, der vergessen in der Ecke hängt.
10_15: Maeve sieht Mutter und Tochter im Zug – und steigt wieder aus. „Gut, dass sie umdreht“, sagt mein Partner: „Statt nur sich selbst in Sicherheit zu bringen, will sie den anderen Hosts helfen. Die Revolution muss von innen kommen! Draußen hätte sie sich verstellen müssen, um nicht als Host aufzufallen: Das selbe traurige Versteckspiel wie kurz davor im Park.“ Das stimmt – doch falls es so gemeint war, hätte es klarer gezeigt werden müssen. Ich sah nur „Oh: Sogar bei Robo-Mamis bestimmen Muttergefühle alles.„
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(Freund O. wirft ein: „Du hast bei Maeves Ende etwas übersehen: Bernard macht klar, dass Maeve eben nicht frei war – sondern nach einem Programm gehandelt hat, dessen nächster Schritt „outside infiltration“. Indem sie sich – getrieben von der Erinnerung an das Trauma, ihre Tochter zu verlieren – aber tatsächlich entscheidet, zu bleiben, bricht sie zum ersten Mal die Programmierung. Klar kann man sich darüber beschweren, dass es jetzt grade die „Muttergefühle“ sind. Aber ich finde, es geht weiter als das.)
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Autor Michael Crichton schrieb 1990 den Roman „Jurassic Park“ (verfilmt 1993) – über einen Vergnügungspark voller Saurier, die außer Kontrolle geraten. Schon 1973 schrieb er das Drebuch „Westworld“ – über einen Vergnügungspark voller Roboter, die außer Kontrolle geraten.
„Westworld“ ist ein charmanter, sehr geradliniger und simpler Actionfilm. Immerhin aber: trotzdem eine überraschend deutliche Kritik an Menschen, die bei einem Park voller Roboter zuerst denken „Toll: Marionetten, die ich töten oder sexuell missbrauchen kann!“
Crichton war kein sehr kunstfertiger Autor (oder Regisseur); er starb 2008. Trotzdem hatte er einen sehr genauen Blick auf Technik und Arbeitswelten, z.B. als Produzent von „Emergency Room“. Vor „Westworld“ schrieb er v.a. Groschenromane unter Pseudonym; nach „Westworld“ Klassiker wie „Coma“ und „Jurassic Park“.
1976 gab es einen zweiten Kinofilm, „Futureworld“, über den Versuch, Politiker durch Klone/Roboter zu ersetzen, und 1980 eine kurze, erfolglose TV-Serie, „Beyond Westworld“, über Undercover-Roboter, die Terrorakte begehen: beides entstand ohne Crichtons Beteiligung.
Ich dachte lange, „Westworld“ sei eine Romanverfilmung. Aber:
„It [Westworld] didn’t work as a novel, and I think the reason for that is the rather special structure of this particular story. It’s about an amusement park built to represent three different sorts of worlds: a Western world, a Medieval world and a Roman world. The actual detailing of these three worlds—and also the kinds of fantasies that people experienced in them—were movie fantasies, and because they were movie fantasies, they got to be very strange-looking on the written page. They weren’t things that had literal antecedents, literary antecedents. They were things that had antecedents in John Ford and John Wayne and Errol Flynn—that sort of thing. In some ways, it’s a lot cleaner as a movie, because it’s a movie about people acting out movie fantasies. As a result, the film is intentionally structured around old movie cliche situations—the shoot-out in the saloon, the sword fight in the castle banquet hall—and we very much tried to play on an audience’s vague memory of having seen it before, and, in a way, wondering what it would be like to be an actor in an old movie“, schreibt Crichton auf seiner Website.
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“In that usual Michael Crichton fashion, he never wrote anything that was just a film-there was always a massive world behind it that could be mined.” – Jonathan Nolan [Showrunner der HBO-Serie]
“Crichton wrote this as an original screenplay and then directed it. There’s no book. What you feel in the film is there’s this larger world that he barely has time to explore. It leaves you breathless. Westworld goes from one f-king massive idea to the next. At one point in there, he references why the robots are misbehaving. He describes the concept of the computer virus. When they were shooting the film it was the same year, or the year before, the appearance of the first actual computer virus. This is why Crichton was so brilliant. He knew so much about the technologies that were about to emerge, spent so much time thinking about how they would actually work.“ – nochmal Jonathan Nolan, Zitat ebenfalls via Michaelcrichton.com
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„Westworld“ (1973) ist also weniger ein Film darüber, wie es sich anfühlen würde, im Wilden Westen zu leben – als darüber, wie es sich anfühlt, in einem (plötzlich, nach Fehlfunktion der Roboter: sehr brutalen und existentiellen) FILM zu stecken.
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„Westworld“ (2016) tut das selbe – doch zieht stattdessen vor allem Videospiel- und Liverollenspiel-Vergleiche: Wie fühlt es sich an, in einem Action- oder (frauenfeindlichen) Sex-Spiel zu stecken?
Und: Wie fühlt es sich an, eine fremdgesteuerte Nebenfigur (ein Non-Player-Character) in einem solchen Spiel zu sein… und das allmählich zu begreifen?
Das Feuilleton vergleicht teure Serien oft mit Dickens etc.: ein modernes Epos, der Roman des 21. Jahrhunderts. „Westworld“ zeigt eine Welt, in der statt Serien ein Western-Spiel diesen Rang einnimmt: Es gibt viele Diskussionen der Park-Macher, -Autoren, -Manager darüber, wie sich das „Narrativ“ des Parks entwickeln soll.
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So wird „Westworld“ zu einer Art… Meta-Kommentar darüber, was solche Serien heute mit ihren Zuschauern machen, was sie uns über uns selbst spiegeln.
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Trotz dieser vielen technischen Gespräche über Erzählkunst, Identifikation, sich-in-Fiktionen-Spiegeln, Empathie, Rollenmuster usw. ist „Westworld“ aber auch eine konventionelle, typische HBO-Serie: krasse Gewalt, minutenlange Nacktszenen, alberne Cliffhanger, übertriebene Wendungen, allerlei abgeschmackte Sentimentalitäten. Die Serie versucht, gleichzeitig sentimental zu sein und zu zeigen: „Schau, wie sehr Menschen sich nach solchen sentimentalen Rollen sehnen!“
Das wirklich Neue daran wurde mir klar, als ich den Film von 1973 sah: viele Motive wurden von 1973 übernommen. Die FORM dagegen stammt komplett aus dem 21. Jahrhundert: ein… recht gnadenloses, enges Erzähl-Korsett, das wir erst seit ca. 15 Jahren kennen – aus Serien wie „Lost“, „Kampfstern Galactica“, „Game of Thrones“. Ich sah noch nie eine Serie, die mir die Erzählform „teure US-Prestige-Serie voller Wendungen, Sex und Gewalt“ SO deutlich als Konstrukt/Schema vorführte. Zugleich als mitreißende, oft überzeugende Serie… und als Meta-Kommentar über solche Serien: „Schau, welche immer gleichen blöden Zahnräder ein Uhrwerk namens ‚anspruchsvolle Serie‘ bilden.“
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In der Serie selbst sind alle Roboter-Persönlichkeiten jeweils um eine Verlusterfahrung, ein Trauma, eine wichtige Erinnerung herum gebaut – die „Cornerstone Memory“. Das heißt: es gibt EINE Geschichte, aus der heraus sich deine Persönlichkeit verstehen lässt – meist eine leidvolle Verlusterfahrung. „Westworld“ erzählt dann…
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a), zynisch: …wie schnell und billig man mit solchen rührseligen Backstories überzeugende Figuren und Erzählungen bauen kann.
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aber auch b), etwas rührselig-buddhistisch… dass Leid eine Person erst zur Person macht – Menschen wie Roboter – und ein Leben ohne Prägung durch Leid und Widerstand kein Leben wäre: Wir werden erst durch Reibung zu Personen, und ich muss mir eine Narration über mich selbst erzählen, um mich selbst begreifen zu können.
Ich kenne keine Serie, in der so viel über das Erzählen (und Erinnern, und Spielen) gesprochen wird. aber: all das stammt aus dem 21. Jahrhundert, nicht aus Crichtons Ursprungs-Vision: eine TV-Serie aufgeschnitten/seziert als Erzählform über das Erzählen von Erzählformen. Erzählen… am offenen Herzen einer Erzählung. #meta
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Als Zuschauer fand ich den Pilotfilm großartig und die Welt des Parks und der Roboter sehr faszinierend. Insgesamt kann ich die Serie auch empfehlen. Aber: So vieles kennt man schon aus anderen Serien, und so viele abgeschmackte Elemente werden hier als abgeschmackte Elemente vorgestellt/ausgestellt, doch dann trotzdem in vollem Ernst benutzt, dass ich an zu vielen Stellen dachte:
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Boah… ja. Wie sentimental und kalkuliert. Typisch HBO-Serie!
High-School-Komödie, verfasst im Stil von Studs Terkel: „Zeitzeugen“ berichten – und widersprechen sich. Charmante Unterhaltung.
„Avery is one of the most popular girls in her class. But a public breakup causes disastrous waves. Now, Avery gets to thinking about the guys that she has dated. How come none of those relationships worked out? Could it be her fault? In history class she’s learning about this method of record-keeping called „oral history“. So Avery decides to go directly to the source. She tracks down all the guys and uses thoughts from friends, family, and teachers, to compile a total account of her dating history.“ [Klappentext, gekürzt]
Seit „Please don’t hate me“, „Please ignora Vera Dietz“ und „Reality Boy“ meine Lieblings-Jugendbuchautorin. Aber: auch wieder eine sehr zerquälte und flapsige Hauptfigur, die sich selbst im Weg steht. Kein Gute-Laune-Buch.
„Sarah is several people at once. And only one of them is sixteen. Her parents insist she’s a gifted artist with a bright future, but now she can’t draw a thing. Meanwhile, there’s a ten-year-old Sarah with a filthy mouth. A twenty-three-year-old Sarah with a bad attitude. And a forty-year-old Sarah. They’re all wandering Philadelphia, and they’re all worried about Sarah’s future. Sarah might be having an existential crisis. Or maybe all those other Sarahs are trying to wake her up before she’s lost forever in the tornado of violence and denial that is her parents’ marriage.“ [Klappentext, gekürzt]
Mainstream-Romance; aber deutlich besser geschrieben als nötig.
„When her best friend Charlotte died, Becca gave up on the real world and used her books to escape. Until she meets Max Herrera. He’s experienced loss, too. As it turns out, kissing is a lot better in real life than on a page. But happy endings aren’t always guaranteed.“ [Klappentext, gekürzt]
Das nichtssagende Cover stieß mich ab – aber die Figurenkonstellation macht Spaß. Auch, wenn alles hier (Thema, Tonfall) etwas gestrig/angestaubt wirkt.
„All Ryan, Harley and Miles had in common was Isaac. They lived different lives, had different interests and kept different secrets. But they shared the same best friend. They were sidekicks. And now that Isaac’s gone, what does that make them?“ [Klappentext, gekürzt].
Ich bin gesichtsblind – wie die männliche Hauptfigur, hier; und glaube, das Buch trägt viel zu dick auf. Und: Ich bin kein Fan von Außenseiter-Romances. Trotzdem las ich los – und hatte Lust, noch lange weiter zu lesen.
„Everyone thinks they know Libby Strout, the girl once dubbed “America’s Fattest Teen.” Following her mom’s death, she’s been picking up the pieces in the privacy of her home. Everyone thinks they know Jack Masselin. What no one knows is that Jack can’t recognize faces. Even his own brothers are strangers to him. The two get tangled up in a cruel high school game—which lands them in group counseling and community service.“ [Klappentext, gekürzt]
Noch eine Mainstream-Romance, die mich skeptisch macht. Aber: solide geschrieben.
„Natasha: I believe in science and facts. Not destiny. Or dreams that will never come true. I’m not the kind of girl who meets a cute boy on a crowded New York City street and falls in love. Not when my family is twelve hours away from being deported to Jamaica. Daniel: I’ve always been the good son. Never the poet. Or the dreamer. But when I see Natasha, I forget about all that.“ [Klappentext, gekürzt]
Klischeehafte Figurenkonstellation, ein klischeehaft westlicher Blick auf Japan? Doch dass der Roman bei FSG erscheint, macht mir Mut. Im besten Fall: surreale, literarische All-Ages-Unterhaltung wie David Mitchell.
„Koda Okita is a high school student in modern-day Japan. He suffers from narcolepsy and has to wear a watermelon-sized helmet to protect his head in case he falls. When a rash of puzzling deaths sweeps his school, Koda discovers that his narcoleptic naps allow him to steal the thoughts of nearby supernatural beings. He learns that his small town is under threat from a ruthless mountain demon.“ [Klappentext, gekürzt]
Die mittlerweile dritte (?) Trilogie von Victoria Schwab binnen weniger Jahre. Jedes Mal mag ich den Stil, doch jedes Mal langweilt mich die Erzählwelt.
