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Mein Anlass, über Alltag, Jugend, Gegenwart zu schreiben, stammt aus „Beverly Hills, 90210“, der 293 Episoden / zehn Staffeln langen Jugendserie von Aaron Spelling, ausgestrahlt von Oktober 1990 bis Mai 2000; in Deutschland ab 1992, auf RTL:
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das erste moderne „Teen Drama“
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eine Ensemble-Serie mit sechs bis zehn befreundeten Hauptfiguren
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ein (oft: didaktisches, moralisierendes) TV-Melodram, in dem weiße, privilegierte Schüler versuchten, mit fremden und eigenen Fehltritten / Schicksalsschlägen umzugehen.
Ab 1972 produzierten die US-Networks ABC, NBC und CBS „Afterschool Specials“ – schnelle, oft effekthascherisch inszenierte Lehrstücke über Schule und Alltag, mit Titeln wie „Me and Dad’s New Wife“, „She drinks a little“ oder „All the Kids do it“.
Ab 1984 folgte der Sparten- und „Frauensender“ Lifetime mit Rührstücken über Missbrauch, häusliche Gewalt, Essstörungen und anderen – aus Groschenheften, Kolportageromanen, Seifenopern und der Boulevardpresse bekannten – Vorstadt- und Hausfrauen-Ängsten.
Für das jüngste, kleinste und jugendlichste US-Network – FOX, gegründet 1986 – entwarf Aaron Spelling, in den 80er Jahren vor allem mit einstündigen „Night-Time Soaps“ wie „Der Denver-Clan“, „Die Colbys“ und „Hotel“ erfolgreich, eine Hybridform dieser beiden Formate: Eine wöchentliche, einstündige Serie über das freundliche, zuweilen naive High-School-Zwillingspaar Brandon und Brenda Walsh aus Minnesota, das seit dem Umzug der Eltern in den Nobel- und Villenbezirk Beverly Hills mit Versuchungen, Zwängen und Konflikten aus der Ober- und Unterschicht Los Angeles‘ konfrontiert wird – Kokain und Designerdrogen, „Date Rapes“, Esstörungen… ein Katalog der Vorstadt- und Mittelstands-Ängste der Neunziger, exerziert an einer Clique armer, reicher Jugendlicher und ihren hilflosen, willensschwachen, verkrachten Eltern, Freunden und Lehrern, Woche für Woche lose verknüpfte „Cautionary Tales“ – die biederen, tadelnden, halbherzig dramatisierten „issues“/Probleme oft nur unbefriedigend „gelöst“ und in folgenden Episoden vergessen, ignoriert.
Seit 20 Jahren stoße ich – im Leben und in meiner Arbeit – auf Nachwirkungen, Zitate, Klischees und kulturelle Folgeschäden dieser Serie; und seit 20 Jahren ist jede Seh-Erfahrung, jedes Foto, jeder Gedanke an sie eine neue, ewig frische kleine Enttäuschung: „Beverly Hills, 90210“, das ist eine Grundidee, die mir bis heute sinnvoll, tragfähig, packend scheint – 293 Episoden über die Schwierigkeit, Ausbildung, Erwachsenwerden und Alltag zu meistern, gemeinsam, als Clique und Wahlverwandtschaft –, erzählt als schiefes, staubiges, ignorantes California-(Schauer-)Märchen.
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Straßenszene im Pilotfilm: Alltag in Los Angeles, 1990.
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Jede Figur, jede Frage, jeder Konflikt bebt vor Potential – doch alle Drehbücher, jede „Lösung“ enttäuscht in ihrer biederen, geföhnten, reaktionären Schlichtheit. Im Text von „Zimmer voller Freunde“, in Stefans Entscheidungen und Erzählgestus, wird diese Enttäuschung spürbar:
„Sonne scheint, Frau singt, es gibt nur junge, kluge, wichtige Figuren […], 2000 Einwohner und jeden Tag Sonne. Wir haben Riesenträume und wir leben schneller als der Rest. Wir brechen uns die Herzen und wir lieben uns zu Brei. Drei Jahre bis zum Abitur: Ich schreibe unsere Geschichte.“ [Zitat aus „Zimmer voller Freunde“]
…und – galliger, enttäuschter – im selben Kapitel:
„…keine Familie und Erwachsene – nur als Statisten, Randfiguren: Mein Vater hat jetzt eine prima neue Stelle in Hongkong, und meine Eltern packen den Koffer. Sie fahren zum Flughafen. Sie winken und verschwinden. Und trotzdem ist das Haus, in dem ich lebe, immer aufgeräumt und mein – mein! – Kühlschrank immer voll: Brandon Walsh, der Held aus „Beverly Hills, 90210“, ist in derselben Wohn- und Elternsituation.“ [Zitat aus „Zimmer voller Freunde“]
Für Stefan – den Ich-Erzähler von „Zimmer voller Freunde“, 16 Jahre alt und in einer fundamental anderen Wohn-, Eltern-, Freundes-, Liebes- und Lebenssituation als Brandon Walsh – ist „Beverly Hills, 90210“ eine falsche Offenbarung, ein nutzloser Prophet, ein gebrochenes Versprechen aus der Kindheit: eine Verheißung, die nie wahr wurde. Eine Vorhersage, die sechs, sieben Jahre Zeit hatte, in Stefan (und mir selbst, im echten Leben) Wurzeln zu schlagen:
- „Beverly Hills, 90210“ versprach: Wir machen „deine“ „Wirklichkeit“ zum Thema – Alltag, Konflikte und alle denkbaren Schwierigkeiten von Sechzehn-, Siebzehnjährigen.
