Stefan Mesch schreibt über Literatur und Comics, u.a. bei ZEIT Online, Deutschlandradio Kultur, der Freitag und im Berliner Tagesspiegel. Mehr hier: Link
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20. Rasputin (USA)
Autor: Alexander Grecian, Zeichner: Riley Rossmo
Image Comics, Oktober 2014 bis November 2015.
10 Hefte in zwei Sammelbänden, abgeschlossen.
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Phil Gelatts „Petrograd“ erzählte 2011 das Mordkomplott gegen Rasputin – als melancholischen Agententhriller. Die monatliche „Rasputin“-Serie von Alex Grecian ist ähnlich atmosphärisch, politisch, blutig-existenziell.
Der Mönch und Wunderheiler, charismatisch und monströs, allein zwischen Zar und Klerus. Volk und Armee. Spionen und Revolution. Detailverliebt. Komplex. Viele Zeit-, Erzählebenen und Wendepunkte, toll inszeniert.
Ich bin nicht sicher, ob die Reihe zu früh endete: Nach fünf Heften verlässt Rasputin – unsterblich, aber gescheitert – den Palast, zusammen mit den Zarenkindern Alexei und Anastasia. Was als historisch-biografische Comic-Spielerei begann, wird zum Jahrhundert-Panorama:
Macht, Mord, Magie vom JFK-Attentat bis in die Gegenwart. Oft langsam. Manchmal träge. Und nach 10 Heften: plötzlich vorbei. Schade!
Ein Fantasy-Psychogramm: eigensinnig, gemütvoll, klug menschlich, überraschend.
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19. Alex + Ada (USA)
Autor: Jonathan Luna, Zeichnerin: Sarah Vaughn
Image Comics, November 2013 bis Juni 2015.
15 Hefte in drei Sammelbänden, abgeschlossen.
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2013, in Spike Jonzes Kinofilm „her“, verliebt sich Theodore – einsamer Hasenfuß und Angestellter – in seine digitale Assistentin, das Betriebssystem Samantha. Ein Trottel, eklig fixiert auf eine körperlose künstliche Intelligenz. Die Satire macht Spaß, bleibt aber sehr didaktisch. Ein Film wie zwei Stunden Ethik-Unterricht für Dreizehnjährige.
Auch „Alex + Ada“ zeigt einen recht unsympathischen Single: Alex’ reiche, verwitwete Großmutter hat Spaß am Leben, seit sie sich einen gehorsamen Sex-Androiden ins Haus holte. Also schenkt sie Alex ein eigenes Modell, Ada. Via illegalem Jailbreak wird aus dem Apparat eine (recht bieder-flache) Persönlichkeit: Pinocchio mit Indie-Fransenpony.
Als Liebesgeschichte: gruseliger Stuss. Als Diskussion um Menschlichkeit und Technik: sympathisch, aber zu einfach, seicht. Als creepy Psychogramm eines Verlierers, der seine Projektionsfläche missbraucht: faszinierend! Die klinisch-faden Zeichnungen passen zu den kalten Figuren. Ist das ein kluger, gut gemachter Comic? Ich zweifle.
Doch er wirft tolle Fragen auf, zu Autonomie, Narzissmus, Konsum, Sehnsucht – und Maschinen, die uns „erkennen“.
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18. Dich hatte ich mir anders vorgestellt… (Frankreich)
Deutsch bei Avant, Oktober 2015. Original: Frankreich 2014.
Graphic Novel, 248 Seiten, abgeschlossen.
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Ich liebe Guy Delisles saloppe, autobiografische Graphic Novels: Seit 2000 erzählt er vom Reisen, Älterwerden und seinen Problemen und Versäumnissen als Vater. Fabien Toulmé reiste selbst zehn Jahre um die Welt, heiratete eine Brasilianerin, zog zurück nach Frankreich – und hadert: Denn eine Tochter ist gesund. Die andere hat das Down-Syndrom.
