Ein „mutiges“ Verlagsprojekt? „S. – Das Schiff des Theseus“ (J.J. Abrams & Doug Dorst)

Schiff des Theseus, Henri Vogel

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„S.“ hat mich mitgerissen, begeistert, überzeugt.

Im November 2013, für ca. 4 Minuten – als ich in der Buchhandlung stand, durch diesen bibliophilen, liebevoll gestalteten Rätsel-/Mystery-Thriller blätterte. Und sofort 17 Euro zahlte.

Gelesen habe ich seitdem keine 50 Seiten.

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Ich habe oft Mühe/Probleme mit Büchern, die auf mehr als drei verschiedenen Zeit- und Handlungs-Ebenen spielen. Mit vielen Fußnoten, Registern arbeiten. Sich nicht mehr linear lesen lassen. Alle paar Minuten zum Vor- und Zurückblättern zwingen:

  • Mark Z. Danielewskis „House of Leaves“ machte mir kurz Spaß… doch nach über 300 Seiten legte ich es fort: Mir kam es vor wie ein unnötig verschwurbelter, zu träger/langsamer Stephen-King-Roman ohne besonderen Anspruch/Tiefgang.
  • David Foster Wallaces „Infinite Jest“ hatte den Vorteil, dass es – anders als „S.“ und „House of Leaves“ – von Langeweile, Unzufriedenheit, Frustration erzählt. Die langweiligen, frustrierenden Fußnoten passen zum Ton des Romans und zur Psyche der Figuren. Keine spannende oder unterhaltsame Lektüre – aber konsequent.
  • Vladimir Nabokos „Fahles Feuer“ ist voller Fußnoten, Binnen- und Rahmen-Erzählungen… und eins meiner Lieblingsbücher: Ein eitler, inkompetenter Literaturwissenschaftler verschlimmbessert ein langes, klagendes Gedicht eines Nachbarn/Kollegen und stellt dabei absurde Bezüge zu seinem eigenen Leben her. Auch hier hilft, dass nicht Spannung zählt, sondern absurde Parallelen, Brüche, Querverweise.

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Spannungsliteratur nutzt oft zwei parallele Handlungsstränge: Am spannendsten Punkt der A-Handlung wird in den B-Strang gewechselt… und umgekehrt. Zwei Storylines schaukeln sich gegenseitig hoch. „Two Lines, no Waiting“. Drei Stränge brauchen etwas länger, um Schwung aufzunehmen – doch als Fan von Ensemble-Serien und Seifenopern funktioniert auch das für mich oft gut: „Three Lines, some Waiting“.

„S.“ ist Opfer von „Four Lines, all Waiting“: Jede Erzählebene kommt nur häppchenweise, mühsam voran. Mit vielen Cuts und Wechseln bremsen sich die Storylines gegenseitig aus.

Das ist kein Konstruktionsfehler: Man kann auch dabei gute Geschichten erzählen. Doch ich musste während „S.“ zu oft – im Schlechten! – an die zweite, dritte Staffel „Lost“ denken: immer neue Fragen, immer hilflosere, frustrierte Figuren. Ein Schritt vorwärts. Ein Schritt zurück..

Von vielen deutschsprachigen Literaturblogs wurde „S.“ gefeiert. Oft vor allem als Buchkunst/Objekt. Über die Geschichte, Erzählung schrieben nur wenige Plattformen. Viele zeigten sogar NUR die liebevoll gestalteten Seiten, Fußnoten und merkten an: „Gelesen habe ich das Buch noch nicht. Aber ich freue mich so!“

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dorst s konzept

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2013 kaufte ich die US-Ausgabe für 16.95 EUR. Erst zwei Jahre später erscheint das Buch auf Deutsch – für 45 Euro.

In Blogs kommentieren Fans: „Mein Respekt an Autor, Verlag, Lektoren, Übersetzer und Druckereien für den Löwenmut diese Mammutaufgabe in Angriff zu nehmen und mit solcher Bravour zu bewältigen!!! Eine bibiliophile begeisterte Leserin, die sich auf jede weitere Seite freut…“

[leider typisch für das Buch – auch hier lobt jemand, bevor er „S.“ zu Ende las.]