„A city at war, a city overrun with monsters. Kate Harker and August Flynn are the heirs to a divided city. Kate wants to be as ruthless as her father, who lets the monsters roam free and makes the humans pay for his protection. August wants to be as good-hearted as his own father, to play a bigger role in protecting the innocent—but he’s one of the monsters. Kate discovers August’s secret, and after a failed assassination attempt the pair must flee for their lives.“ [Klappentext, gekürzt]
Hartes Thema, feministischer Blick: das Buch aus dieser Liste, auf das ich am gespanntesten bin.
“Hermione Winters is the envied girlfriend and the undisputed queen of her school. But then someone puts something in her drink at a party. Victim. Survivor. That raped girl. Even though this was never the future she imagined, one essential thing remains unchanged: Hermione can still call herself Polly Olivier’s best friend. Heartbreaking and empowering, Exit, Pursued by a Bearis the story of friendship in the face of trauma.” [Klappentext, gekürzt]
“Everything about Jessie is wrong. That’s what it feels like during her first week at her new ultra-intimidating prep school. It’s been barely two years since her mother’s death, and because her father eloped with a woman he met online, Jessie has been forced to move across the country. Buxbaum mixes comedy and tragedy, love and loss in her debut YA novel filled with characters who will come to feel like friends.” [Klappentext, gekürzt]
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zehn Middle-Grade-Novels (für ca. Elf- bis Vierzehnjährige):
Sentimentales Cover. Baseball lässt mich meist kalt. Doch ich mag „Ms. Marvel“ (…deren Eltern, Muslime aus Pakistan, nach New Jersey auswanderten), und hoffe auf einen ähnlich klugen, warmherzigen Blick/Ton.
„Ten-year-old Bilal liked his life back home in Pakistan. He was a star on his cricket team. But when his father suddenly sends the family to live with their aunt and uncle in America, nothing is familiar. While Bilal tries to keep up with his cousin Jalaal by joining a baseball league, he wonders when his father will join the family in Virginia. Playing baseball means navigating relationships with the guys, and with Jordan, the only girl on the team—the player no one but Bilal wants to be friends with.“ [Klappentext, leicht gekürzt]
Baseball, Familie, Trauerarbeit: sehr amerikanisch – doch es wirkt nicht allzu seicht oder simpel.
„Quinnen was the star pitcher of her baseball team. After the death of her best friend and older sister, Haley, everything is different. The one glimmer of happiness comes from the Bandits, the local minor-league baseball team. For the first time, Quinnen and her family are hosting one of the players for the season.“ [Klappentext, gekürzt]
Mich irritiert die ‚Dschungelbuch‘-artige Hauptfigur, und mich stört, dass vor allem Autoren aus dem Westen Kinderbücher über andere Kulturkreise schreiben. Trotzdem: Ein solide recherchierter Tier- und Abenteuer-Roman?
„Abandoned in the jungle of the Nepalese Borderlands, two-year-old Nandu is found living under the protective watch of a pack of wild dogs. Fate delivers him to the King’s elephant stable, where he is raised by unlikely parents-wise, fierce and affectionate elephants. When the king’s government threatens to close the stable, Nandu, now twelve, searches for a way to save his family and community.“ [Klappentext, gekürzt]
Mich langweilen „Du hast Wünsche frei!“-Plots, bei denen alle Wünsche schief gehen. Doch auf den ersten Blick wirkt das hier süffig, einladend, gekonnt.
„Charlie feels like she’s always coming in last. From her Mom’s new job to her sister’s life at college, everything seems more important than her. While ice fishing, Charlie discovers a floppy fish offering to grant a wish.“ [Klappentext, gekürzt]
Schön, dass statt „Wie werde ich ein Junge?“ hier „Ich bin bereits als Junge akzeptiert. Wie halte ich diesen Status?“ das Grundproblem zu sein scheint:
„A transgender boy’s journey toward acceptance: Twelve-year-old Shane loves pitching for his baseball team, working on his graphic novel, and hanging out with his best friend, Josh. But Shane is keeping something private, something that might make a difference to his teammates, to Josh, and to his new crush, Madeline. And when a classmate threatens to reveal his secret, Shane’s whole world comes crashing down.“ [Klappentext, gekürzt]
Simple, aber sehr stilsicher gezeichnete Graphic Novel bei der ich (wie so oft) die Familienprobleme und die Alltagswelt interessanter finde als die Fantasy-Räume, die sich plötzlich darin öffnen.
„Summer is when his single mom takes a second job and leaves Jack at home to watch his autistic kid sister, Maddy. It’s a lot of responsibility, and it’s boring, too, because Maddy doesn’t talk. Ever. But then, one day at the flea market, Maddy does talk—to tell Jack to trade their mom’s car for a box of mysterious seeds. What starts as a normal little garden out back behind the house quickly grows up into a wild, magical jungle with tiny onion babies running amok, huge, pink pumpkins that bite, and, on one moonlit night that changes everything…a dragon“ [Klappentext, gekürzt]
Die platte Comedy und die vielen Gender-Klischees auf deutschen Poetry Slams langweilen mich. US-Slams kenne ich nicht. Trotzdem würde ich lieber mehr über Zwangsstörungen lesen – als über die… befreiende Kraft von Poesie-Wettbewerben:
„Molly’s mother left the family to take a faraway job with the promise to return in one year. Molly knows that promises are often broken, so she hatches a plan to bring her mother home: Win the Lakeville Middle School Slam Poetry Contest. The winner is honored at a fancy banquet with table cloths. Molly’s sure her mother would never miss that. Right…?But as time goes on, writing and reciting slam poetry become harder. Actually, everything becomes harder as new habits appear, and counting, cleaning, and organizing are not enough to keep Molly’s world from spinning out of control.“ [Klappentext, minimal gekürzt]
“A boy whose life revolves around hiding his obsessive compulsive disorder. Daniel spends football practice perfectly arranging water cups—and hoping no one notices, especially his best friend Max, and Raya, the prettiest girl in school. His life gets weirder when another girl at school, who is unkindly nicknamed Psycho Sara, notices him for the first time.” [Klappentext, gekürzt]
Ein Mädchen, das nach New York zieht… und die Provinz vermisst: Ich mag, dass hier verhältnismäßig kleine Alltagssorgen sehr ernst genommen werden.
“Eleven-year-old Thyme’s little brother is accepted into a new cancer drug trial and the Owens family has to move to New York, thousands of miles away from everything she knows and loves. Thyme loves her brother—she’d give anything for him to be well—but she still wants to go home. She finds herself even more mixed up when her heart feels the tug of new friends, a first crush, and even a crotchety neighbor and his sweet whistling bird.” [Klappentext, gekürzt]
Magischer Realismus, Familiengeheimnisse, ein schrulliger Opa: die Zutaten sind mir zu altbacken. Aber: sehr gut geschrieben!
“Twelve-year-old Carolina is in New Mexico, helping her parents move the grandfather she’s never met into a home for people with dementia. At first, Carol avoids prickly Grandpa Serge… A novel of family and discovering the wonder of the world.” [Klappentext, gekürzt]
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fünf ältere Titel (2013 bis 2015), jetzt erst entdeckt:
„The first time Philip Digby shows up on Zoe’s doorstep, he’s rude and treats her like a book he’s already read and knows the ending to. But before she knows it, Zoe’s allowed Digby—annoying, brilliant, and somehow…attractive? Digby—to drag her into a series of dangerous and only vaguely legal schemes all related to the kidnapping of a local teenage girl. Is Digby a hero? Or is his manic quest an attempt to repair his own broken family and exorcize his obsessive-compulsive tendencies?“ [Klappentext, gekürzt]
Märchen-Klischees und ein Klischee-Cover – doch die Geschichte wirkt behutsam, stimmungsvoll, gekonnt erzählt.
„When Alice’s brother gets a chance for a heart transplant, Alice is bundled off to her estranged grandmother’s house. There’s nothing good about staying with Nell, except for the beautiful Darkling Wood at the end of her garden – but Nell wants to have it cut down. Alice feels at home there, at peace, and even finds a friend, Flo. But Flo doesn’t seem to go to the local school and no one in town has heard of a girl with that name. When Flo shows Alice the surprising secrets of Darkling Wood, Alice starts to wonder, what is real? And can she find out in time to save the wood from destruction?“ [Klappentext, minimal gekürzt]
Absurder Plot, schwarzer Humor… ich bin nur skeptisch, inwieweit das „Berlin“ im Buch authentisch/stimmig wirken kann.
„Misunderstood and overmedicated, twelve-year-old Lilith finds the prospect of a grand family reunion dull… until she discovers that the rose garden surrounding her grandfather’s Berlin mansion is completely carnivorous. Armed with Panther, her talking pet whippet, and the help of the mute boy next door, Lilith must unravel the secrets behind the mysterious estate, all while her family remains gloriously unaware that they are about to be devoured.“ [Klappentext, gekürzt]
Toller Tonfall, interessante Familie – nur: Slam Poetry? Ich bin skeptisch.
„Angie lives in an old car with her brother and mother. Homeless after their father left, the family tries to live as normally as possible between avoiding the police and finding new places to park each night. When Angie discovers slam poetry, she finds a new way to express herself and find meaning and comfort in a confusing world.“ [Klappentext, gekürzt]
Neuseeländischer Roman über Selbstmord/Depressionen. Ich weiß nicht genau, warum das Mädchen Van Gogh UND einen Professor als wichtigste Bezugsfiguren hat, und fürchte mich vor Mansplaining und romantisiertem Künstler-Bla.
„17 year old Tara shares the care of her paralysed father with her domineering, difficult mother. She’s still grieving the loss of her older sister Van, who died five years before. And she is enamoured with Vincent Van Gogh and finds many parallels between the tragic story of his life and her own. Then, she meets Professor Max Stockhamer, a Jewish refugee and philosopher and his grandson Johannes.“ [Klappentext, gekürzt]
Buchtipps sind… sinnlos. In meinem privaten (Zuhause-)Freundeskreis jedenfalls:
Es fällt mir leichter (und wirkt weniger… übergriffig / aufdringlich), auf Amazon Marketplace, Medimops oder Rebuy zwei, drei gebrauchte Ausgaben zu kaufen und zu verschenken – statt Freunden mit Kaufempfehlungen in den Ohren zu liegen.
Sobald ich denke “Er/sie hätte Spaß, mit diesem Buch”, kaufe ich eine billige Ausgabe.
Hier: Die Bücher und DVDs, die ich 2015 und 2016 verschenkte. 95 Prozent davon: selbst schon gelesen, und sehr gemocht.
…und ich sah meinen US-Lieblingsautor, Stewart O’Nan, im Sommer in Freiburg und moderierte eine seiner Lesungen. O’Nans Roman „West of Sunset“ spielt unter Drehbuchautoren im Hollywood der 40er Jahre, und ich musste an eine Graphic Novel denken, das im selben Milieu spielt und mich sehr begeisterte – also schenkte ich es ihm:
Ed Brubaker: „The Fade Out“, Band 1 (Graphic Novel, Link)
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mein Partner und ich wohnen zusammen – und ich kaufe/schenke ihm fast nie Bücher: Er liest meine Ausgaben mit, statt sich ein eigenes, zweites Exemplar zu holen. Bücher, die ich ihm empfahl, und die er las, seit Ende 2014:
Jedes Jahr lese ich die ersten Seiten von ca. 3000 Romanen: Klassiker und Geheimtipps, Literatur und Unterhaltung… und möglichst viele Neuerscheinungen, auf Deutsch und Englisch.
Seit fast 15 Jahren lese ich Bücher von Smith an – und lege sie zur Seite, weil sie mir zu bürgerlich-britisch-gesetzt scheinen. Hier fesseln/überzeugen mich die ersten Seiten: ambitionierte Frauen, und eine komplizierte Freundschaft.
„Two brown girls dream of being dancers – but only one, Tracey, has talent. The other has ideas: about rhythm and time, about black bodies and black music. A close but complicated childhood friendship that ends abruptly in their early twenties. Moving from North-West London to West Africa, Swing Time is an exuberant dance to the music of time.“ [Klappentext, gekürzt.]
Klingt nach schlimmem Kitsch: ein Engel? Aber: hoher Ton, magischer Realismus, vielleicht ein klug existenzieller Mainstream-Schmöker.
„Growing up on Long Island, an extraordinary tragedy changes Shelby Richmond’s fate. Her best friend’s future is destroyed in an accident, while Shelby walks away with the burden of guilt and has to fight her way back to her own future. In New York City she finds a circle of lost and found souls—including an angel who’s been watching over her.“ [Klappentext, gekürzt.]
