Queere Literatur – aus Europa und der Welt: Vom 14. bis 16. Juli 2016 veranstaltet das Literarische Colloquium Berlin (LCB, am Wannsee) ein Festival zu Homosexualitäten – “Empfindlichkeiten” (mehr Infos in der Spex und auf der LCB-Website).
Ich werde das Festival als Liveblogger begleiten… und stelle bis Sonntag mehreren Künstler*innen, Autor*innen und interessierten Besuchern kurze Fragen über Queerness, Widerstand und das Potenzial homosexueller Literatur.
Den Anfang machten Katy Derbyshire (Link) und Kristof Magnusson (Link). Jetzt…
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Dr. Angela Steidele, Germanstin, Historikerin, Sachbuch- und Romanautorin und, beim Festival “Empfindlichkeiten”:
- Freitag, 15. Juli, 11 Uhr auf dem Podium „Maske“, mit Ahmet Sami Özbudak (Istanbul), Hilary McCollum (Donegal), Thomas Meinecke (Eurasburg), Robert Gillett (London); Moderation: Franziska Bergmann
- danach, ab 17 Uhr: mit einer literarischen Kurzlesung auf der Gartenbühne
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Angela Steidele wurde 1968 in Hamburg geboren. Sie studierte in Hildesheim und promovierte 2002 in Siegen. 2004 erschien das Sachbuch „In Männerkleidern“ [unten hier im Blogpost: mehr!], 2011 „Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer und Sybille Mertens“, 2015 ihr erster Roman, „Rosenstengel“ (…über den historischen Fall, den sie bereits in „In Männerkleidern“ behandelte). Sie lebt in Köln.
Angela Steidele auf Wikipedia | Angela Steidele bei Perlentaucher
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01_Eine eigene Arbeit, ein Text, Link oder Bild, der/das mich vorstellt und/oder der/das einen Blick wert ist:
Das Titelbild und die Rückseite meines Romans „Rosenstengel“:
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02_Das Queerste, das ich in meiner Kindheit sah oder kannte…
… waren die beiden Mitarbeiterinnen der katholischen Leihbibliothek, die ich sehr mochte und die „nur aus wirtschaftlichen Gründen“ zusammenlebten.
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03_Ein queeres Buch, das mich beeinflusst hat (und wie?)…
„Orlando“ von Virginia Woolf – einer der schönsten und gelungensten und ästhetisch anspruchsvollsten Romane der Weltliteratur. Nicht nur, weil das Buch – auch – eine Liebeserklärung an Woolf’s Geliebte Vita Sackville-West ist. Es ist v. a. ein Buch über das prinzipielle Scheitern jedes Versuchs, eine Biographie zu schreiben. Der Erzähler beginnt als viktorianischer Positivist, der Orlandos Biographie schildern will, und je weiter er in der abenteuerlichen, nicht vermittelbare Lebensgeschichte Orlandos kommmt, desto stäkrer bezweifelt er sein eigenes Vorhaben, bis er schließlich nicht mehr weiter weiß: eine im doppelten Sinne „queere“ Biographie, die die Biographie als Gattung für unmöglich erklärt und gleichzeitig augenzwinkernd viel über Vita Sackville-West – und Virginia Woolf – erzählt. Und mir als Biographin grundsätzlich den Weg weist.
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04_Ein anderes Stück queerer Kultur [andere Kunstformen], das mich beeinflusst hat (und wie?)…
Shakespeare rauf und runter! Alle Musikdramen von Richard Wagner, Händels Opern, Monteverdis „Orfeo“, natürlich Mozart (Così fa tutte!). Strauss‘ „Rosenkavalier‘. Alle früheren Kastratenrollen, die dann im 20. Jahrhundert von Frauen gesungen wurden (um jetzt leider wieder von Countertenören übernommen zu werden – ein queerer Rückschritt!). Als ich mit 12 Jahren den Hollywoodstreifen „Queen Christina“ (1933) mit Greta Garbo in der Hauptrolle sah – war’s um mich geschehen. Ach und nicht zu vergessen: ‚Some like it hot‘ – für die Ewigkeit!
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05_Mich ehrt, wenn meine Arbeiten in einer Buchhandlung oder Ausstellung neben folgenen Autor*innen stehen:
„Steidele, Angela“ macht sich im Alphabet neben „Stein, Gertrude“ sehr gut.