„Dich hatte ich mir anders vorgestellt“ ist der egozentrische, naive, selbstmitleidige und träge Bericht eines Mannes, der wenig über Behinderung weiß: ehrlich und verletzlich – aber an vielen Stellen unbeholfen bis dumm. Im selben Stil schrieb Nobelpreisträger Kenzaburo Oe 1964 in „Eine persönliche Erfahrung“ über Wut, Enttäuschung, Ekel und Hilflosigkeit als Vater eines geistig behinderten Sohnes.
Ich mag, wie angreifbar sich diese Bücher machen, wie unsympathisch und überfordert Toulmé erzählt. Ein Comic für Menschen, die noch kaum etwas über Behinderungen wissen. Die aller-allerersten Schritte – und Fehltritte.
Nicht clever. Nicht „empowernd“. Aber: schlicht, ehrlich, überfordert, lesenswert.
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17. Silk (USA)
Marvel Comics, seit Februar 2015 (aktuell kurze Pause).
7+ Hefte / bisher ein Sammelband, wird fortgesetzt.
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Die selbe radioaktive Spinne, die vor 13 Jahren Peter Parker biss, infizierte auch Cindy Moon – eine Grundschülerin. Um sie vor Angriffen des Spider-Man-Gegners Morlun zu schützen, wächst Cindy allein in einem Bunker auf. 2014, im „Spider-Man“-Crossover „Spider-Verse“, wird sie entdeckt, befreit… und versucht, ihr altes Leben aufzunehmen:
Eine forsche junge Frau in New York – Praktikantin beim Daily Bugle und mutige, unerfahren-enthusiastische Nachwuchs-Heldin. Kein „Supergirl“-, kein „Batgirl“-, kein „Teen Titans“-, „Young Avengers“- oder „Spider-Gwen“-Comic aus den letzten Jahren ist so einladend, schlicht, einsteigerfreundlich, sympathisch. Fans der „Supergirl“-Serie? Fans von Batgirl Stephanie Brown? Unbedingt anlesen!
Geradlinig, emotional, selbstbewusst: eine Young-Adult-Heldin fürs breite Publikum.
[„Spider-Verse“ habe ich nicht gelesen. Aber der Crossover-Band „Spider-Woman: Spider-Verse“ ist eine tolle, schwungvolle Einführung ins aktuelle Ensemble rund um Peter Parker und andere Spinnen-Figuren: Ich las „Silk“, weil ich Cindy in „Spider-Woman“ sehr mochte.]
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16. She-Hulk (USA)
Marvel Comics, Februar 2014 bis Februar 2015.
12 Hefte / zwei Sammelbände, abgeschlossen.
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Marvel-Superhelden sind oft vor allem für ihre Abenteuer im Team berühmt: Nur wenige Avengers, fast keiner der X-Men hat eine eigene monatliche Solo-Comicreihe. 2012 erzählte ein schmissiger, eleganter „Hawkeye“-Comic, wie die beiden Bogenschützen Clint Barton und Kate Bishop leben, wenn sie nicht gerade mit den Avengers die Welt retten. Die Reihe wurde zum Überraschungshit – und seitdem gibt es immer wieder neue, oft schrullige Solo-Experimente.
She-Hulk Jennifer Waters ist zu laut, zu forsch, zu grün, zu wild – und fliegt aus ihrer Großkanzlei. Sie eröffnet ein eigenes Büro, trifft in verschiedenen Verhandlungen und Kämpfen auf Daredevil, Captain America, Ant-Man und Doctor Doom. Autor Charles Soule hat selbst als Rechtsanwalt gearbeitet. Eine selbstbewusste, humorvolle, recht erwachsene Serie, nach 12 Heften eingestellt.
Leichte, smarte Unterhaltung – abseits vom Einheitsbrei.
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15. Ms. Marvel (USA)
Marvel Comics, seit Februar 2014. Deutsch bei Panini.
19+ Hefte und einige Gastauftritte / drei Sammelbände, wird fortgesetzt.
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Believe the Hype! Den ersten Band „Ms. Marvel“ würde ich am liebsten jedem Menschen von 10 bis 15 schenken – oder… bis 45. Ein All-Ages-Comic, charmant, atmosphärisch, optimistisch und rasant wie „Harry Potter“.