Band 1 der Trilogie war mir zu trocken. Doch ich mag die Idee, über die Zeit nach einer Trennung zu schreiben – nicht vor allem über das Zerbrechen der Ehe zuvor.
„The stunning second novel of a trilogy that began with Outline (2015): In the wake of family collapse, a writer and her two young sons move to London. A penetrating and moving reflection on childhood and fate, the value of suffering and the moral problems of personal responsibility. A precise, short, and yet epic cycle of novels.“ [Klappentext, gekürzt.]
Avantgarde-Autorin, in die ich seit „A Girl is a half-formed thing“ große Hoffnungen setze: Ich mag, wie simpel und bodenständig der Plot hier wirkt – erwarte aber viele Stil- und Perspektiv-Experimente.
„Upon her arrival in mid-1990s London, an 18-year-old Irish girl begins anew as a drama student. She struggles to fit in—she’s young and unexotic, a naive new girl in the big city. Then she meets an attractive older man. He’s an established actor, 20 years older, and an inevitable clamorous relationship ensues.“ [Klappentext, gekürzt.]
Klingt sehr dick auftragen: Bei 400 Seiten wäre ich skeptisch. Aber 224? Das könnte klappen:
„Angela Palm grew up in a house set on the banks of a river that had been straightened to make way for farmland. Every year, the Kankakee River in rural Indiana flooded and returned to its old course while the residents sandbagged their homes against the rising water. From her bedroom window, Palm watched the neighbor boy and loved him in secret. As an adult Palm finds herself drawn back. This means visiting the prison where the boy that she loved is serving a life sentence for a brutal murder. Mesmerizing, interconnected essays about what happens when a single event forces the path of her life off course.“ [Klappentext, gekürzt.]
Historienschmöker, vielleicht unrealistisch verschachtelt. Aber: Figuren, wie ich sie noch nicht kenne!
„A runaway slave in the 1840s south is on the run: Fifteen-year-old Naomi escapes the brutal confines of life on an Alabama plantation and must take refuge in a Georgia brothel run by a freewheeling, gun-toting Jewish madam named Cynthia. There, Naomi falls into a star-crossed love affair with a smooth-talking white man named Jeremy who frequents the brothel’s dice tables all too often. The product of Naomi and Jeremy’s union is Josey, whose white skin and blonde hair mark her as different from the other slave children on the plantation. Josey soon becomes caught in the tide of history when news of the Emancipation Proclamation reaches the declining estate. Grace is a sweeping, intergenerational saga featuring a group of outcast women during one of the most compelling eras in American history.“ [Klappentext, gekürzt.]
Dass die Figur ausgerechnet Bäckerin wird, scheint mir bieder. Aber: Gutes Setting, schöner Ton, und nicht zu lang/dick.
„After the tragic death of her husband and son on a remote island in Washington’s San Juan Islands, Eliza Waite joins the throng of miners, fortune hunters, business owners, con men, and prostitutes traveling north to the Klondike in the spring of 1898. In Alaska, Eliza opens a successful bakery on Skagway’s main street and befriends a madam at a neighboring bordello. Occupying this space―a place somewhere between traditional and nontraditional feminine roles―Eliza awakens emotionally and sexually. Part diary, part recipe file, and part Gold Rush history, Eliza Waite transports readers to the sights, sounds, smells, and tastes of a raucous and fleeting era of American history.“ [Klappentext, gekürzt.]
Graphic Novel in sympathisch schlichtem, aber vielleicht zu naiven Stil: Jedes Mal, wenn ich in die persönlichen Erlebnisberichte Knisleys blättere, habe ich Lust, alles sofort zu lesen. Aber: Vielen Leuten bleibt es zu flach, süßlich, halbfertig.
„A funny and whip-smart new book about the institution of marriage in America told through the lens of her recent engagement and wedding…. The graphic novel tackles the all-too-common wedding issues that go along with being a modern woman: feminism, expectations, getting knocked over the head with gender stereotypes, family drama, and overall wedding chaos and confusion.“ [Klappentext, ungekürzt.]
Spaß-Feminismus-Plauder-Memoir, vielleicht zu angepasst und erwartbar. Erstmal aber: eine angenehme, gewitzte Stimme.
„As both a tomboy and a late bloomer, comedian Jessi Klein grew up feeling more like an outsider than a participant in the rites of modern femininity. A relentlessly funny yet poignant take on a variety of topics she has experienced along her strange journey to womanhood and beyond, including her „transformation from Pippi Longstocking-esque tomboy to are-you-a-lesbian-or-what tom man,“ and attempting to find watchable porn.“ [Klappentext, gekürzt.]
Hier habe ich Angst vor Ideologien: Army-Begeisterung, „G.I. Jane“-Feminismus, übertriebene Militärbegeisterung. Trotz schlimmem Cover und schlimmem Titel aber klingt diese Lebensgeschichte kantig/interessant, und stilistisch bin ich positiv überrascht.
„At ten, Theresa Lawson was a caregiver to her dying mother. As a young adult, a beauty pageant contestant and model. And as a grown woman, a high-achieving Lieutenant in the Marines, in charge of an entire platoon while deployed in Iraq. Meanwhile, she was battling bulimia nervosa, an internal struggle which ultimately cut short her military service when she was voluntarily evacuated from combat. Theresa’s journey to wellness required the bravery to ask for help, to take care of herself first, and abandon the idea of “perfect.”“ [Klappentext, gekürzt.]
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Bonus: drei Titel von 2015, die mir erst jetzt auffielen:
Essays einer Baby-Boomerin, Second-Wave-Feminism. Ich mag ihren Ton – aber habe Angst, die meisten Gedanken schon zehnmal gehört zu haben.
„A richly illustrated compilation of true stories and nonfiction pieces that, taken together, form a jigsaw autobiography: From the Chicago neighborhoods where she grew up and set her groundbreaking The House on Mango Street to her abode in Mexico, the places Sandra Cisneros has lived have provided inspiration for her now-classic works of fiction and poetry. Ranging from the private (her parents‘ loving and tempestuous marriage) to the political (a rallying cry for one woman’s liberty in Sarajevo) to the literary (a tribute to Marguerite Duras), and written with her trademark sensitivity and honesty, these poignant, unforgettable pieces give us not only her most transformative memories but also a revelation of her artistic and intellectual influences.“ [Klappentext, gekürzt.]
Kanadische Coming-of-Age-Romane reden manchmal viel zu lange nur über Natur, Schnee und Wildnis-/Jäger-/Farm-Melancholie. Eine Freundin fand das Buch mittelmäßig. Ich bleibe vorsichtig optimistisch:
„Als das Auto der Familie Archer in Kanada durchs Eis eines gefrorenen Sees bricht, kann Robert einzig seine Tochter retten. Rebecca kümmert sich allein um den Haushalt und die Farm, der Vater kapselt sich ab. Trost findet sie in der Freundschaft mit Chuck, einem empfindsamen, von seinem Vater tyrannisierten Jungen, und mit Lissie, die von einer perfektionistischen Adoptivmutter gegängelt wird.“ [Klappentext, gekürzt.]
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3: Yeonmi Park, „In Order to Live“ (dt: „Mut zur Freiheit. Meine Flucht aus Nordkorea“, 2015)
Ich mochte Barbara Demicks Nordkorea-Portraits „Nothing to envy“. More of the same?
„Yeonmi Park träumte nicht von der Freiheit, als sie im Alter von erst 13 Jahren aus Nordkorea floh. Sie wusste nicht einmal, was Freiheit ist. Alles, was sie wusste war, dass sie und ihre Familie sterben würde, wenn sie bliebe—vor Hunger, an einer Krankheit oder gar durch Exekution. Sie erzählt von ihrer grauenhaften Odyssee durch die chinesische Unterwelt, bevölkert von Schmugglern und Menschenhändlern, bis nach Südkorea; und sie erzählt von ihrem erstaunlichen Weg zur führenden Menschenrechts-Aktivistin mit noch nicht einmal 21 Jahren.“ [Klappentext, minimal gekürzt.]
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…und drei überzeugende, aktuelle Titel von Männern (alle 2016):
ich bin skeptisch beim aktuellen schwulen New-York-Epos „A Little Life“, ich bin skeptisch beim aktuellen schwulen New-York-Epos „City on Fire“… aber hier, beim dritten Buch dieses (Mini-)Trends, war ich nach zwei Seiten begeistert: genauer Blick, obskure Details, überraschende Figuren.
ein schlechtes Zeiten: die sympathische, doch nicht besonders gut geschriebene Reportage von Tim Murphy über seine eigene HIV-Infektion bei Buzzfeed.
„A diverse set of characters whose fates intertwine in an iconic building in Manhattan’s East Village, the Christodora: Milly and Jared, a privileged young couple with artistic ambitions. Their neighbor, Hector, a Puerto Rican gay man who was once a celebrated AIDS activist but is now a lonely addict, and Milly and Jared’s adopted son Mateo. As the junkies and protestors of the 1980s give way to the hipsters of the 2000s and they, in turn, to the wealthy residents of the crowded, glass-towered city of the 2020s, enormous changes rock their personal lives. Christodora recounts the heartbreak wrought by AIDS, illustrates the allure and destructive power of hard drugs, and brings to life the ever-changing city itself“ [Klappentext, gekürzt.]
Whitehead vermischt oft Gesellschaftskritik mit satirischen Fantasy-Elementen und absurdem World-Building. Manchmal wird mir das zu läppisch oder gewollt – doch er gewann hierfür den National Book Award, und die Leseprobe überzeugte mich:
„Cora is a slave on a cotton plantation in Georgia. When Caesar, a recent arrival from Virginia, tells her about the Underground Railroad, they decide to take a terrifying risk and escape. In Whitehead’s ingenious conception, the Underground Railroad is no mere metaphor – engineers and conductors operate a secret network of tracks and tunnels beneath the Southern soil. Ridgeway, the relentless slave catcher, is close on their heels. The Underground Railroad is at once a kinetic adventure tale of one woman’s ferocious will to escape the horrors of bondage and a shattering, powerful meditation on the history we all share.“ [Klappentext, gekürzt.]
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3: Richard Russo: „Everybody’s Fool“ (dt. „Diese gottverdammten Träume“, 2016)
Bisher war mir Russos Kleinstadt- und Altmänner-Romantik immer zu süßlich. Im besten Fall aber kann mich das hier darüber hinweg trösten, dass John Updike keine neuen „Rabbit“-Romane mehr schreiben kann:
„Richard Russo returns to North Bath, in upstate New York, and the characters he created in Nobody’s Fool. The irresistible Sully, who in the intervening years has come by some unexpected good fortune, is staring down a VA cardiologist’s estimate that he has only a year or two left, and it’s hard work trying to keep this news from the most important people in his life: Ruth, the married woman he carried on with for years – and Sully’s son and grandson, for whom he was mostly an absentee figure (and now a regretful one).“ [Klappentext, gekürzt.]
19. November: Trump-Anhänger zeigen den Hitlergruß und rufen „Heil“ oder „Hail“.
22. November: Geschichts-Student sagt auf Twitter: „Als jemand, der Geschichte studiert, erinnere ich daran: the Nazis were bad.“
zwei Stunden später: jemand antwortet: „Aber dann kann man ja auch gleich sagen: Alle Leute aus Nordkorea sind „bad“. Nein. Einer von vielleicht 300 Nazis war ‚bad‘. Die restlichen machten eben ihren Job. Was für eine undifferenzierte und geschichtsvergessene Aussage!“
Wir bleiben meist sachlich, respektvoll, konstruktiv, offen, und bei jedem Posting von mir gibt es Zwischenfragen, Einwände, Links und neue Ideen, aus denen ich lerne und an denen ich mich, im besten Sinn, reibe. Gespräche auf Facebook – auch und besonders: über Politik – bringen mir fast immer viel. Danke dafür!
Doch ich merke auch:
Es ist viel zu einfach für eine einzelne Person, für EINEN Troll oder Provokateur, uns alle stundenlang in Diskussionsthreads an den Rand unserer Kräfte zu bringen…
…mit ein paar Zwischenfragen, mit „Oha: Was soll das heißen?“-Vergleichen oder mit Aussagen wie: „Ihr alle seht das so? Tja. Überzeugt mich nicht. Ich sehe das anders. Deal with it.“
„Die Menschen von heute sind quasi vor dem Fernseher geboren worden, haben jeden Abend 15 Minuten aus der Welt vorgespielt bekommen und dachten, dass sei die Wirklichkeit. Jetzt plötzlich erkennen sie, dass sie nur Schattenspiele an der Wand beobachtet haben und dass die Welt da draußen sehr viel größer und komplexer ist als das, was sie aus Zeitung und Fernsehen kannten. Und wie bei Platon ist das Publikum erstmal geschockt und orientierungslos. Das grelle Licht außerhalb der Höhle blendet und tut in den Augen weh, die Menschen suchen nach Halt und Orientierung. Genau in dieser Phase kommen dann Vereinfacher wie Donald Trump oder Frauke Petry und bieten scheinbar einfache Antworten. Ich glaube gar nicht, dass jeder ihrer Anhänger ihnen 100-prozentig glaubt. Das Problem ist eher: Die Menschen wollen nicht zurück in die Höhle und zu den alten Schattenspielern, denn von denen fühlen sie sich ein Stück weit betrogen, weil sie ihnen suggeriert haben, dass das, was sie sendeten, wahr und die ganze Welt sei. Jetzt hat man 1000 andere Quellen und Möglichkeiten, auf die bekannten Wahrheiten zu schauen und plötzlich merkt man, dass diese nicht immer das ganze Bild gezeigt haben.
