Ich ignoriere Sitcoms, Kabarett, Comedians, Satire, „Spaß“-Lieder und -Videos, Komödien und alle Menschen, die Witze erzählen; verlasse den Raum oder starre zu Boden, bis Schenkel geklopft, Beifall geheischt, alle Häme ausgeschüttet wurde:
„Ich habe keinen Humor“, rechtfertige ich mich.
Doch das ist… Quatsch:
„Ugly Betty“ (ABC, 2006 bis 2010, vier Staffeln, 85 Episoden) trifft meine Tempo-, Sarkasmus-, Dialoggefechts- und Irrwitz-Ideale, konnte mich – als Drama und Comedy – zwei Jahre lang unterhalten, und heute finde ich große „Betty“-Stilmittel, erzählerische Spurenelemente in Serien wie „Glee“, „Girls“, „Happy Endings“:
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Jede Szene zeigt einen Streit / harten Schlagabtausch.
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Streitpunkte sind Ideologien: tiefe Unterschiede zwischen den Streitenden.
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In einem Ensemble aus ca. 12 Figuren kann jeder jeden attackieren…
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…jeder (auch: Unsympathen / Antagonisten) kann jederzeit Recht haben…
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…oder (auch: Helden / Sympathieträger) sich schlimm lächerlich machen.
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In all diesen Debatten, Streits, Konflikten wird – trotzdem – deutlich:
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Figuren respektieren ihre (fundamentalen) Unterschiede.
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Autoren legen Wert auf Spannbreite, soziale, kulturelle, sexuelle, ideologische Vielfalt der Stimmen und Standpunkte.
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…und das ständige, raue Mit- und Gegeneinander zeigt: Es gibt distinkt verschiedene Arten, „erfolgreich“ oder „schön“ zu sein, „gute Arbeit zu leisten“ usw. Jeder kann von jedem lernen. Doch jeder kann auch – von jedem anderen – in die Tasche gesteckt, verletzt, großer Lächerlichkeit preisgegeben werden.
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„Ugly Betty“ ist ein Aschenputtel- und Großraumbüro-Märchen, zu gleichen Teilen inspiriert von „Der Teufel trägt Prada“ (Buch: 2003, Verfilmung: 2006) und der kolumbianischen Telenovela „Y Soy Betty, La Fea“ (1999 bis 2001, auch Vorbild von „Verliebt in Berlin“ auf Sat.1, 18 Monate älter / früher als „Ugly Betty“):
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Betty Suarez, eine idealistische [wenn’s dem Humor dient: naive], enthusiastische [überdrehte] Latina aus Queens, wird über Nacht zur Assistentin / Sekretärin von Daniel Meade, dem bübischen [dumpfen], verspielten [gefährlich unreifen / ahnungslosen] Herausgeber des MODE Magazine.
Schnell versteht Betty, dass sie nur eingestellt wurde, weil Daniel mit allen bisherigen Sekretärinnen schlief: Niemand glaubt an Bettys Fähigkeiten – und niemand glaubt an Daniels Qualifikation, denn seinem Vater gehört die Verlags-/Pressegruppe. Vier Staffeln / Jahre lang sind Betty (später: als Autorin, Redakteurin) und Daniel vor allem beschäftigt, gegenseitige Patzer, Fehltritte und Überreaktionen auszubügeln. Prinzen und Telenovela-Romantik fehlen – denn Integrität, Loyalität, Selbstverwirklichung („Stil lernen“ vs. „Einfach-man-selbst-Sein“) und Karriere sind für die „Ugly Betty“-Figuren wichtigere Ziele.
Trotz allem Tempo, Schwung hätte mich das dauer-aufgeregte Fräuleinwunder (Peggy Olsen mit „Kinderkanal“-Look und -Attitüde…) schnell gelangweilt; stünden Betty und Daniel als Sympathieträger alleine in einer Welt klischeehafter „Reich und schön“-Figuren:
Bettys müde Schwester (Friseursalon, halbwüchsiger Sohn, Pech mit den Männern im Viertel), der fürsorgliche papi („Ich habe gekocht“, „Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus“ etc.), Empfangs-Dummchen Amanda, Lakai / Schoßhund Marc und Hexe / Drache / „Medusa“ Wilhelmina Slater (Vanessa Williams), die vor 30 Jahren selbst Assistentin war – und Bettys Oversharing, Overcaring usw. am schärfsten kritisiert:
„Ich tue nichts anderes als Scheiße dosieren“, schrieb Flaubert über die Arbeit an „Madame Bovary“ […behauptet Stephan Porombka auf Twitter].
Das leuchtet ein – denn auch meine „Zimmer voller Freunde“-Gespräche fordern oft die schlimmsten, unbequemsten, verletzendsten Sätze, die zwei Figuren wechseln können:
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Mein Ziel ist nie…
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…Kontrahenten als Widerlinge, Feinde, trashige „Monster“ zu inszenieren.