Band 2 hatte hanebüchene Konflikte und viel (leeres, dummes) Gerede über die angeblichen Besonderheiten der Generation Y. Und mit Band 3 tauchen immer kompliziertere Marvel-Crossover und -Bezüge auf. Auch der Zeichner wechselt ärgerlich oft: Vielleicht verheddert sich die Reihe gerade.
Vorerst aber: Unbedingt lesen! Kamala Khan, Teenager, Online-Nerd und Muslima, lebt in New Jersey. Ihre Eltern sind aus Pakistan eingewandert und haben Angst, dass sie verwestlicht. Als sie bemerkt, dass sie ihren Körper verformen, schrumpfen, verwandeln kann, hilft sie in Schule und Nachbarschaft. Ein humorvoller Comic, bunter und kindlicher als viele andere Marvel-Titel – geschrieben von einer muslimischen Autorin.
Ein zeitgemäßer, sympathischer Bestseller – aber manchmal zu drollig, harmlos.
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14. Twin Spica (Japan)
Autor und Zeichner: Kou Yaginuma
Media Factory, 2001 bis 2009.
90+ monatliche Kapitel, gesammelt in 16 Sammelbänden, abgeschlossen.
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Wieder ein „Harry Potter“-Vergleich: Drei Mädchen und zwei Jungs auf einer gefährlichen Elite-Akademie. Talent und Potenzial, tragische Vorgeschichten. Geheimnisse. Verluste:
Asumis Mutter starb 2010 – als die Lion, das erste Space-Shuttle Japans, auf ihre Heimatstadt stürzte. Trotzdem will Asumi Astronautin werden – unterstützt von ihrem depressiven Vater, und dem Geist eines verglühten Lion-Astronauten.
„Twin Spica“ wirkt simpel und süßlich. Die extrem kleine, kindliche Asumi sieht aus wie Heidi, jede Figur hat ein rührseliges Trauma, kurz dachte ich: für Zehnjährige, höchstens – oder Fans vom „kleinen Prinz“.
Doch Leitmotive, Bildsprache, Psychologie und Stimmungen werden so geschickt verwebt… mit jedem Band (ich kenne sechs von 16) wird diese zarte Coming-of-Age-Geschichte trauriger, ernster, klüger, subtiler.
Mut zum Melodrama: das Kitschig-Schönste, das ich seit Jahren las. Hach!
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13. Darth Vader (USA)
Marvel Comics, seit Februar 2015.
Deutsch nur kapitelweise als Back-up in Paninis monatlichem “Star Wars”-Heft.
14+ Hefte und einige Crossover („Vader Down“) / zwei Sammelbände, wird fortgesetzt.
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Kieron Gillen nervt: Sein „Young Avengers“-Comic hatte pro Heft 15 selbstverliebte Ideen – aber wenig Lust auf Plot und Timing. Seine Musik- und Jugendkultur-Comicreihen „The Wicked + the Divine“ und „Phonogram“ baden in Geplapper, Posen. Eitlem Gewäsch. Auch im offiziellen „Darth Vader“-Comic will Gillen zeigen, wie crazy originell er immer noch ein, zwei, fünf draufsetzt – auf die verbrauchtesten Ideen:
Darth Vader verbündet sich mit einer sexy Weltraum-Archäologin? Die durch Weltraum-Tempel springt wie Indiana Jones? Ihm helfen zwei Killer-Droiden im selben Look wie R2-D2 und C-3PO? Die ständig Menschen töten wollen, beim Foltern und via Flammenwerfer?
Der größte Marvel-“Star Wars“-Comic macht keinen Spaß. Auch viele Spin-Offs haben Schwierigkeiten [Link: Tipps von mir]. Die beiden besten aktuellen Reihen sind – Überraschung – „Kanan: The Last Padawan“ und Gillens „Darth Vader“. Weil Gillen eine recht einfache Geschichte erzählt. Weiterhin gerne parodiert, zitiert, postmodern spielt. Doch weniger überschnappt als sonst:
„Star Wars“ als Korsett, Gerüst, Hundeleine für einen talentierten, aber überdrehten Autor. Dunkler Humor und viel Suspense zwischen Episode IV und V.