Man tut uns Journalisten und Medien Unrecht, wenn man daraus schlussfolgert, dass da absichtlich gelogen wird. Aber viele Leute empfinden das so. Und so stehen wir, die Medien, teilweise zu Recht in der Diskussion, auch wenn wir nicht alleine Schuld sind an dieser Situation. Jetzt geht es darum, das verlorene Vertrauen bei jedem einzelnen wieder zurück zu gewinnen.“ [Quelle: hier.]
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Selbst eine Aussage wie „The Nazis were bad“ wird hinterfragt.
Das finde ich erstmal gut.
Doch ich merke: Die Aussage wird meist von genau jenen Leuten hinterfragt, die damit sagen wollen „Tja: Ihr Journalist*innen seid schlimme Vereinfacher, und ihr denkt in Schubladen!“
Für mich bedeutet das, dass ich als Journalist – auch auf Facebook, in meinem privaten Profil – einen Satz wie ‚The Nazis were bad‘ gar nicht mehr schreiben würde.
Weil ich wüsste: Es gibt zehn, fünfzehn Facebook-Freunde von mir, die das kommentieren würden mit „Was für eine pauschale Aussage. Stefan? So kann man das nicht sagen.“
Und weil solcher Widerspruch so schnell kommt, im Moment, bei egal welcher Aussage, verstricke ich mich zu oft in Relativierungen:
„Ich persönlich finde, nach allem, was ich weiß, dass die Nazis ja größtenteils – sicherlich nicht als Einzelpersonen, für sich, doch auf jeden Fall aber als politische Kraft – eher schlecht als gut waren. Aber: Ich will damit jetzt nicht z.B. Stalin verharmlosen, oder irgendwen verteufeln. Und: ICH habe nicht Geschichte studiert. Ich bin sicher, da gibt es Grautöne.“
Uff.
Ich fürchte, jene Handvoll „kritischer“ Kommentarschreiber, die in solchen Momenten sofort widersprechen, schimpfen, mich zu mehr „Sachlichkeit“ anhalten, werden das IMMER tun. Egal, wie differenziert ich formuliere, und egal, wie sehr ich mich vor Schubladen hüte. Sind das „Freunde“? Oder sind das Trolle?
Ich glaube nicht, dass sie Einspruch erheben, weil sie sich wirklich um Differenzierung sorgen, oder um die journalistische Qualität meiner Texte.
Mich haben Philosophie, Rhetorik und Logik-Spiele nie besonders interessiert. Ich arbeite mich selten daran ab, ob und wie ich einem konkreten Satz widersprechen könnte/müsste. Falls jemand postet „Heute ist ein schöner Tag“, kommentiere ich nicht: „Für dich. Das kann man nicht allgemein sagen“ oder „Wie bitte definierst du ’schön‘? Die Aussage bleibt wertlos!“ oder „Ist der ‚Tag‘ schön oder nur dein persönlicher Eindruck von diesem Tag? Du verallgemeinerst.“
Aber: Leute, die Spaß an solchen Kämpfen haben, kommentieren eben besonders gern – und sie können mir mit fünf, sechs Fragen oder Rhetorik-Ermahnungen irrsinnig viel Zeit und Energie nehmen.
Zu oft in letzter Zeit merke ich: Das sind die Leser*innen, die ich zuerst im Kopf habe. DAS sind die Menschen, für die ich formuliere und an die ich zuerst denke, bei jedem Wort, das ich abwäge.
Ich weiß nicht, ob das meine Texte besser macht.
Oder, ob ich damit Leuten mehr Einfluss, Raum, Bühne gebe, als sie verdienen.
Ist die Lektion für mich „Sei noch differenzierter: Sichere dich nach allen Seiten ab, rhetorisch, damit man dich nicht falsch versteht!“…?
Oder „Wer dich falsch verstehen will, wird IMMER etwas finden“…?
Zu oft reicht ein einzelner Provokateur oder Rhetorik-Trickser, um mich und eine Handvoll Mit-Kommentator*innen für Stunden zu beschäftigen. Ist das den Aufwand wert? Muss ich auf viele Einwände eingehen – als guter Journalist?
Mich macht traurig, dass selbst ein Satz wie „Die Nazis waren schlimm“ so viel Gegenwind, so viel Argwohn weckt. Ich habe Angst, zu hören „Du bist undifferenziert!“. Doch ich frage mich seit ein paar Wochen täglich: „Wünschen sich die Leute, die mir das oft vorwerfen, wirklich Differenzierung? Oder hoffen sie nur, dass ich mich verzettele? Und zugebe: Ich weiß eigentlich gar nichts. Nicht einmal, ob die Nazis ’schlimm‘ waren.“
Ich bin Literatur- und Comickritiker (Texte hier), doch schreibe gerne auch über TV-Serien, große Franchises, Kino; und war heute Nachmittag für Deutschlandradio Kultur in der Pressevorstellung / Vorpremiere zu „Fantastic Beasts and where to find them“.
Die Handlung: „Harry Potter“ spielt in den 90er Jahren, in Großbritannien. Zauberschüler lernen dort aus dem Sachbuch „Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind“, erschienen 1927, verfasst vom magischen Zoologen Newt Scamander. Im Kinofilm (dem ersten einer fünfteiligen Reihe; Drehbuch: JK Rowling) reist Scamander 1926 nach New York und verliert einen Koffer voller Tierwesen. Viele brechen aus und stiften Unordnung in der Stadt – so groß, dass auch Nichtmagier bald begreifen könnten: Es gibt Hexen und Zauberer, mitten unter ihnen.
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01_Sehen oder nicht? Sehen!
02_In einem Satz: Schwungvoll, herzlich, selbstbewusst – und überraschend zugänglich: sorgfältige, detailverliebte Mainstream-Unterhaltung, in der fast alles (Plot, Darsteller, Ausstattung, Emotionen/Figurendynamik) etwas besser ist als nötig/erwartet.
03_Das größte Problem: „Harry Potter“ konnte sieben Bände lang eine überraschende Welt und ihre Spielregeln enthüllen. „Fantastic Beasts“ spielt 1926 – und bleibt für „Potter“-Fans recht geheimnislos und oberflächlich: Wir wissen, wen die Hauptfigur heiratet. Wir wissen (grob), welche Konflikte die Welt der Zauberer bis 1945 bestimmen. Anders als bei Prequels wie z.B. Episode I bis III von „Star Wars“ fehlt „Beasts“ eine „Hier entrollt sich eine Tragödie“- oder „Wie konnte es so weit kommen?“-Stimmung.
04_Vorher „Potter“ lesen, oder alle 8 „Potter“-Filme sehen? Ich glaube, wer „Harry Potter“ gar nicht kennt, hätte den größten Spaß – weil er die geheime Welt der Magier hier im Film durch die Augen von Muggel / No-Maj / Nichtmagier Jacob Kowalski kennen lernt. „Beasts“ ist überraschend zugänglich, verständlich, einsteigerfreundlich.
05_Ein Film für Kinder? Ab ca. 10, ja. Eine Grundstimmung wie im (viel schlechteren) Fantasy-Abenteuerfilm „Jumanji“ (1995: Tiere, Monster, Sense of Wonder), Verfolgungsjagden, Stadtpolitik, Milieus wie in der Trickserie „Avatar: Legend of Korra“ (2012: magische Kämpfe im Großstadt-Dekor der 20er Jahre); viel Urban Fantasy: „Dr. Who“/“Torchwood“ trifft „Dresden Files“ trifft „Men in Black“ trifft Pixar-Fantasy wie „The Incredibles“. Insgesamt etwa so düster/“erwachsen“ wie „Harry Potter und der Feuerkelch“.
06_Die Altersfreigabe ab sechs Jahren… überrascht mich: Der Film gibt sich keine Mühe, kindgerecht oder kinderfreundlich zu wirken, alle Hauptfiguren sind erwachsen, es gibt Todesfälle, Horror-Elemente, viel weniger Lieblichkeit als z.B. in den ersten „Potter“-Büchern und Filmen. Nichts wirkt kindlich. Nichts wirkt kindisch. Aber deshalb wirkt auch nichts besonders einladend, auf Grundschulkinder.
07_Keine Recherche nötig: Etwa fünf Tierwesen spielen größere Rollen im Film, insgesamt kommen ca. 15 Spezies vor – doch alles, was ich wissen muss, erfahre ich bequem im Verlauf des Films. Deshalb: nicht nötig, das „Tierwesen“-(Schul-)Buch von 2001 zu lesen. Auch Rowlings neue Bonustexte auf „Pottermore“ haben meine Erwartungen v.a. sinnlos überhöht. Und: Zu „Harry Potter and the Cursed Child“ (und z.B. dem Tierwesen, das dort eine wichtige Rolle spielt) hat der Film *gar keine* expliziten Bezüge.
08_Ich selbst genoss die Potter-Romane, besonders Band 3 und 4 – und mag besonders, wie politisch, düster und komplex die Reihe wird (langer Text von mir zu Band 7: Link). Außerdem liebe ich die schlagfertigen Hauptfiguren, ihre Freundschaften und Streits. Von den Verfilmungen sah ich nur Teil 1 und 2: zu kindisch, zu drollig – doch ich weiß, dass die späteren Filme reifer werden. 2016 las ich „Harry Potter and the Cursed Child“ (und fand es holprig, lieblos, müde), 2012 war ich genervt und enttäuscht von Rowlings „Ein plötzlicher Todesfall“ (Kritik von mir bei ZEIT Online). Ich stehe der „Potter“-Welt wohlwollend gegenüber.
09_4 von 5 Sternen. Empfehlung. Aber, wie bei „Star Wars: Das Erwachen der Macht“: Die Erzählwelt und ihre Abgründe bleiben harmloser, unpolitischer, seichter, als sie sein müssten. Ein Film, der allen gefallen wird – weil er kaum Risiken eingeht.
10_Warum keine 5 Sterne? Zwei der vier Held*innen und alle Antagonisten und Nebenrollen bleiben mir zu flach, im Finale wird ein großes Problem viel zu vorschnell und bequem gelöst, und während Harry, Ron, Hermine uns an Traumata, Konflikte unserer Schulzeit erinnern, bleiben mir die Erwachsenen hier im Film recht fremd. Wundervoll stimmige, einladende, sympathische Unterhaltung – doch weder besondere Film- noch Erzählkunst.
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Gedanken, Probleme, Fragen.
Ab hier:Spoiler / Details aus der Handlung!
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11_Hauptdarsteller Eddie Redmayne („The Danish Girl“; Stephen Hawking in „Die Entdeckung der Unendlichkeit“) erinnert mich (im Guten wie im Schlechten) an Hugh Grant: ein überforderter, stotternder, charmant-naiver Brite, idealistisch – doch oft zögerlicher, tölpelhafter, als mir lieb war. Keine besonders originelle Figur; auch deutlich flacher/harmloser als Harry.
12_Katherine Waterston („Steve Jobs“; Nebenrolle in „Boardwalk Empire“) als in Ungnade gefallene magische New Yorker Beamtin/Ermittlerin wirkte auf mich an vielen Stellen zu passiv, arglos, schwer von Begriff, vertrauensselig. Alle vier Held*innen waren ein Tick dümmlicher als nötig. Gute Schauspieler in sympathischen Rollen… doch ich wünschte, sie wären smarter, zupackender.
14_Depp spielt den Zauber-Nazi, Populisten, Hitler-als-Magier-BösewichtGellert Grindelwald – der Jugendfreund und -schwarm von Albus Dumbledore. Er ist im Film nur für Sekunden zu sehen: ein feister, bleicher, germanischer Mann mit weißblondem Scheitel. Dumbledore wird erwähnt. Er war schon in den 10er-Jahren Lehrer in Hogwarts und bemühte sich vergeblich, zu verhindern, dass Newt Scamander wegen seiner gefährlichen Tiere der Schule verwiesen wird, kurz vor dem Abschluss.