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…kalkuliertes Mitleid / Schadenfreude zu wecken, indem ich Außenseiter / Minderheiten möglichst originell beschimpfen, bloßstellen lasse.
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…eine Kluft zu ziehen zwischen „klugen, guten“ Figuren und dem „Pöbel“.
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…meine Erzählwelt einfacher zu machen, indem Figuren leichthin Zuschreibungen, Schubladen, Vorurteile nutzen.
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„Ein Mädchen stakst über die Kieswege des Bahnhofswiesenparks. Sie trägt einen Trekkingrucksack, Hochwasserhosen und ein unmögliches Regencape. […] Auf ihre Doc Martens hat sie Hippieblümchen gemalt, mit blauem Plaka-Lack. An ihrem Armband hängen Kronkorken und Kreuze. Gesicht und Arme sind, wie jedes Jahr um diese Zeit, voll heller Sommersprossen. […]
Wenn alles, was ein Fremder von uns sieht – Kleidung, Haltung, die Summe unserer Äußerlichkeiten – eine Art sichtbare Grenze darstellt zum versteckten, komplizierteren Innenleben, das man erst später, als Freund oder Vertrauter, zu überblicken lernt, wie man als Reisender ein fremdes Land entdeckt… dann ist sie Belgien. Ein Streifen Welt, in dem es nichts zu sehen gibt. Ein überraschungsloses Stückchen Mensch. Eine Landkarte ohne weiße Flecken. Hundert Prozent Klischees und Langeweile.“
(Stefan, über Nicht-Freundin Sassi, Zitat aus „Zimmer voller Freunde“)
Niemand urteilt schneller, bräsiger, gehässiger als Teenager. Nie wieder klaffen Anspruch und eigene Leistungen so weit auseinander. Die Elftklässler in „Zimmer voller Freunde“ haben einen sehr genauen Blick für Fehler, Schwachstellen, Heuchelei – doch eine furchtbar dünne Haut, pubertäre Hybris und zahllose eigene Angriffsflächen.
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„Lüg dich nicht an: Alle hängen dich ab. Jeder sortiert dich aus! Wenn ich dein Leben hätte – ich würde mich im Wald verstecken und heulen.“ (Frank, zu Stefan, „Zimmer voller Freunde“)
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„Es gibt Neben- und Hauptfiguren.
Es gibt nur zwei bis drei bedeutungsvolle Menschen.
Es gibt Verlierer, die die Trost- und Sonderpreise kriegen.
Es gibt die Guten. Und den Rest.“ (Stefan, in Sortier-Laune, „Zimmer voller Freunde“)
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‚„Der Frank ist ein ganz Lieber. Und anständig!“, sagt Carmens Mutter. „Ich finde, wir sind so richtig stolz auf den.“
„Na ja…“, sagt Carmen.
„Stolz? Auf was?“
Herlinde stockt. „Er ist…“ Sie überlegt.
„Er hat ja schon…“, setzt Carmen an.
Dann wird sie still.
Sigrid gießt Kaffee fort. Man schweigt.‘
(die Frauen in Franks Familie, über Frank, „Zimmer voller Freunde“)
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Jedes Urteil weckt zwei große Fragen, wirkt in zwei Richtungen: Es charakterisiert Opfer und Richter – und stellt beide zur Diskussion: Antje nennt viele Dinge „wertlos“. Frank benutzt „sinnlos“. Stefan „unwichtig“ – denn Antje sucht Werte, Sicherheiten. Frank Spielraum / Optionen. Stefan Pathos und Gewicht… Ich selbst, als Autor, überlege in jeder Szene: Was ist das Schlimmste, Unbequemste, das diese Figur jetzt hören könnte? Was macht das größte Fass auf? Was würde ein Erwachsener, in diesem Gespräch, für sich behalten?
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„Eins wollte ich dir seit Jahren sagen: Du bist ein richtig arroganter Sack!“, kläffte mich mit 15 ein Mathe-Lehrer an. Im Flur, drei Jahre, nachdem er mich zum letzten Mal unterrichtet hatte.
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„Sag nichts. Jedes Mal, wenn du den Mund aufmachst, kommt Scheiße raus“, riet mir mein Vater mit 14.
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„Du findest keine Freundin. Auch nicht mit 18 oder 19…!“, versprach Freund Frank – und war sicher genug, darauf Geld zu verwetten.
Bestimmt ließ ich selbst 100 Sätze fallen, die ebenso verletzend waren – und wäre „Zimmer voller Freunde“ ein Aufmarsch möglichst schlimmer Stimmen, Fehlverhalten, Machtspiele, Respektlosigkeiten, hätte ich Gesprächs- und Streitkultur von „Family Guy“ oder „Hausmeister Krause“ analysiert – nicht „Ugly Betty“: härter, hässlicher, gehässiger geht immer.