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12. Der Traum von Olympia (Deutschland)
Carlsen Comics, Januar 2015. Schon 2014 seitenweise in der FAZ erschienen.
Graphic Novel, 152 Seiten, abgeschlossen.
Reinhard Kleist schreibt und zeichnet einfache Schwarzweiß-Comics, meist historisch-biografisch. Für die FAZ recherchierte er Omars Geschichte: Ihr Leben in Somalia und Äthopien, ihr Training und der Druck, den islamistische Machthaber auf Frauen im Sport ausüben. Beim Versuch, illegal nach Europa zu fliehen, ertrank Omar Mitte 2012, mit 21 Jahren.
Kleists Comic ist so simpel, linear, verständlich – perfekt als Schullektüre und für Menschen, die Scheu vor Comics haben oder von Bildsprache überfordert sind. Ich hoffe, Kleist – der beliebteste und bekannteste deutsche Graphic-Novel-Künstler – kann mehr und hat noch andere Ambitionen.
Doch besonders 2015, fürs Massenpublikum, kann ich mir kein sinnvolleres Buch vorstellen.
(„Gehen, ging, gegangen“ von Jenny Erpenbeck ist klüger, komplexer, besser. Aber eben: kein Comic.)
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11. The October Faction (USA)
Autor: Steve Niles, Zeichner: Damien Worm
IDW Comics, seit Oktober 2014.
12+ Hefte in 2+ Sammelbänden, wird fortgesetzt.
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Der pseudo-schwarze Humor der „Addams Family“ langweilt mich. Was Tim Burton „unkonventionell“ nennt, ödet mich an. Gothic Horror, Emo-Kitsch, die dunkle Romantik, die meisten Schauer-Comics? Nicht mein Fall. Wozu also eine Humor-/Action-Reihe über eine morbide Familie aus Hexen, Dämonenjägern, Monstern in einer klischeehaften Villa?
„The October Faction“ handelt von schlechten Kompromissen, falschen Entscheidungen, von der Schuld und dem Selbstekel, den selbst die patentesten, integersten Eltern auf sich laden im Lauf der Jahre. Sympathisch verkorkste Teenager, eine brutal-pragmatische Mutter und ein Vater, so doppelbödig/abgründig, dass Leser sagen: „Das ist der beste John-Constantine-Comic seit Jahren.“
Ich bin überrascht, wieviel Herz, Hirn, Schwung und emotionale Tiefe sich eine so eitle und stilisierte Reihe bewahrt: Für Fans von „Supernatural“ und guten Seifenopern.
Keine große Kunst – aber mehr Substanz, als die klamaukigen Zeichnungen vermuten lassen.
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10. Southern Bastards (USA)
Image Comics, seit April 2014.
14+ Hefte in mindestens 3 Sammelbänden (ich kenne 2), wird fortgesetzt.
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Als Comic hat „Southern Bastards“ große Schwächen. Im ersten Sammelband geht alles schief. In Band 2 ruht die Handlung. Als Literatur dagegen ist die dunkle, drückende Serie über ein Provinznest in Alabama, dessen korrupter alter Football-Coach alle Fäden und Schicksale in der Hand hält, ein Muss.
Jason Aaron, selbst in den Südstaaten geboren, erzählt keine schnelle Geschichte – sondern baut Räume, Atmosphären, fängt ein Milieu in toller Sprache, Jargon, kantigen Dialogen; zeigt Machtverhältnisse und Abhängigkeiten in einer rassistischen, schreiend armen Kulisse, die ich sonst nur aus Cormac-McCarthy– und Daniel-Woodrell-Thrillern kenne… und auf deren Buchrückseite dann immer steht „mit alttestamentarischer Wucht!“
Dick aufgetragen? Nein: klug stilisiert.