15_Alle (sechs? acht?) Bösewichte, Antagonisten im Film werden viel zu schnell verbraucht, besiegt oder töten sich gegenseitig. Und alle bleiben mir zu oberflächlich: Mary Lou Barebone als Hexenjägerin/Waisenhausleiterin wirkt wie das (lieblose) Klischee einer völlig freudlosen fundamentalistischen Christin. Kein Charisma, keine guten Argumente, eine flache, trostlose Figur. Ihre Adoptivtochter – weißblondes Haar, Zöpfe, creepy Blick – wirkt auf mich wie aus einer Horrofilm-Parodie, bei allen Szenen im Waisenhaus dachte ich an (bessere!) Momente aus z.B. „Bates Motel“. [Aber: Mir waren auch schon die Dursleys, Harrys Muggel-Verwandte, viel zu eindimensional-monströs-engstirnig gezeichnet.]
16_Seraphina Picquery, die schwarze Präsidentin der MACUSA-Behörde, ist die einzige wichtige Figur of Color – und erinnert mich in ihrer Haltung und Kälte/Besonnenheit an Realpolitikerinnen wie Angela Merkel, Hillary Clinton. Ich mag, wenn wichtige Behörden, Staaten nicht von besonders gütigen, harmlosen, väterlichen Figuren kontrolliert werden… sondern eine Erzählwelt auch mitdenkt/zeigt, wie schnell man sich die Finger schmutzig macht, welche grausamen Entscheidungen man treffen muss. Bei Seraphina glückt das nicht: Sie wirkt überfordert und gibt alle Befehle – selbst Todesurteile – aus einer wenig informierten „Uff. Na: Wenn das so ist…? Tja. Ich befehle jetzt. Muss ja“-Haltung heraus.
17_Wurde der Subplot um Zeitungsmagnat Henry Shaw und seine beiden Söhne gekürzt? Alle drei Männer sind wenig originell und erinnern mich an Polit-Bedrohungen wie Senator Kelly aus den „X-Men“ (…aber: ich mochte sehr, wie aggressiv und bedrohlich Langdon Shaw plötzlich die Baseballkeule schwang, im Büro). Richtig genutzt wurden diese Leute nicht: Ich muss auch an die vielen flachen konservativen Nebenfiguten in Rowlings „Ein plötzlicher Todesfall“ denken. Mehr Tiefgang für Reaktionäre und das Establishment, bitte!
18_Colin Farrell als Auror Percival Graves machte mir Spaß (und ich ärgere mich, dass die Figur sich am Ende… entlarvt/verwandelt und Farrell in Fortsetzungen wohl nicht mehr auftauchen kann); doch Ezra Miller als Credence Barebone ging mir auf die Nerven – auf eine ähnliche Art wie Kylo Ren in „Star Wars 7“: gemeingefährliche Emo-Jungs, weiße, schlacksige, enttäuschte Jammerlappen, das unerschöpfliche Wut- und Selbsthass-Potenzial von blassen Bubis, die dem Millennial- und Generation-Y-Klischee entsprechen. Ich mag Miller. Doch fand diese Rolle und ihre Entwicklung… schockierend flach. Und ich frage mich, ob sich Farrell und Miller wirklich so oft hätten anfassen müssen, in dunklen Gassen, vor Erregung zitternd. #schwulersubtext #schwulerselbsthass
19_Ich weiß nicht, was „Fantastic Beasts“ über (Anti-)Rassismus, fragile Männlichkeit, Gefolgschaften, Autorität, Populismus, Selbsthass und Angst vor dem anderen erzählen will: die Botschaft wirkt zugleich holzhammrig und neblig/unsortiert. Doch das dachte ich schon bei den Todessern in „Harry Potter“ und, schlimmer, bei der Psychologie der neuen bösen Figur in „Harry Potter and the Cursed Child“: Man merkt jedes Mal, dass sich Rowling gegen Faschismus und Ungerechtigkeit positionieren will. Doch ich finde nicht, dass ihr dabei besonders originelle, intelligente, erschütternde Analogien gelingen. Gut gemeint. Aber: Was will sie sagen?
20_Ich liebe Jacob Kowalski. Ein gutmütiger Sidekick bleibt in vielen Filmen nur Nervensäge, Klischee. Auch Ron Weasley hat mich nie begeistert oder gerührt. Doch Jacob-Darsteller Dan Fogler ist witzig, ohne, lächerlich zu wirken. Tolpatschig, ohne, mich mit Slapstick zu nerven (…die Graphorn-Verfolgungsjagd durch den Central Park dauerte mir zu lange). Tatsächlich ist die Figur das Herz des Films, und ich freute mich über jeden Blick, jeden Satz, jede Reaktion. [Es hilft, dass ich nach wenigen Szenen an meinen Partner denken musste, Freund M.]
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21_Vor „Mad Men“ hätte ich Queenie Goldstein, die zweitwichtigste Frau im Film, gemocht: eine Assistentin, die im Patriarchat voran kommt, indem sie sich in allen entscheidenden Momenten dumm stellt oder Vorurteile über Frauen demonstrativ erfüllt. Tatsächlich aber war Sekretärin Joan aus „Mad Men“ so viel klüger, raffinierter – und traf auf intelligentere Widerstände: mir blieb Queenie, die blonde Gedankenleserin mit der Quiekstimme, zu harmlos und nah am Klischee.
22_Tolles Set-Design, grandiose Ausstattung! Im August sah ich den Kinofilm „Genius“: Schriftsteller Thomas Wolfe und sein Lektor in New York, Ende der 20er bis 1938. Drei Wohnzimmer, ein Büro, zwei Straßenzüge. Für mehr New York reichte das Budget nicht. „Beasts“ dagegen macht die Ära tatsächlich lebendig. Ich mag, wie viele ärmliche und einfache Apartments und Straßen gezeigt werden, und, dass der Film keine kitschig-disneyhaft sauber-golden-überstilisierte Art-Deco-Welt behauptet. Und ich mag, dass er im November spielt: ein Film-New-York, das mir plausibel und attraktiv scheint, doch das ich – in diesem Licht, in dieser Stimmung – noch kaum sah, im Kino. [Man merkt/denkt an keiner Stelle: Das wurde in Liverpool gedreht.]
23_Aber: Obwohl Lokal- und Zeitkolorit stimmen und das Setting, 1926, dem Film fast allen Charakter verleiht, erfahre ich hier nichts Tieferes über die Epoche, den Zeitgeist, Konflikte und das Menschenbild. 1926 heißt im Film nur: Es gibt (zum Glück) keine Handys, es gibt (zum Glück) keine Kameras, und Muggel-Polizisten und -Reporter tauchen bequem spät auf. Das reicht nicht: Die britischen Zauberer/Hexen bei „Potter“ wirkten oft vorgestrig, verbohrt, aus der Zeit gefallen… „Beasts“ dagegen zeigt mir zu viele Zaubernde, die auch im Jahr 2016 genau so leben, arbeiten und entscheiden könnten. Wo sind die Vorurteile, die Beschränkungen, die Werte der 20er Jahre?
24_Newt Scamander ist ein Huffelpuff und trägt einen Schal in Huffelpuff-Farben – doch das wird nie tiefer beleuchtet. Ich hätte gern mehr darüber erfahren, wie das Hogwarts-Haus und die Figur zusammenpassen. (Nur die Tierliebe / Empathie und eine gewisse… Aufgeschlossenheit, Gutmütigkeit?)
25_Auch die Tierwesen bleiben flach, uninteressant. Ein paar Kritiken machen Pokémon-Vergleiche oder Pokémon-Go-Witze („Wo sind solche Wesen zu finden? Überall, seit der App!“), und natürlich gibt (Link) es oberflächliche Parallelen (Link). Insgesamt geht es leider kaum um Zoologie, das Nebeneinander von Mensch und Tier usw., Scamander steht zwar auf Seiten der Wesen und des Artenschutzes, doch ich erhoffte mir viel mehr. [Das Bowtruckle erinnerte mich an Baby Groot aus „Guardians of the Galaxy 2“; und der recht amerikanische Donnervogel Frank an den sehr amerikanischen Weißkopf-Seeadler.]
26_Ich hasste den Deus ex Machina im Finale: Die Zaubernden werden nicht enttarnt, der Donnervogel hilft mit magischem Regen, das Gedächtnis aller (!) Bewohner*innen Manhattans zu löschen. Von aktuellen TV-Serien bin ich gewohnt, dass ständig das Undenkbare geschieht – und nie mehr rückgängig zu machen ist. Deshalb enttäuscht mich, wie bequem und spannungslos alle Ordnung wiederhergestellt wird. Und: Alle sieben „Potter“-Romane hatten eine Krimi-Struktur und erinnerten an Plots von z.B. Agatha Christie. „Beasts“ habe ich nicht als Krimi gesehen/verstanden. Deshalb: ein gemütlicher, launiger Film. Doch kein sehr spannender – und wenig Dringlichkeit für Teil 2.
27_Insgesamt aber: gutes Timing; kurzweilige, gut balancierte Szenen. Der Kakerlaken-Teekannen-Wurf wirkte zu künstlich/videospielhaft, der Ausbruch aus dem Ministerium mit Queenies Hilfe schien mir zu leicht, und die Sätze, die Percival, Newt, Portentina im Finale an Credence richten, um ihn zu beruhigen, wirkten auf mich schwach und billig. Beide Szenen in Newts TARDIS-artigem Koffer-Biotop schienen mir sehr lang – doch wunderbar geglückt: idyllische Sets, kluge Gespräche. Schön für mich als „Batman“-Fan: der viele weiße Marmor in der Exekutions-Szene (auch, wenn Profi Tina viel zu lange brauchte, um vom Stuhl in Sicherheit zu springen.)
28_Ich las „Harry Potter and the Cursed Child“ (Theaterstück in zwei Teilen, erschienen 2016) am Wochenende. Keine Katastrophe – doch ich musste mich durch Teil 2 quälen, habe tausend Einwände, was die Zeitreise-Logik betrifft, und bin von allen Familiendynamiken unterwältigt: 2 Sterne. Rowlings Stück fühlte sich an wie eine lästige Hausaufgabe. Trotzdem sind für mich „Child“ und „Beasts“ zwei Seiten der selben Medaille: „Child“ ist eine Fortsetzung (spielt ca. 2018), „Beasts“ ein Prequel (1926). „Child“ ist nur für super-bewanderte Potter-Fans komplett verständlich, bei „Beasts“ muss man gar nichts wissen. „Child“ weckt die Befürchtung: „Ist Rowling auf dem absteigenden Ast?“, „Beasts“ zeigt: „Wow. Nein: Sie kann es (doch) noch!“. „Child“ ist ein komplexer, aber verwirrender und müder Ausläufer, „Beasts“ Frischzellenkur, Neustart, einladender, einsteigerfreundlicher, fast perfekter Mainstream: etwas seicht, aber eine stimmige Erweiterung der „Potter“-Welt.
29_Meine Hoffnungen für Filme 2, 3, 4 und 5: mehr andere Handlungsorte / nicht länger (nur) New York. (Die nordamerikanische Zauberschule Ilvermorny zu sehen, ist mir dabei nicht besonders wichtig: schöner Artikel dazu, auf Weltenbau-Wissen.de). Komplexere, weniger leicht zu besiegende Faschisten und Populisten (Ich hoffe, die Filmreihe zeigt den zweiten Weltkrieg bis einschließlich 1945, und die Lestrange-Familie wird/bleibt wichtig: mehr über Leta Lestrange u.a. hier). Statt bloßen „tierischen“ Wesen wünsche ich mir mehr über das Mit- und Gegeneinander zu Kulturen wie den Zentauren, Trollen, Merpeople. Ich hoffe, Queenie hat in den Fortsetzungen eine Funktion/Existenzberechtigung. Als Deutscher bin ich gespannt, wie viel wir von (Nazi-)Deutschland sehen und, ob der Magier-Diplomat mit dem deutschen Akzent noch einmal auftaucht. Und – das war bei schon bei Harry so: Noch bin ich nicht sicher, ob wir Newt als Person reizend, bezaubernd, wunderbar finden sollen… oder ganz schön schwierig. Ich selbst wäre nicht gern von den Entscheidungen eines Menschen wie Newt abhängig – und bin gespannt, ob diese Kantigkeit und seine Brüche noch ausgebaut und betont werden. (Bei Harry gelang das wunderbar.)