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„Ugly Betty“ aber hat mir beigebracht…
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…mit möglichst klugem, präzisem Sticheln / Streiten Figuren (und ihre Unterschiede) möglichst dynamisch, klug, präzise szenisch auszustellen.
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…dass solche Streits besser werden, je klüger und gerechtfertigter alle Argumente, auf beiden Seiten, sind.
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…dass sich Figuren plump oder dreist verhalten können – ohne, Klischees zu bleiben.
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Eine 42-minütige „Ugly Betty“-Episode braucht Bettys aufgekratzten Idealismus. Bübische Dummheiten von Daniel. Amanda als blondes Gift, Marc als gehässigen Clown, Wilhelmina als Hexe, Drache, Teufel in Prada. Und egal, wie viel Charakterentwicklung / Wachstum meine „Zimmer voller Freunde“-Teenager erfahren – Stefan ist altklug, forsch, verbohrt. Frank drückt leichthin auf jeden Knopf, der ihm begegnet. Antje findet jedes Jahr in jeder Suppe.
Brillant aber, wie „Ugly Betty“ diese „dicken Pinselstriche“ rechtfertigt, immer weiter denkt: Denn Daniel, Wilhelmina, Marc – zeigt sich sehr schnell – könnten auch anders. Sie wissen, was sie tun. Und alle senken die Masken – in überraschenden, überraschend plausiblen und oft: ziemlich rührenden / klugen – „Ich weiß schon, was ich tue!“-Momenten, gegen Ende einer Episode: Überzeichnungen, Klischees werden als bewusste Entscheidung gerechtfertigt / erklärt – weil sich diese Leute selbst zeichnen, absichtlich: „Klar bin ich bübisch / eine Hexe / Dummchen an der Rezeption: Das ist ja gerade der Clou…!“
In allen Machtspielen und Urteilen in Bettys Welt wird – passend für eine Serie über die Modebranche – nicht kritisiert, wer jemand IST… sondern stets, wie er sich präsentiert / gibt / inszeniert: Erfolg haben „Betty“-Figuren nicht, weil sie sind – sondern, weil sie sich bewusst (!) VERHALTEN, und wer in Fick-mich-Stiefel oder Jesuslatschen, Nerzmäntel oder „Guadalajara!“-Ponchos schlüpft, darf alle Privilegien nutzen, die mit solcher Kleidung / Auftritten kommen… doch muss alle Konsequenzen – und Kritik der restlichen Figuren – ertragen.
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Die „Betty“-Schlaufe?
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Eine (klischeehafte) Figur A bezichtigt eine (klischeehafte) Figur B der Klischeehaftigkeit.
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B schießt – sehr klug – zurück, trifft wunde Punkte bei A…
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…erklärt / rechtfertigt ihr B-Verhalten überraschend plausibel…
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…und bringt A dazu, neu zu hinterfragen, ob / wie sie ihr A-Verhalten und ihre eigenen A-Klischees instrumentalisiert.
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Künftig sehen Zuschauer – auch bei klischeehaften Auftritten von A oder B – einen Menschen, der sich entschieden hat, so aufzutreten. Und A und B können sich in neuen Streits – auf zwei Ebenen verhandeln: Sie können angreifen, wer sie sind. Und, wer sie scheinen / für wen sie sich zu sein entscheiden.
Braucht eine Szene Hexe, Clown oder Dummchen, liegen diese Archetypen – im „Ugly Betty“-Ensemble – griffbereit. Aber Zuschauer sehen statt der Hexe künftig eine Frau, die sich entschieden hat, Hexe zu sein. Verdoppelte Angriffsfläche. Verdoppelte Verwendungsmöglichkeiten. Neuer Text und neuer Subtext.
Doppelt komplex.
Aber, wenn’s denn sein muss: Immer noch (wunderbar) flach!
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Ankucken – ein Bilderbuch-Beispiel aller Kinffe, die ich beschrieb:
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Stefan Mesch schreibt an “Zimmer voller Freunde”, seinem ersten Roman…
…und – hin und wieder – über Serien und Fernsehen, z.B. hier und hier.
- Poetik / persönlicher Text: „Beverly Hills, 90210“
- Poetik / persönlicher Text: Thomas Wolfe
- Poetik / persönlicher Text: „Dawson’s Creek“
- Poetik / persönlicher Text: „Willkommen im Leben“
- Poetik / persönlicher Text: „Mad Men“
- Poetik / persönlicher Text: „Neon Genesis Evangelion“
- Poetik / persönlicher Text: „Babylon 5“
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