Ein Krimi-Western-Hinterwäldler-Korruptions-Noir-Kleinstadtpsychogramm, zynisch, brutal, aber mit sehr genauem Blick, viel Sprachgefühl und, wichtig: Liebe zu den Figuren.
Kein Spannungsbogen. Unsympathische Welt. Aber grandios geschrieben und inszeniert!
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9. Copperhead (USA)
Image Comics, seit September 2014.
10+ Hefte in 2+ Sammelbänden, wird fortgesetzt.
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Eine mürrische alleinerziehende Mutter wird Sherriff – in Copperhead, einem gefährlichen Außenposten. Ein Comic wie eine billige 90er-Jahre-Serie: schnelle Fälle und simple Figuren wie in „Dr. Quinn – Ärztin aus Leidenschaft“, platte Aliens und Interspezies-Konflikte wie in „Earth 2“, alles im Wildwest-Weltraum-Look von„Marshall Bravestarr“ (1987).
Sherriff Clara Bronson droht, knallt, flucht und flirtet im Saloon. Ihr kleiner Sohn läuft heimlich in die Wüste – und freundet sich mit Ishmael an, einem Killer-Androiden. Die Ureinwohner des Planeten sind Insektenmonster. Und Budroxifinicus, der gutmütige, riesige Hilfssherriff, gehört einer Alien-Rasse an, die erst kürzlich mit der Menschheit Krieg führte.
Viele US-Comics wollen zu viel in zu kurzer Zeit. „Copperhead“ ist sechs Nummern seichter, flacher, geradliniger als Konkurrenz-Reihen wie „Saga“. Aber dafür eben auch: zugänglicher, mitreißender, plausibler. Ein stimmiger, nostalgischer Mainstream-Comic:
Wer vor 20 Jahren simple Serien mochte, wird die schlichten Sammelbände lieben.
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8. Harrow County (USA)
Dark Horse Comics, seit Mai 2015.
8+ Hefte in 2+ Sammelbänden (ich kenne den ersten), wird fortgesetzt.
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Mir sind in Comics tolle Plots, Dialoge, Sprache wichtiger als kunst- und ausdrucksvolle Bilder. Trotzdem machen mich „Narration Boxes“ müde – die Vierecke, in denen schlechte Künstler einen allwissenden Erzähler alles sagen lassen, was sie über Bild und Dialog nicht transportieren können. Je mehr Text in Narration Boxes, desto schlechter ist meist der Comic.
„Harrow County“ habe ich lange übersehen: ein nichtssagendes Cover, zu kindliche Zeichnungen, als dass ich Grusel, Angst empfunden hätte – und der dritte beliebte Hexen-Comic, nachdem mich schon Terry Moores amateurhaftes „Rachel Rising“ und Scott Snyders selbstverliebt-wirres „Wytches“ nicht überzeugten.
Tatsächlich ist „Harrow County“ ein Glücksfall. Wegen der blendend geschriebenen Narration Boxes! Den Zeichnungen, die zur kindlichen, viel zu naiven Hauptfigur passen. Und, weil hier ein klassischer, packender Hexe-gegen-Kleinstadt-Kampf erzählt wird in den 30er Jahren. Mit der – überraschten, nichtsahnenden – Hexe als Heldin.
Einfacher, simmungsvoller Grusel für Leser*innen ab 12. Letzte Woche wurde überdie Verfilmung berichtet.
[Mehr Hexen? Ich freue mich auf „Sabrina“, „Providence“ und „Black Magick“]
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7. Injection (USA, britischer Autor)
Image Comics, Mai bis September 2015.
5 Hefte in einem Sammelband, pausiert gerade. Mindestens 5 weitere Hefte ab 13. Januar 2016.
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Auf den Comic-Bestenlisten vieler Männer, die sich für besonders „hart“ und „alternativ“ halten, stehen seit Jahrzehnten drei Namen: Garth Ennis, Mark Millar undWarren Ellis.