- „Beverly Hills, 90210“ versprach auch – und: deutlich lauter: Wir zeigen märchenhaft reiche, märchenhaft schöne Schüler, deren absurd sorgenfreies Leben in jeder Sekunde durch die absurdesten Schicksalsschläge vernichtet werden kann.
Dieses zweite Versprechen habe ich niemals hören wollen, und alle Reize, Signale, Warnungen, die ein Slogan wie „Leben auf der Überholspur“, so der deutsche Titel eines „90210“-Romans, erschienen 1993, setzte – Voyeurismus! Schadenfreude! Klassenkampf! Das tragisch-lustvoll auserzählte Zugrundegehen der Reichsten, Schönsten, Hochmütigsten, Behütetsten! – habe ich seit 20 Jahren überhört und ignoriert: „Beverly Hills, 90210“, das ist Flaubert und Proust, „Buddenbrooks“ und Fürstenroman, Hybris, Abstieg, böses Märchen, If there’s nothing missing in her life, then WHY do these tears come, at night? – aber für mich sind das nur störende Effekte, unnötige Zuspitzungen, Kitsch und Glitter, den ich übersehe:
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Ich habe keine älteren Geschwister.
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Ich habe bis heute Angst / Respekt vor Menschen, drei, vier Jahre älter.
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Ich lese Bücher, Berichte, Interviews, um kommende, fremde Lebensabschnitte überblicken zu lernen.
Seit ich zehn Jahre alt bin, sollen Brendon, Brenda und ihre Freunde zeigen, wie man erfolgreich sechzehn, achtzehn, zweiundzwanzig Jahre alt ist, Cliquen knüpft, Freundschaften pflegt, auszieht, studiert, Geld verdient, lebt. Seit ich zehn Jahre bin, geben Brendon, Brenda und ihre Freunde vor…
„…was für mein Alter gut, gesund, normal und tolerabel ist. Ich lerne – ich lebe! – durch Filme und Serien.“ [Zitat aus „Zimmer voller Freunde“]
Das Weltbild (…und das Erzähl-/TV-Verständnis) der „Zimmer voller Freunde“-Figur „Stefan Mesch“ fußen auf einer Serie, die – in jeder Szene, 10 Jahre lang – immer nur genau so lange Realismus inszeniert und erträgt, wie solcher Realismus die grellsten, wirkungsvollsten oder bequemsten Effekte / Lösungen brachte:
Mein Anlass, über Alltag, Jugend, Gegenwart zu schreiben, stammt aus „Beverly Hills, 90210“. Und Stefan Mesch, der 16 Jahre alte Ich-Erzähler des Romans, „versteht“ Realität in ständiger Reibung mit einer Serie, die nie ernsthaft versuchte, „Realität“ zu verstehen – oder verständlich zu machen. [mehr zum Roman: hier]
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Stefan Mesch schreibt an “Zimmer voller Freunde”, seinem ersten Roman…
…und – hin und wieder – über Serien und Fernsehen, z.B. hier und hier.
hey lovely,
nicht viel, nur: zweitletzter absatz, da fehlt ein lehrzeichen im kursiv, und: (aber das sehe ich vielleicht zu bieder) vielleicht brichst du das ende des satzes auf in „die grellsten, wirkungsvollsten effekte erzielte oder bequemsten loesungen brachte“.
(ich bin halt mehrmals beim lesen dort haengen geblieben, weil sich der sinn fuer mich am ende nicht erschloss, und musste den satz dann erst aufdroeseln)
gut, dass ich den quatsch nie geguckt hab (wie auch – bis auf einen fan – niemand sonst in meiner clique). scheint ja schwere traumata hinterlassen zu haben. aber jetzt hab ich immerhin schon den anfang einer antwort auf meine frage nach dem schreibanlass, die ich dir nach der lektüre stellen wollte. und es liegt vielleicht an meiner völligen unbelecktheit was bh 90/210 & co. angeht, dass ich es trotzdem noch nicht ganz verstehe. also gerne noch mal persönlich-ausführlich. bis dahin liebe grüße!