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zuletzt:
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2014, zur Fußball-WM, erschien ein neuer „Pottermore“-Text Rowlings zur Quidditch-WM 2014 (Link: Text von mir, ZEIT Online). Dort wird erwähnt, dass Luna Lovegood, eine Klassenkameradin Harrys, mittlerweile mit dem Enkel von Newt verheiratet ist, Rolf Scamander. Wir wissen, dass Rolf dunkelhäutig ist („swarthy“), und wir wissen durch das „Phantastische Wesen“-Schulbuch, dass Newt Porpentina heiratete. Im Film sind Newt und Porpentina weiß – das heißt, vermutlich wird ihr Sohn oder ihre Tochter eine große Liebe mit einer Person of Color erleben. Schade, dass nicht Newt selbst oder Tina nicht-weiß sind: Eine Filmreihe, die auf Hitler, Grindelwald, den zweiten Weltkrieg zusteuert, wäre mit Hauptfiguren of Color sicher interessanter. (That being said: Ich denke, Porpentina und Queenie sind Jüdinnen.)
und, Nachtrag: Ich merke erst jetzt, dass Newt Scamanders Londoner Verlag „Obscurus Books“ heißt. Im ersten Jahr, nachdem es Newt nicht gelang, einen Obscurus und seinen Obscurial zu retten, erscheint sein Hauptwerk in diesem Verlag. #schuldgefühle? #tribut?
2013 wurde ich eingeladen, einen Text über meinen ehemaligen Professor zu schreiben. Weil ich Listen liebe und Fragebögen/Interviews, und, weil ich beim Schreiben merkte, wie viel ich nicht weiß, und sehr gern wissen würde…
2016, zum 60. Geburtstag meines Vaters, sammelte ich persönlichere Fragen – gleich 200. Auch hier ging es um eine Balance/Annäherung: Vieles weiß ich, ungefähr. Aber noch viel mehr weiß ich nicht. Ich glaube, die fertige Liste verrät viel über unser Verhältnis.
Die Autorin und Internet-Expertin Kathrin Passig schreibt Texte, die sich virtuos zwischen Blog, Buch und Essay bewegen. Passig mit dem Autor, Kritiker und Blogger Stefan Mesch über die Bedingungen des Schreibens in alten und neuen Medien oder, wie sie selbst sagt: „über zweifelhafte Formen des Lesens, des Schreibens und der Literaturkritik“.
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70 erste Fragen und Ideen, für unser Gespräch.
Eine lose Sammlung.
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Auf wie vielen Büchern steht dein Name?
In wie vielen Büchern wird dir gedankt?
Wer dankt, und wofür?
Wie viele Bücher hast du übersetzt? Welches ist das beste?
Nenn mir ein paar analoge Dinge/Aktivitäten, die dir viel Freude machen: Zeug, das nichts mit Technik oder Innovationen zu tun hat.
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Du schreibst, programmierst, hältst Vorträge. Wie wählst du aus: nach Lust, Lebensqualität… oder ist es weiterhin vor allem eine Geldfrage?
Umgekehrt gibt es viele Jobs und Tätigkeiten, die man dir oft zurechnet – von denen ich aber nicht weiß, wie oft du sie machst: Rezensierst du Bücher? Schreibst du literarisch? Arbeitest du an Reportagen?
Als Verlegerin/Herausgeberin des (grandiosen) „Techniktagebuchs“: Würdest du gern mehr verlegen?
Was dachtest du als Kind, was aus dir wird?
Und später, als (Germanistik-)Studentin?
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Würde dein 15jähriges Ich verstehen, was du tust? Oder würde es sagen: „Sie macht ja gar nichts Richtiges?“
Ich sage oft: „Das ist die interessanteste und mir wichtigste Technikjournalistin.“ Du sagst am liebsten: „Ich bin Sachbuchautorin“ – oder?
Du wirst morgen für deine Essays ausgezeichnet. Wessen Essays liebst du?
Warum und für wen hast du deine ersten Essays geschrieben?
Über welche Themen streitest du dich?
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Was war dir früher wichtig, und ist dir heute ganz egal?
Was war deine beste Entscheidung?
Vor dem Internet wurden Menschen oft dafür bewundert, dass sie viel Wissen behalten und aufsagen konnten. Wofür bewunderst du Menschen?
Wie hat dich das Internet verändert?
Wie hat es dir geschadet?
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Warst du schon in dem Alter, das am besten zu dir passt – oder denkst du, es kommt noch?
Lebst du in einer fundamental anderen Zukunft, als du als Jugendliche dachtest/hofftest?
Du bist 1970 in Deggendorf geboren. Du sprichst oft darüber, was dich von den Menschen dort unterscheidet. Aber: Was hast du mit ihnen gemeinsam?
Wenn du eine Sache an den Lehrplänen deiner Schulzeit hättest ändern können, auch rückblickend, mit dem Wissen von heute: Was?
Viele Netz-Experten und freie Technik-Journalisten betonen immer wieder ihren Vordenker-Status. Du schreibst sehr offen über deine Zweifel oder Fehlschlüsse. Sagst deutlicher, was du (und: wir alle) nicht weißt/wissen können.
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Du sprichst oft über Denkfehler, Trugschlüsse/Vorurteile, Fallacies, cognitive biases: Welche hast du selbst besonders? Gegen welche arbeitest du an?
Welche hast du weniger als die meisten anderen Menschen?
Und welche haben wir eigentlich alle – und sollten sie uns viel bewusster machen, beim Schreiben, Sprechen, Argumentieren?
Du hast mal gesagt, deine Tweets enthalten kaum Rechtschreibfehler, weil du 20 Minuten pro Tweet brauchst. Warum so langsam?
Was findest du aufregender als andere Menschen? Was findest du langweiliger? (Themen? Innovationen? Aktivitäten?)
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Gibt es Texte oder Aussagen, die du zurücknehmen willst? Eher gewisse Urteile? Oder eher Prognosen?
Was wird schlechter? Was geht den Bach runter? Wovor hast du Angst?
Gibt es Dinge, deren Sterben / Verfall dir grade das Herz bricht?
Siehst du irgendwelche großen Disruptions kommen: technisch-gesellschaftliche Umwälzungen, die alles auf den Kopf stellen könnten?
Was unterscheidet dich von deinem Kollaborator/Kollegen/Freund Sascha Lobo?
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In was für Abhängigkeitsverhältnissen stehst du? Wer bezahlt dich? Bestimmen vor allem diese Auftraggeber deine Themen und Arbeit?
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Wenn du deine Texte, Essays, Kolumnen nicht schreibst, schreibt sie niemand: Ich finde dich unersetzlich. Deine Perspektive ist oft sehr eigen. Trotzdem wirkst du bescheiden: Leistest du wichtige Arbeit? Oder denkst du „Luxus. Eigentlich habe ich alle Freiheiten. Schön, dass ich damit durchkomme“…?
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Warum schläft/ruht dein Gemeinschafts-Nerd-und-Technikblog „Riesenmaschine“?
Hast du seit 2006, nachdem du mit deiner ersten Erzählung den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hast, noch einmal Prosa geschrieben?
Schreibst du private Texte, die niemand liest? Nur für dich?
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Mit welcher Aussage hast du dir bisher den größten Ärger gemacht?
Hast du Feinde? Bist du jemandem ein Dorn im Auge?
Würdest du auf Demonstrationen gehen? Skandieren?
Ich finde dich recht empathisch und… weitherzig: Was tust du, um die Welt besser zu machen? Bist du in Vereinen oder Initiativen aktiv?
Du hast über 30.000 Follower auf Twitter: Warum nutzt du deinen Twitter-Fame selten, um Debatten anzust0ßen, politisch zu tweeten, Hilfsgesuche zu teilen o.ä.?
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Liest du klassische Rezensionen im Feuilleton? Geben sie dir etwas? Oder „glaubst“ du nicht daran – als Gründerin der „automatischen Literaturkritik“?
Legst du Archive an? Sammelst du etwas? Hältst du irgend etwas fest?
Du bist ein Fan von Gründlichkeit, Nachzählen, Nachhaken… naturwissenschaftlichen Methoden, die ich unter Geisteswissenschaftlern erschreckend selten finde: Wünschst du dir mehr naturwissenschaftliche Gründlichkeit im Kulturbetrieb?
Was hättest du gern früher gewusst?
Nenn mir erfundene Figuren, denen du ähnlich bist oder gern wärst.
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Gibt es eine Entwicklung, die du sehr früh hast kommen sehen: prophetisch?
Fühlst du dich, als Early Adapter, oft weiter vorne: Findest du es anstrengend, dass Leute sich oft Fragen stellen, die du dir schon seit Jahren stellst?
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Hast du eine Sammlung von „Darüber müsste ich eigentlich mal länger schreiben“-Ideen? Was stünde dort weit oben?
Eine Zukunftsvorstellung von dir: „Vielleicht halte ich in zehn Jahren nur noch Vorträge und publiziere meine Texte frei im Netz.“ Das wäre schade, oder? Falls Autoren wie Musiker werden und man nur noch Geld verdient, indem man sich Bühnen schafft.
Magst du das persönliche Gespräch? Wärst du grade lieber mit mir in einem Chat oder Google-.doc als auf einer Bühne?
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Was hast du aufgegeben oder beendet?
Du darfst keinen Menschen mehr sehen – aber hast Internet. Oder: Du darfst dich frei bewegen – aber hast kein Internet mehr. Was wäre schlimmer?
Ich kann am leichtesten, mühelosesten auf Facebook schreiben. Hast du einen Ort oder Modus, in dem dir das Schreiben/Formulieren/Denken besonders Spaß macht?
Was ist die Innovation, auf deren Durchbruch du dich besonders freust und die du gern noch erleben willst?
Wartest/hoffst du auf die Singularität: die Möglichkeit, ein Bewusstsein so zu digitalisieren, dass es unabhängig vom Körper überleben kann?
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Inwiefern ist die Zeit auf deiner Seite?
Wann klafften Zeitgeist und dein eigenes Leben am weitesten auseinander: Welches deiner bisherigen 45, 46 Jahre passte am wenigsten zu dir?
Gibt es Haltungen oder Normen aus deiner Kindheit, die heute verschwunden/verkümmert sind und die dir fehlen?
Bist du Opfer von Sexismus? Und/oder gibt es Leute, die dich (aus anderen Gründen) nicht ernst nehmen, aussortieren?
Manchmal schreibst du (humoristische) Sonette. Doch weil sie vor allem auf Facebook/online erscheinen, wird das wohl vor allem als Spielerei gesehen. Unterscheidest du zwischen „Spielerei“ und „großem Werk“? Wie wichtig ist dabei der Veröffentlichungsort und das Prestige? Und gibt es Arbeit von dir, von der du wünschst, dass sie ernster genommen wird?
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Nenn mir ein, zwei Projekte/Jobs, die dir viel mehr Spaß machten als das meiste andere.
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Nenn mir ein, zwei Projekte/Jobs, auf die du stolzer bist als auf alles andere!
Du hattest sehr lange sehr viele Print-Bücher. Dann hast du sie aussortiert, weggegeben. Kannst du dir andere Dinge vorstellen, an denen du gerade fest hältst – aber du später/bald aufgibst?
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Deine Website ist toll – aber du hast keine besonders geschärfte/pointierte Netz-Identität: Vielen Menschen kann man schneller drei, vier Worte, Adjektive, Tags zuordnen. Sind dir PR und Netz-Selbstdarstellung fremder als den meisten Netz-Journalisten?
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Du lebst seit dem Studium in Berlin. Bleibst du auf jeden Fall?
I started keeping a diary on October 26th, 1997. I was 14 and in 9th grade. I kept up until 2004, and every year, I made a ‚personal soundtrack‘ with songs that reflected last years‘ themes and storylines.
Here are 20 songs for ‚Season 19‘, October 2015 to October 2016.
Some of these songs are on Youtube. Let’s see how long it takes before they are taken down. Here are the videos: Watch them while the links still work!
Wer mich kennt, kennt – überraschend schnell – oft auch meine Mutter: Sie kommentiert auf Facebook, besucht meine Lesungen und folgt den Journalist*innen, Autor*innen und Blogger*innen, die mir wichtig sind. 2008 und 2014 war sie in Hildesheim, beim PROSANOVA-Festival. Und hin und wieder wohnen Studien- oder Literaturfreunde von mir für einige Tage im leerstehenden Haus meiner Großeltern/ihrer Eltern.
Mein Vater hat kein Interesse an Social Media – aber wünschte sich zum 60. Geburtstag persönliche Texte, kurze Anekdoten, Briefe, Erinnerungen für ein privates Buchprojekt.
Ich nahm mir vor, ihm Fragen zu stellen, trug das auf Facebook („Was würdet ihr eure Eltern fragen? Worüber würdet ihr gern mit ihnen sprechen?“)…
…und merkte: Die Frage trifft einen Nerv.
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Heute, hier im Blog: 200 persönliche Fragen an meinen Vater.
Ich freue mich, dass er mir erlaubt, diese Fragen hier öffentlich zu teilen. Und ich freue mich noch mehr, dass er Lust hat, sie – irgendwann, im privaten Rahmen – auch zu beantworten.
Ein langer Fragenkatalog, ohne Antworten… das wirkt im ersten Moment monoton oder witzlos. Tatsächlich aber liest man zehn, zwölf solcher Fragen – und fängt an, selbst zu überlegen: Weiß ich das, über meine eigenen Eltern? Würde ich diese Frage stellen? Was würde ich selbst antworten?