Von Ennis kenne ich nur eine zarte Superman-Geschichte aus „Hitman“. Von Millar das fast disneyhaft süße, nostalgische „Starlight“. Ellis mag ich seit seiner kindisch-wüsten Marvel-Parodie „Nextwave“. Aktuell schreibt er auch „Trees“, einen ambitioniert politischen, aber noch arg verzettelten Comic über die Frage, was aus Krieg, Macht, Ego wird, sobald die Menschheit sicher sein könnte, dass es fortschrittlichere Aliens gibt.
Dass in „Injection“ viel geschossen und gestorben, geflucht, gesoffen und geblutet wird, gehört wahrscheinlich zur Marke „Warren Ellis“. Noch mehr aber geht es ums Altern und Beten, Wandern und Meditieren, Hoffen und Resignieren. Fünf Wissenschaftler haben die Welt verändert, mit einer geheimen „Injektion“. Jetzt, Jahre später, zahlt die Welt den Preis – und ein Dana-Scully-Lookalike über 50 humpelt und flucht durch eine mystische Regierungsverschwörung.
Tolle Figuren, verquaste Esoterik: Bisher überzeugen mich Stil, Atmosphäre, Psychologie. Könnte aber schlimmer Märchen- und Pagan-Kitsch sein.
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6. The Fade Out (USA)
Image Comics, seit August 2014.
11+ Hefte in 2+ Sammelbänden, ist auf 15 Hefte/3 Sammelbände angelegt.
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Charlie Parish ist Drehbuchautor – heimlich: Er macht den Job, für den sein Alkoholikerkumpel Gil bezahlt wird. Bei einer Party stirbt Hauptdarstellerin Valeria Summers. Charlie verliebt sich in Maya Silver – den jungen Star, der sie ersetzen soll. Während viele Szenen neu gedreht, das Drehbuch ständig ausgebessert wird, versucht er, sich an die Mordnacht zu erinnern.
Ich liebe Ed Brubaker seit „Gotham Central“. Seit 15 Jahren erzählt er immer wieder gefeierte historische Noir-Dramen um Detektive und Killer. „Fatale“ brach ich schnell ab: Was als Krimi begann, wurde zu schnell von trashigen Lovecraft-Tentakelnerwürgt.
„The Fade Out“ bleibt den klassischen Farben, Motiven, Tricks des Krimi-Genres treu: Hollywood 1948. Kaputte Stars, Auf-, Absteiger. Bittere Geheimnisse. Verrat und Sünde. Ein glänzend recherchierter, toll gezeichneter Comic zweier Profis.
Nicht bahnbrechend, ambitioniert – aber stimmig, fesselnd, smart, detailverliebt… und wunderbar traurig.
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5. Jupiter’s Legacy / Jupiter’s Circle (USA, britischer Autor)
Image Comics, seit April 2013.
Zweimal fünf Hefte (jeweils 1 Sammelband) sind geplant, die ersten 5 erschienen bis Anfang 2015. Danach, April bis September 2015, folgten 6 Hefte der Prequel-Serie „Jupiter’s Circle“. Hefte 6 bis 10 sind in Arbeit, haben aber noch kein Veröffentlichungsdatum.
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Wer selten Superheldencomics liest, stolpert bald über ein Gedankenspiel: Was, wenn Superman böse wäre? Oder ihn ein anderer Held, militanter und despotischer, töten und ersetzen könnte?
Superman-Fans – wie mir – stellt sich die Frage selten. Weil seit „Death & Return of Superman“ und „Kingdom Come“ vor über 20 Jahren fast jedes Jahr zwei, drei neue Was-wäre-wenn-Geschichten dazu dazu erscheinen: Die meisten bleiben seichte, pubertäre Dystopien – ohne politischen Biss, Erkenntniswert, Dramatik.
„Jupiter’s Legacy“ handelt von einer Gruppe Abenteurer, die 1932 auf einer verlassenen Insel Superkräfte erhielten. Seitdem behüten und gängeln sie die Menschheit. Als ihre Kinder – viele mit eigenen Kräften – rebellieren und die besonnenen Alten beseitigen, entsteht ein Polizei- und Überwachungsstaat.
