Netzspiegel: BookDNA, Booklamp, Empfehlungen… und Stichworte

 Buchcover und Klappentexte lügen. Erst in absurden Online-Datenbanken wie „BookDNA“ wird das Genom großer Geschichten entschlüsselt.

von Stefan Mesch

 

Für die „Netzspiegel“-Kolumne des Berliner „Tagesspiegel“ habe ich eine kurze Glosse geschrieben über Tags, Buchempfehlungen und Netzwerke, die Texte analysieren.

Die Printversion erscheint morgen, im gedruckten „Tagesspiegel“.

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Den Anfang machten die Nationalbibliotheken mit ihren CIP-Registern, noch vor den digitalen Netzwerken: Statt jeden neuen Roman allein unter dem Stichwort „Fiction“ abzulegen, erfand etwa die Library of Congress für ihr Suchregister tausende Hilfs- und Suchbegriffe, mit denen jedes Buch in eigenen Sach- und Themenwelten gefunden werden kann:

Stewart O’Nans „Emily, allein“ etwa erzählt von einer alten Frau mit Herzproblemen und einem kranken Hund in Pittsburgh. Die Suchbegriffe? „Witwen“, „ältere Frauen“, „Ereignisse, die das Leben verändern“ und „häusliche Geschichten“. Vier große Themen. Vier Anschluss- und Verknüpfungspunkte, die Lesern bei der Suche nach der nächsten Lektüre helfen.

Es gibt das Stichwort „Frisöre“, das Stichwort „Japan – 1926 bis 1945“ und das Stichwort „Brandwunden und Verbrühungen“. Und wer jetzt schimpft „Aber die Bibliothekare haben den kranken Hund vergessen!“, darf gerne selbst mithelfen und sortieren: Man kann dem „Hund“, den die Bibliothekare nicht so wichtig fanden, heute bequem auf Amazon.de nachspüren.

Dort gibt es 800 Produkte zum Thema „Hunde“. Und wie mit Stickern, Klebezetteln oder kleinen Umhängeschildern – englisch: Tags – darf jeder Kunde jedes Produkt mit einer Unzahl beliebiger neuer Hilfsbegriffe verschlagworten.  Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“ etwa ist unter den Begriffen „Berlin“, „Teenies“ und „Drogen“ abgelegt. Und, für acht enttäuschte Leser, unter „pseudo-intellektuell“.

US-Netzwerke sortieren noch viel feiner: Mit dem „Plot Keyword“ „Death of Dog“ findet man 53 Filme und Serien in der Filmdatenbank IMDb. In der „Listopia“-Rubrik des Büchernetzwerks Goodreads haben 60 Leser über das traurigste Buch mit toten Hunden abgestimmt und eine eigene „The Dog dies!“-Liste angelegt. Und auf TVTropes.org – der schönsten Plattform zum Beschreiben und Erkennen erzählerischer Motive und Klischees –, listet das Verzeichnis „A Boy and his X“ die größten, markantesten und traurigsten Geschichten über die Freundschaft zwischen Mensch und Tier.

Aber helfen solche Werkzeuge wirklich bei der Suche nach der passenden Lektüre? Romane sind schwer zu „erkennen“, schwer zu „durchschauen“, schwer zu sortieren und schwer zu vergleichen. Empfehlungen sind Feinarbeit, Geschmacksprognosen fast Psychologie. Welche Zutaten braucht ein politischer Roman? Wie viele Spannungs-, Erotik- oder Anspruchs-Punkte verdient Hemingway? Wie ließen sich die spröden Kurzgeschichten Judith Hermanns fassen? „Bildsprache: 83 Prozent. Satzrhythmus: 90 Prozent. Erzählfluss: 62 Prozent. Lesespaß: 78 Prozent“? Oder einfach: „Kann Spuren von Sehnsucht, Tränen und Küssen enthalten“?

Keine Website geht dieses Problem verkopfter (und amüsanter!) an als Booklamp.org. Der Empfehlungs- und Katalogdienst für Bücher will die „BookDNA“ jeder Geschichte entschlüsseln – und in präzisen Prozentzahlen bemessen. Der Schreibstil wird erfasst in den fünf Kategorien „Bewegung“, „erzählerische Dichte“, „Rhythmus“, „Dialog“ und „Beschreibung“. Der Inhalt mit trockenen Schlagworten wie „entfernte Verwandtschaft und Cousins“ oder „Terminplanung / Zeitfragen“.

Die Fantasy-Reihe „Ein Lied von Eis und Feuer“ enthält „62 Prozent körperliche Merkmale“ und doppelt so viel Dialog wie Beschreibung. Die Hauptzutaten von „Anna Karenina“ sind „Beziehungen und Eheleben“, „Gefühlsbekundungen“ und „nonverbale Kommunikation“.

Noch ein paar Jahre, und wir können Bücher bestellen wie Pizza: „Einmal sterbender Hund, mit 80 Prozent ‚Bewegung‘ und ‚erzählerischer Dichte‘. Bloß keine Cousins oder Witwen! Aber viele ‚körperliche Eigenheiten‘.“ Die Frage ist nur, ob wir dann wirklich finden, was wir suchen.

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