Für diesen „Mut“ wird Kiepenheuer & Witsch seit Monaten gelobt. Mich macht das ratlos: Ist ein zwei Jahre alter US-Bestseller – als Co-Autor: der Regisseur von „Star Wars VII“ – tatsächlich ein verlegerisches Wagnis/Risiko?

„Mutig“ an „S.“ finde ich tatsächlich – ähnlich wie bei „Lost“ – dass es auf Spannung und Mystery setzt, aber sich erlaubt, immer wieder zu bremsen, zu frustrieren, Fragen nicht zu beantworten. Ein Buch, das Mühe, Fleiß, Geduld fordert. Mehr Mühe, Fleiß, Geduld, als Genre/Zielgruppe von Mystery-Thrillern in der Regel tolerieren. Mehr Mühe/Fleiß/Geduld auch, als ich selbst für einen – nicht besonders literarischen, gehaltvollen, originellen – Schwurbel-Thriller aufbringen will.

Anspruchsvoll scheint mir „S.“ dabei nicht.

Ich will keinen der Beteiligten für besonderen „Mut“ loben.

Aber…

Freund Henri Vogel hat das Buch gelesen. Mit Gewinn und Begeisterung.

Und nahm sich Zeit für eine Gastrezension.

Mir ist der „S.-Hype weiterhin suspekt. Doch ich freue mich, wie mir Henri das Buch plausibler/sympathischer macht, seine Lese-Erfahrung präziser in Worte fasst als die vielen „Schöööön! Sooo toll gestaltet!“-Texte der letzten Monate: 

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Henri Vogel Rezension S Abrams Dorst

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Update:

Karla Paul merkt auf Facebook an: „Du bist offiziell Journalist. Dein Posting lässt den Verlag erst einmal schlecht dastehen, geldgierig. Das macht mich ziemlich wütend, weil es damit auch mich angreift – denn ja, solche Projekte sind ein riesiges Wagnis, finanziell und personell. Warum fragst Du nicht erst beim Verlag direkt nach […], bevor Du es so in den Raum stellst?“

Das stimmt.

Auf Bücherwurmloch.de hat Mareike Fallwickl fünf Blogposts über „S.“ veröffentlicht: 1 2 3 4 5

Im Interview erklärt Monika König, Herstellungsleiterin bei Kiepenheuer & Witsch:

„Zum Beispiel habe ich erst ganz zum Ende der Produktionszeit gesehen, dass die Schließe, die außen an der Kassette ist, nicht nur auf beiden zu öffnenden Seiten perforiert ist, sondern dass der abgelöste Teil auch noch gummiert ist und als Sticker verwendet werden kann…“

[…] „Auch jedes Einzelteil musste perfekt der Originalausgabe nachgeahmt werden – dafür mussten wir auf dem gesamten europäischen Markt die richtigen Materialien suchen und finden – dahinter musste immer eine schnelle Lieferbarkeit stehen.“

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Schiff des Theseus 2

4 Kommentare

  1. Hallo Stefan,
    ein schöner und interessanter Beitrag. Rein optisch hat mich „S.“ auch sehr angesprochen. Gekauft habe ich es dennoch nicht, da ich „House of Leaves“ in meinem Regal stehen habe – gelesen habe ich seit drei Jahren bisher nur ein Drittel. Die anfängliche Euphorie ließ schnell nach, als abseits der Randnotizen etc. kein richtiger Lesefluss kommen wollte. Leider. Ich bin bis heute ein wenig traurig darüber – schaue mir das Buch aber dennoch immer gerne im Buchregal an 🙂
    Liebe Grüße,
    Anna

  2. Ich bin gerade am Lesen, mitten in Kapitel 2, aber ich befürchte auch, dass mich der reine inhalt nicht ganz so sehr reizt, wie die editorische leistung. Mal sehn.

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