Millars Geschichte ist simpel – aber wendungsreich, warmherzig, mit viel Liebe zu Figuren, die sich schnell und überraschend entwickeln. Der größte Gewinn aber sind die Zeichnungen von Frank Quitely: hübsch-hässlich-knittrig-simpel-detailverliebtes Gekrakel. Eine Welt, die an allen Rändern ausfranst, Falten wirft. Auch die Rückblenden in die 50er und 60er Jahre in der Ableger-Serie „Jupiter’s Circle“ machen Spaß.
Verbrauchtes Konzept, fesselnde Umsetzung: der schönste Mainstream-Superhelden-Schwanengesang des Jahres.
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4. Saga (USA)
Image Comics, seit März 2012. Deutsch bei Cross Cult.
31+ Hefte in 6+ Sammelbänden, wird fortgesetzt, idealerweise noch mehrere Jahre.
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Brian K. Vaughan ist einer der klügsten Autoren, die ich kenne.
Doch er ist nicht so klug, wie er selbst denkt. Und deshalb sind seine politischen, kritischen, verbissen originellen Comic-Reihen oft nur halb so clever, rebellisch, überraschend, wie sie zu sein glauben (aktuell: der selbstverliebte, recht trashige USA-gegen-Kanada-Kriegscomic „We stand on Guard“).
„Saga“ stieß mich anfangs ab – weil es sich las, als glaube Vaughan wieder, ALLEN alles beweisen zu müssen: eine Space Opera voller Verfolgungsjagden, Verräter, Explosionen. Ein Liebespaar wie aus „Romeo und Julia“, gerade Eltern geworden. Raumschiffe aus Holz, die in Wäldern wachsen. Roboter-Monarchien. Robbenwesen, Spinnenwesen, Geister-Babysitter und ein Zyklop, der Kitschromane schreibt und aussieht wie Ernest Hemingway. Uff.
Unter dem verbissen originellen (aber toll gezeichneten!) postmodernen Mash-Up-Plunder geht es um Krieg und Elternschaft – und Weisheiten über den Kosmos und das Leben, die auch aus einer „Brigitte“-Kolumne stammen könnten.
Dass ich „Saga“ trotz dieser Ticks und Eitelkeiten nach über drei Jahren Mitfiebern und Lesen liebe, bemerkte ich vor drei Monaten: Ich las den offiziellen „Star Wars“-Comic. Und dachte: Was für eine fade, bemühte, abgeschmackte „Saga“-Kopie. [Im Ernst: Link!]
„Saga“ kann Space Opera im 21. Jahrhundert besser.
(…sage ich keine Woche vor der „Star Wars 7“-Premiere. Mal sehen, wer danach führt!)
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3. Sakamichi no Apollon (Japan)
Shogakukan, 2007 bis 2012, keine deutsche Version.
50 monatliche Kapitel, gesammelt in 10 Sammelbänden (der letzte Band: Epilog), abgeschlossen.
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Im August las ich die ersten Seiten von über 150 Mangas – und merkte: Oft brauchen sie viel länger, um Stimmung und Ton zu treffen. Die Eröffnung bleibt meist unbeholfen. Überfrachtet.
Bei „Kids on the Slope“ (englischer Titel der Anime-Adaption) war ich nicht sicher, ob ich in einer schwulen Romanze stecke, einer Pennäler-Komödie im Retro-Look oder mitten im Kampf zweier ungleicher Schüler – ein verzärtelter Nerd, ein bettelarmer Raufbold – um das selbe Mädchen. Alle (männlichen) Figuren spielen in einer Jazzband. Doch Jazz-Exkurse bleiben nebensächlich.
Nein. „Sakamichi no Apollon“ (nur als Fan-Übersetzung online lesbar) ist die Geschichte einer (lebenslangen?) Freundschaft. Die späten 60er Jahre in der japanischen Provinz. Enge Rollenbilder. Armut. Der Mut, von etwas zu träumen. Zu jemandem zu stehen – behutsam inszeniert im simplen Retro-Zeichenstil.
Ein langsames, zärtliches, schlichtes Coming-of-Age – oft witzig und zum Heulen schön. Ohne große Abgründe, Effekte, Pomp.