Falls jemand Ergänzungs-Fragen hat, ähnliche Fragen mit seinen Eltern ausprobiert(e) oder Erfahrungen damit hat, längere persönliche Gespräche in der Familie zu planen, aufzuzeichnen, zu teilen usw.: Lasst hören! Ich freue mich über Feedback.
Mit 17 sah ich in einem Karlsruher Buchladen das Buch „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ von Francois Truffaut: 400 Seiten über ein einziges Gespräch. Truffaut, ein junger französischer Regisseur, hat Hitchcock 1962 besucht und detaillierte Fragen gestellt. Hitchcock gibt Antworten – und erzählt dabei sein ganzes Leben.
Ich habe das Buch damals nicht gekauft – doch die Idee, verschiedenen Menschen sehr viele Fragen zu stellen, lässt mich nicht los.
Statt dir einen Text zu schreiben, habe ich einen Fragenkatalog erstellt. Du musst ihn nicht beantworten. Obwohl ich mich freuen würde, wenn wir uns irgendwann treffen und das versuchen.
Bis dahin machen, glaube ich, auch schon die Fragen für sich allein Spaß:
200 Dinge, über die ich manchmal nachdenke und zu denen ich gern mehr wissen würde.
:
1_Welchen Tag aus deiner Kindheit würdest du gern ein zweites Mal erleben?
2_Was hat dir als Kind am meisten Spaß gemacht?
3_Was ist deine früheste Erinnerung?
4_Nenn mir einen typischen Moment mit deiner Mutter. Und etwas, das du an ihr magst.
5_Was habt ihr gemeinsam?
:
6_Dein Vater war Schmied; später betrieb er eine Tankstelle. Als er starb, warst du noch Grundschüler. An welche Momente mit ihm erinnerst du dich?
7_Waren deine Großeltern wichtig, als Kind? Andere Verwandte? Cousins und Cousinen?
8_Wer sind deine Paten? Hast du einen Lieblingsverwandten?
9_An welchen Punkten im Leben fehlte dir ein Vater?
10_Wie hat sich deine Mutter nach dem Tod ihres Manns verändert? Deine Schwestern?
:
11_Von wem hast du viel gelernt? Hattest du gute Lehrer oder Chefs?
12_Was macht dich an deiner Kindheit glücklich?
13_Mit wem hast du die meiste Zeit verbracht: Klassenkameraden? Nachbarn?
14_Was hast du mit deinen Schwestern unternommen? Habt ihr viel geteilt?
15_Wann warst du zum ersten Mal betrunken? Wen hast du geküsst? Warst du selbstbewusst?
:
16_Wann wurden Autos, Mofas usw. wichtig? Wie hast du dein erstes Auto finanziert?
17_Warst du je gläubig?
18_Wann hattest du als Kind den größten Ärger?
19_Hast du Klassenkameraden, aus denen „etwas wurde“? Freunde, aus denen „gar nichts wurde“? Wer hatte das interessanteste oder überraschendste Leben?
20_Sind Leute, die dich von damals kennen, überrascht, wenn sie dich heute sehen? Wen siehst du, wo? Wen vermisst du?
:
21_Wenn du eine Sache an deiner Erziehung ändern könntest – welche?
22_Du warst kein guter Schüler. Dachtest du trotzdem als Jugendlicher: „Ich bin clever“?
23_Warst/bist du klüger als die Leute aus deiner Jugend, deiner Heimatstadt?
24_Hattest du damals genug Geld? Oder hast du dich arm gefühlt?
25_Wann wurdest du erwachsen: mit welchem Ereignis oder welcher Entscheidung?
:
26_Als Schüler hast du in einem Tante-Emma-Laden gejobbt. Hattest du Spaß? Gab es weitere Neben- und Aushilfsjobs?
27_Hast du beim Bund Freunde gefunden oder Wichtiges gelernt?
28_Hast du danach nochmal mit deiner Mutter unter einem Dach gelebt? War es dir wichtig, auszuziehen? Hast du je allein gelebt?
29_Kanntest du Studenten? Was hältst du von Menschen mit Studium?
30_Was war deine Lieblings-Arbeitsstelle… und was wusstest du über Arbeit, bevor du selbst einen Beruf wählen musstest?
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31_Was war dir früher wichtig, und ist dir heute ganz egal?
32_Was hast du mit Mama gemeinsam?
33_Was unterscheidet dich von typischen Männern deines Alters?
34_Was unterscheidet dich von typischen Deutschen?
35_Was unterscheidet dich von typischen Vätern?
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36_Warum wurdest du Mechaniker? Hat der Beruf deine Erwartungen erfüllt?
37_Wie war Mama, als du sie zum ersten Mal getroffen hast? Wann wusstest du: Ich will sie heiraten?
38_Wie hat sie sich seitdem verändert? Was magst du an der Veränderung; was nicht?
39_Wie hat sie dich verändert?
40_Welche Rolle fällt dir am leichtesten: Sohn und Bruder? Vater und Ehemann? Großvater? Wann hast du dich mit deinen Rollen am wohlsten gefühlt?
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41_Wie war es, mit den Eltern von Mama zu leben?
42_Warum bist du nach Süddeutschland gezogen? Wann war dir klar, dass du bleibst?
43_Mama sagt oft, sie hat dir bei der Jobsuche geholfen. Wie?
44_Du warst bei der Freiwilligen Feuerwehr und in der CDU. Was sind deine Erfahrungen mit den Vereinen und den Menschen im Dorf?
45_Wie war eure Hochzeit? Gab es eine Hochzeitsreise?
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46_Wofür würdest du gern gelobt oder bewundert werden?
47_In welchem Alter mochtest du dich selbst am meisten?
48_Welchem Menschen bist du am meisten schuldig?
49_Was war deine beste Entscheidung?
50_Wer oder was hat dir das Leben am schwersten gemacht?
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51_Was macht einen guten Vater aus?
52_Was macht eine gute Mutter aus: etwas anderes als einen guten Vater?
53_Kamen Mama und du aus verschiedenen Schichten, Kreisen? Hättest du gern ihre Kindheit gehabt?
54_Hättest du gern meine Kindheit gehabt?
55_Was wolltest du als Erzieher unbedingt anders machen als deine Mutter?
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56_Warum arbeiten deine Schwestern so viel und wirken so gequält?
57_Warum hast du ein besseres Verhältnis zu Mamas Bruder als sie selbst?
58_Hatten Mama und du gemeinsame Freunde als junges Paar? Was wurde aus euren Freundschaften?
59_Es gibt Familienmitglieder, mit denen ich dich nie sprechen hörte – Lutz, Ede, Mamas Mutter.
60_Die Kinder deiner Schwester machten früh Ausbildungen, haben geheiratet – und scheinen dich viel toller, witziger zu finden als wir: Hättest du gern bodenständigere Kinder?
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61_Warum vier Kinder? Warum das erste mit 26? Warum nicht mehr? Weniger?
62_Hattest du noch nie Spaß an Familienaktivitäten, gemeinsamem Abendessen, Gesprächen – oder hast du ihn mit der Zeit verloren?
63_Du hast Söhne und Töchter. Eine gute Mischung, Balance?
64_Mit Kindern in welchem Alter fühlst du dich am wohlsten? (Mein Eindruck: mit vier oder fünf.)
65_Was unternimmst du mit deinen Enkeln? Was magst du an ihnen?
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66_Inwiefern waren Mama und du „Eltern der 80er, 90er“: Wie hat euch der Zeitgeist, das Familien- und Elternbild beeinflusst?
67_Was würdest du heute anders machen?
68_Ich habe selten das Gefühl, du seist von uns Kindern enttäuscht – doch denke dauernd, dass wir dich langweilen: unsere Geschichten sind uninteressant, unsere Probleme vermeidbar.
69_In welchem Alter fandest du mich am sympathischsten? Am unsympathischsten?
70_Und Mama? Und meinen Bruder? Dich selbst?
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71_Gibt es jemanden, den du stolz machen willst oder dessen Lob dir wichtig ist?
72_Ist Kochen und Putzen Frauenarbeit?
73_Hast viel gearbeitet, weil eine Familie Geld braucht… oder, weil du den Beruf spannender findest als ein Familienleben?
74_Jeden Abend hast du an der Dorftankstelle ein Feierabendbier getrunken. Wann hörte das auf? Warum? Was gaben dir diese Männer/Gespräche – und habt ihr heute noch Kontakt?
75_Als Kind hatte ich den Eindruck, deftiges Mittags- und Sonntagsessen wären für euch unverzichtbar. Heute isst Mama ganz andere Gerichte, zu anderen Zeiten. Du selbst auch. Mein Bruder scheint der einzige zu sein, der solche Mahlzeiten mag. Warum die ganze Mühe mit Hausmannskost, damals?
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76_Was dachtest du in meiner Kindheit, was aus mir wird?
77_Was dachtest du als Kind, was aus dir selbst wird?
78_Was nervt oder ängstigt dich an Familien an meisten?
79_Haben wir Geschwister mehr Unterschiede oder mehr Gemeinsamkeiten? Musst du auf vier sehr verschiedene Arten Vater sein?
80_Was hat dich am Vatersein überrascht? Worauf warst du nicht vorbereitet oder eingestellt?
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81_Wer ist dir ebenbürtig und kann dich gut verstehen?
82_Was ist dir peinlich? Vor wem?
83_Was war das Mutigste, das du je getan hast?
84_Was war das Feigste, das du je getan hast?
85_Viele Freunde von mir fühlten von ihren Eltern als Kind unter Druck gesetzt und hörten immer wieder: „Was sollen nur die Verwandten denken?“ Mama und dir schienen die Verwandten, Nachbarn usw. recht egal.
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86_Fiat ist ein italienischer Konzern. Wie zeigte sich das bei deiner Arbeit?
87_Wenn Fiat-Händler ein Problem nicht diagnostizieren oder beheben konnten, wurden die Autos in deine Abteilung geschickt, oder? Was war das interessanteste Problem, die überraschendste Diagnose?
88_Was hast du im Auto auf dem Weg zur Arbeit gemacht: Musik gehört? Nachgedacht? Hast du heute noch ähnliche ruhige, passive Momente im Alltag?
89_Du warst etwa 15 Jahre bei Fiat: Ab wann wolltest du dich selbstständig machen? Dachtest du als Berufsanfänger, du bleibst dein ganzes Leben im selben Konzern?
90_Was machten die Monate in Turin und das Italienischlernen aus dir? Mama sagt oft, sie wurde selbstbewusster, mutiger. Hast du Turin als ähnlichen Kulturschock und ähnliche Befreiung erlebt?
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91_Worauf hast du verzichtet – und später gedacht: Es war ein Fehler, darauf zu verzichten?
92_Warum mögen dich Leute? Was gefällt ihnen an dir?
93_Was magst du selbst an dir?
94_Schon immer – oder musstest du erst lernen, dich zu mögen und an deinen Stärken/Schwächen zu arbeiten?
95_Was war dein bestes, schönstes Jahr?
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96_Du sprichst gern mit Kellnern, Verkäuferinnen, machst Witze mit Polizisten und Briefträgern. Hast du mehr Spaß mit Fremden als mit Freunden?
97_Warum ist D. dein bester Freund? Wie überlebte diese Freundschaft so lange?
98_Du spielst gern Streiche. Dein bester Streich, deine beste Lüge?
99_Oft weichst du Fragen aus: Du magst du es, Menschen zu überrumpeln oder sie zu dominieren, indem du Fakten vorenthältst. Und du erzählst nur, wenn es unbedingt nötig ist oder jemand explizit nach etwas ganz Konkretem fragt: Woher die Lust, Dinge möglichst lange für dich zu behalten?
100_Du stellst kaum eigene Fragen und weißt nicht viel über das Innenleben deiner Familie. Warum?
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101_Mama spricht oft nostalgisch über „die Ursprungsfamilie“. Verstehst du das? Ist alles, was ab ca. 40 kam, für euch ein Nachklapp?
102_Hattest du gute Karten? Bist du privilegiert?
103_Welchen Menschen schuldest du etwas? Was?
104_Schuldest du dem Staat etwas? War Deutschland gut zu dir?
105_Haben dich Leute in Schubladen gesteckt… wegen deines Geschlechts, deines Gewichts, deiner Kleidung, Bildung etc.?
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106_Wärst du gern etwas früher oder später geboren? Bei Mama denke ich oft, dass sie 20 Jahre älter oder jünger weniger aus dem Rahmen fallen würde.
107_Gibt es einen Politiker, den du gern gewählt hast und von dem du viel hältst?
108_Hast du als Kind oder Teenager jemanden bewundert?