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2. Lazarus (USA)
Image Comics, seit Juli 2013.
21+ Hefte in 4+ Sammelbänden (ich kenne drei), wird fortgesetzt.
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Greg Rucka ist mein Lieblings-Comicautor – und „Lazarus“ hat, als vielleicht erste Rucka-Reihe, das Potenzial zum Mainstream-Erfolg. Eine TV-Serie ist in Planung:
Im späten 21. Jahrhundert wird die Welt von familiengeführten Konzernen beherrscht: neofeudale Clans, die ein paar Menschen als Leibeigene benutzen und versorgen (Kategorie „Serv“), den Rest aber in Reservaten und als Kleinbauern sterben lassen (Kategorie „Waste“).
Konflikte zwischen Familien werden in ritualisierten Kämpfen ausgetragen: Jeder Clan hat einen „Lazarus“, ein optimiertes (künstliches?) Wesen, das trainiert wurde, um Duelle auszutragen, Gegner einzuschüchtern und diplomatisch zu verhandeln. Die junge Forever ist Tochter und Lazarus des amerikanischen Carlyle-Clans. Während die Familie von allen Seiten attackiert wird, hinterfragt sie ihre Rolle als Waffe.
Rucka und Lark waren schon in „Gotham Central“ großartig. Eine leidenschaftliche, psychologisch stimmige Dystopie mit unvergesslichen Figuren. Harten Entscheidungen. Endlosen Dilemma. Dilemmas? Dilemmata?
Erwachsener als „Hunger Games“. Packender als „The Walking Dead“.
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1. I am a Hero (Japan)
Shogakukan seit 2009, Deutsch bei Carlsen Comics.
200+ Kapitel in 18+ Sammelbänden, wird fortgesetzt.
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Die ersten 200 Seiten sind hart: Ein misogyner, phlegmatischer, recht dumpfer Manga-Assistent steckt im Alltag fest – und redet unsympathischen Stuss. Die nächsten 200 Seiten, Band 2, sind wirr: Passanten beißen sich gegenseitig, Zombies überrennen Tokio, alles bricht zusammen. Noch in Band 3 war mir nicht klar, ob ich einen Zombie-Thriller lese, über eine Zombie-Komödie und -Parodie lachen soll oder nur die Fehler einer verpeilten, passiven, selbstmitleidigen Hauptfigur zählen: eine Art „Girls“ oder „Louie“, ein Woody-Allen-Film… mit Zombies?
„I am a Hero“ ist langsam. Oft hässlich, unsympathisch, grotesk. Alle Figuren sind überfordert und distanziert. Nichts gelingt. Man schwimmt bis zu 800 Seiten am Stück mit neurotischen, fremden Menschen in stillen, bedrohlichen, verwirrenden Szenen – in denen jederzeit alles eskalieren kann.
Fotorealistisch gezeichnet. An vielen Stellen zum Schreien spannend. Ein toller Blick auf Alltagskultur, Moral, Ethos, Sexismus, Twenty- und Thirtysomething-Defekte, Versagensängste in Japan. Ein Freund las die ersten Bände und sagte „Ich sehe da nichts als Trash.“
Ich sehe: eine unerträgliche Figur in einer unerträglichen Geschichte – die mich begeistert, überfordert, angeekelt und beglückt hat wie keine andere Erzählung seit Jahren. Vergleichbar vielleicht mit „Geister“ von Lars von Trier. Aber eben: schleppend, langsam, viel richtungsloser.
Ich bin in Band 16. Ein Ende/Finale ist langsam absehbar (noch zwei, drei Jahre?).
Wenn es auf diesem Niveau endet, ist es ein Meisterwerk.
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Der Trailer zur “I am a Hero”-Verfilmung, 2016:
…zu rasant, zu komödiantisch, zu locker, zu sommerlich:
Der Manga ist stiller und… verzweifelter. Aber die “Soll ich lachen, schreien, weinen?”-Stimmung die selbe. Der Hauptdarsteller passt perfekt.
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