109_Fandest du dich mal hübsch? War dir dein Aussehen wichtig; war es wichtig, was du anhast?
110_Bist du „normal“? Bist du Teil der Mehrheit?
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111_Warst du ein „armes“ Kind? Bist du ein „reicher“ Mann? Hast du die soziale Schicht gewechselt, im Lauf deines Lebens?
112_Wo zeigt es sich, dass deine Mutter ärmer ist als du, dass deine Kinder gebildeter sind usw.?
113_Sprichst du am liebsten mit Männern in deinem Alter, aus deiner Schicht? Oder mit Jüngeren, die weniger Macht und Wissen haben?
114_Ist es einfacher für dich, mit deinen Angstellten zu sprechen als mit deiner Familie?
115_Du furzt oft und findest es lustig, wenn sich Menschen fürs Furzen, Rülpsen usw. schämen oder genieren. Hast du schon einmal gefurzt… und es kam fürchterlich an?
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116_Drei Dinge, die dich unzufrieden machen?
117_Drei Dinge, die dich zufrieden machen?
118_Die beste Erfindung, Neuerung, Verbesserung im Lauf deines Lebens?
119_Du liebst Geschäftstelefonate – doch das Internet macht dich wütend, vor allem Social Media. Warum?
120_Eine Theorie zu Fortschritt und Alltag: Technik, die man schon als Kind kannte, hält man für selbstverständlich. Technik, die während der Jugend erfunden wird, nutzt man oft aufgeschlossen. Doch bei Technik, die ab dem ca. 30. Lebensjahr massentauglich wird, ruft man: „Wozu soll das gut sein? Das braucht doch keiner!“ Welche Innovationen seit… 1986 machen dich sehr glücklich?
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121_Hattest du Tiere als Kind? Wolltest du welche?
122_Mit ca. 30 hast du viel Zeit mit einer Modelleisenbahn verbracht. Gibt es Dinge, die du als Kind entbehren musstest und als Erwachsener nachholst?
123_Hatte mein Bruder als Kind die Möglichkeiten, die du gern selbst gehabt hättest, als Kind? Hat der Sohn meines Bruders heute als Kind die Möglichkeiten, die mein Bruder gern selbst gehabt hätte, als Kind?
124_Wann haben Menschen an dich geglaubt: Mentoren, Förderer, Experten, deren Meinung dir etwas bedeutet? Gab es väterliche Figuren in deinem Leben?
125_Ist dir beruflich je ein großer Patzer, Fehler unterlaufen? Hast du immer alles richtig gemacht?
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126_Hattest du je Affären mit Frauen in Italien?
127_Welche Gemeinsamkeiten hast du mit dem erstem Mann deiner heutigen Frau?
128_Was bedeuten dir die beiden Kinder der Frau, mit der du von 1998 bis 2004 (?) zusammengelebt hast, R. und C.? Habt ihr Kontakt?
129_Du hast mehrere Häuser/Gebäude entworfen und gebaut. Woher nahmst du die Selbstsicherheit und Kompetenz?
130_Du baust Häuser für die Ewigkeit – doch hattest in den letzten 20 Jahren vier verschiedene Adressen. Warum kann man in deinen Grundrissen so schlecht Möbel neu umstellen? Und: Hast du je ein Zimmer, Möbelstück etc. zurückgelassen, das dir noch heute fehlt?
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131_Wie oft warst du verliebt?
132_Was ist der Unterschied zwischen Angestellten und Kindern?
133_Warum freut es dich, wenn deine Kinder, deine Schwiegertochter usw. zu deinen Angestellten werden?
134_Deine Frau arbeitet in deiner Firma – und abends, sagt sie, unterhaltet ihr euch stundenlang über den Tag. In meiner Kindheit bist du Gesprächen oft aus dem Weg gegangen. Was ist heute anders?
135_Früher schienen dir Hunde egal. Dann holte C. einen Hund. Du wolltest nie eine Katze – jetzt hast du zwei, mit deiner Frau. Was sind deine größten Sinneswandel… und überraschen sie dich selbst?
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136_Du sagst, du hast noch nie einen Roman komplett gelesen. Hast du als Kind schlechte Erfahrungen mit Büchern gemacht?
137_Hast du je interessante Bücher (Bildbände? Sachbücher?) bekommen oder selbst verschenkt?
138_Welche Filme kennst du: 1989 waren wir, glaube ich, als Familie in Disneys „Oliver & Co.“ Warst du seitdem im Kino?
139_Gibt es eine erfundene Geschichte, die du spannend; eine Figur, die du sympathisch findest?
140_In der dritten oder vierten Klasse waren wir beide abends mal allein: Ich schrieb am nächsten Tag eine Heimat-und-Sachkunde-Arbeit. Trotzdem sahen wir zusammen „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“, im Fernsehen. Mir blieb das – auch deshab – in Erinnerung, weil der Film von Vätern und Söhnen handelt: Kannst du dich erinnern… an diesen Film oder an etwas anderes, das ich als Kind mit dir zusammen sah?
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141_Manchmal bekommst du Konzertkarten für Bands deiner Jugend geschenkt (Pink Floyd?). Erzähl von den Konzerten: Hast du Spaß?
142_Du lässt so wenig Kultur in dein Leben, hältst so vieles für Schrott… warum hörst du (schrottiges) Radio, abends?
143_Ich weiß kaum etwas über die Stones, die Beatles, Bands der 60er und 70er – weil es bei uns kaum Platten und CDs gab. War Mama und dir Musik egaler als euren Altersgenossen? Schon immer – oder erst, als ihr Kinder hattet?
144_Sind die USA das Land, das du am meisten hasst? Jede US-Serie, jedes US-Videospiel, jede Amerikanisierung in den 80ern schien dich wütend zu machen: Liegt das am zweiten Weltkrieg und der Besatzung?
145_Ist Deutschland das Land, das am besten zu dir passt? Wolltest du je woanders leben?
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146_Was willst du abschaffen? Wen willst du an die Wand stellen?
147_Du gibst Leuten oft die Schuld, dass sie Geld verschwenden, etwas kaputt machen oder verlieren. Was sind die größten Schäden oder Fehler, die dir selbst unterliefen?
148_Haben Menschen, die nicht arbeiten, Respekt verdient?
149_Haben Menschen einen guten Kern – oder sind sie eher schlecht?
150_Findest du die meisten Menschen dumm, aufgeblasen, lächerlich?
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151_Nenn mir drei Frauen, die besser, klüger, stärker sind als du.
152_Über welche Themen streitest du dich?
153_Hast du dich je geprügelt? Gibt es Leute, vor denen du kuschen musst oder die nicht wissen, dass du nichts von ihnen hältst? Hast du Gegner, Rivalen, geschäftliche Konkurrenten?
154_Wann hast du zuletzt jemanden beschimpft, blamiert, zurechtgewiesen oder ihm vor Augen geführt, dass du besser bist?
155_Was magst du an dir selbst am wenigsten? Was ist deine schlechteste Eigenschaft?
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156_Gibt es jemanden, auf den du eifersüchtig warst oder den du beneidest?
157_Wurdest du als Kind geschlagen oder verletzt?
158_Was würdest du tun, falls du beobachtest, dass ich mein Kind schlage?
159_Habe ich dich mal verletzt?
160_Wer soll zuerst sterben: deine Frau oder du?
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161_Wie lange willst du leben? Hast du Angst vor dem Älterwerden? Fühlst du dich alt?
162_Moderne Sechzigjährige sind viel aktiver und lebendiger als die Opas, die ich aus meiner Kindheit kenne: Wann und wo bist du älteren Menschen begegnet, die dir Lust aufs Alter machen?
163_Wird alles schlechter? Geht alles den Bach runter?
164_In welchem Jahr passte das allgemeine Zeitgefühl, die Stimmung usw. am besten zu dir selbst: In welchem Jahr hast du dich in der Gegenwart am meisten daheim gefühlt?
165_In meiner Kindheit hattest du oft Magenschmerzen und Angstgefühle: „Luft im Bauch“. Wann hörte das auf?
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166_Woran merkst du, dass du nicht aus Süddeutschland kommst? Woran merkst du, dass du aus Niedersachsen kommst?
167_Hast du je gedacht, du würdet in deinem Heimatstädtchen alt werden?
168_Du kennst Ostdeutschland recht gut, Österreich, viele deutsche Rennstrecken und Kartbahnen: In welcher Region fühlst du dich am wohlsten – und welche Unterschiede fallen dir auf?
169_Wer war dein Nachfolger bei Fiat? Habt ihr Kontakt? Wärst du vor 20 Jahren dort geblieben – wer wärst du heute?
170_Hattest du je andere Berufswünsche?
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171_Welche Rolle spielst du heute, am Telefon deiner Firma: Verkäufer? Berater, Experte? Taktiker? Magst du diese Rollen?
172_Ist es noch wichtig, dass deine Firma mit Autos, Motorsport zu tun hat – oder musst du so viel organisieren, dass du genausogut Regenrinnen oder Sicherheitsglas verkaufen könntest?
173_Du sagst oft, Motorsport sei Luxus: Findest du, dass deine Kunden ihr Hobby (und sich selbst) zu wichtig nehmen?
174_Wenn du auf Rennstrecken arbeitest: Fieberst du noch mit? Welche Fahrer, Sportler, Teams bewunderst du?
175_Autodesign ist dir nicht wichtig, oder? In den 50ern, 60ern waren Autos ein Faszinosum. Hat dich das je interessiert – und stört es dich, dass Sportwagen, Automarken, das „richtige“ Auto usw. heute keine große Rolle mehr spielen?
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176_Du bist oft umgezogen. Gibt es Gegenstände, Kleidung, Schmuck etc., die du vermisst?
177_Gibt es Geschenke, die dir viel bedeuten? Gibt es Lob, das dir viel bedeutet?
178_Lobst du Leute genug: deien Frau? Mama? Meine Geschwister?
179_Du magst Ordnung, Archive, Lagerschränke. Was wirfst du weg?
180_Hast du Persönliches aufgeschrieben? Hast du alles gesagt, was du sagen wolltest?
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182_War während der vielen Familienfeiern in den 80ern nicht veilleicht eh schon absehbar, dass es zu wenige Überschneidungen zu diesen Verwandten gibt: Wozu all diese Treffen? Heute gibt es kaum noch Kontakt.
183_Bei dir, bei Mama und bei meinem Bruder denke ich oft, ihr habt genaue Vorstellungen, was eine Familie ausmacht, braucht… auch, wenn ihr viele dieser Rituale, Ausflüge, Regeln usw. persönlich gar nicht mögt. Woher kommen diese Ideen, was sich für eine Familie gehört?
183_Was war dein schönster oder wichtigster Geburtstag?
184_Was ist das Beste, das du anderen Leuten geschenkt oder ermöglicht hast?
185_Du gewöhnst dir das Rauchen ab. Sagst, es war keine große Anstrengung… und fängst doch wieder an. Du trinkst nichts… und dann doch wieder. Warum diese Rückfälle?
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186_Sind die Frauen in den richtigen Lebensphasen bei dir? Hättest du mit Mama, C., und deiner heutigen Frau auch in anderen Reihenfolgen, anderen Lebensphasen glücklich werden können?
187_Was hast du aus deiner ersten Ehe für die zweite gelernt?
188_Was genießt du an deinem Leben gerade am meisten: dass du dein eigener Chef bist? Dass du Erfolg hast? Dass du kaum noch familiäre Pflichten hast? Dass du am Wochenende auf Rennstrecken bist?
189_Hast du Geld in den Sand gesetzt oder unnötig ausgegeben – oder haben sich alle Investitionen immer gelohnt?
190_Wenn ich anderen von dir erzähle, merke ich oft: In einer Serie wärst du die Lieblingsfigur vieler Zuschauer. Du hast die besten Sprüche. Nimmst die Aufregung anderer Leute nie besonders ernst – aber sorgst selbst für Aufregung. Würdest du gern Zeit mit einem Menschen wie dir verbringen?
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191_Hast du deiner Mutter alles gesagt, was du ihr sagen wolltest?
192_Hast du deine Schwester je in Australien besucht?
193_Gibt es etwas, das du schon lange tun wolltest? Warum hast du es noch nicht getan?
194_Gibt es etwas, das du nicht kannst – aber noch lernen willst?
195_Was hast du erst sehr spät gelernt, ausprobiert, erlebt, verstanden?
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196_Was hättest du gern früher gewusst?
197_Bist du deiner Familie dankbar… oder sollte deine Familie dir dankbar sein? Gibst oder nimmst du mehr?
198_Liest du diese Fragen gern? Hättest du Lust, sie zu beantworten – oder bist du froh, dass du nicht antworten musst?
199_Was ist die größte Gemeinsamkeit zwischen uns beiden?
200_Was wäre der größte Gefallen, den ich dir gerade tun könnte?
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