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06_Zu viele Menschen denken bei „Homosexualität“ zuerst oder fast nur an schwule Männer. Ich wünschte, stärker in den Fokus rücken…
Der Satz ist richtig: Wir Lesben haben immer noch gewaltig Nachholbedarf an Sichtbarkeit. Die Verlagerung des Fokus von „schwul“ auf „queer“ verlängert die öffentliche Unsichtbarkeit lesbischer Frauen und kann als moderne Variante von Frauen- und Lesbenfeindlichkeit interpretiert werden.
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07_Ein queerer Moment in Berlin (oder in Deutschland), an den ich mich lange erinnern werde:
Als unsere Kölner Standesbeamtin erklärte: „Aus rechtlichen Gründen muss ich jetzt immer von einer ‚Eingetragenen Lebenspartnerschaft‘ sprechen. Ich habe das hiermit einmal getan – und werde fortan ‚Ehe‘ sagen.“
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08_Folgende Expert*innen, Autor*innen, Aktivisit*innen, folgende Orte, Institutionen und Diskurse haben mein (Selbst-)Verständnis beeinflusst oder geprägt:
Mein Doktorvater Prof. Dr. Wolfgang Popp und sein Forschungsschwerpukt ‚Homosexualität und Literatur‘ an der Uni-GH Siegen. Die in den 1990-er Jahren dort alle zwei Jahre stattfindenden Tagungen waren intellektuelle Höhepunkte und zugleich Ermutigungen, in einem damals noch belächelten Sachgebiet ernsthafte Forschungen zu betreiben, die alle (nicht nur die LGTB-Community) etwas angehen.
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09_Folgende Expert*innen, Autor*innen, Aktivisit*innen, Orte, Institutionen, Themen verdienen mehr Aufmerksamkeit/Zuwendung:
Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Lesben in NRW, Düsseldorf
Frauengeschichtsverein Köln
Centrum Schwule Geschichte Köln
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10_Ein heterosexueller Ally/Verbündeter, dem ich dankbar bin und/oder den ich schätze:
Prof. Dr. Dan Wilson, dessen grundlegendes, kluges und originelles Buch „Goethe Männer Knaben. Ansichten zur ‚Homosexualität‘ (Insel Verlag) ich zusammen mit ihm bearbeiten und übersetzen durfte.
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11_Ein Gast beim „Empfindlichkeiten“-Festival, auf den ich mich besonders freue:
Kristof Magnusson – er betritt den Raum und schon hagelt die erste geistreiche Pointe.
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12_Eine politische oder öffentliche Figur, über die wir dringend mehr reden müssen. Und eine, über die wir weniger reden sollten:
Wir sollten viel weniger über die ganze AfD reden – die boykottieren die Medien, warum boykottieren die Medien sie nicht umgekehrt?
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13_Eine queere Figur, ein queerer Star oder eine queere Geschichte aus dem Mainstream, über deren Popularität/Strahlkraft ich mich freue:
Athene, Dionysos, Apollo, Sappho, Christina von Schweden, Ludwig II. von Bayern, Richard Wagner, Oscar Wilde, Virginia Woolf, Greta Garbo, Marlene Dietrich, Cathérine Deneuve, Miss Piggy, Ernie und Bert, Dick und Doof.
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14_Am Literarischen Colloquium Berlin…
Dem lcb verdanke ich eine ganz entscheidende Ermutigung zur Ausweitung meines Werks. 2011 habe ich mich – damals noch reine Sachbuchautorin – mit 50 Manuskriptseiten (mehr hatte ich nicht) meines ersten Romanversuchs „Rosenstengel“ um den Alfred-Döblin-Preis beworben, den Günter Grass gestiftet hat und den das lcb alle zwei Jahre auslobt. Dabei spielt man dann am Wannsee ein bisschen das Wettlesen von Klagenfurt nach. Aus über 500 Einsendungen wurde mein Manuskript herausgefischt und ich durfte an der Finalrunde (die letzten sechs) teilnehmen. Gewonnen habe ich an dem Tag zwar nicht den Preis, dafür aber, nach vielen Gesprächen dort, den Mut, diesen Roman tatsächlich zu schreiben. Für mich persönlich war das der Durchbruch zu einer neuen Ästhetik, beruflich als Autorin habe ich auf dem Markt eine größere Sichtbarkeit gewonnen (all die überaus verdienstvollen SachbuchautorInnen gehen ja unverdienterweise unter) , und dann gab’s auch noch den Bayerischen Buchpreis 2015. – Es lebe das lcb!
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15_Ein queeres literarisches Event, das ich mir wünsche:
Es gibt eines, dem ich noch viel mehr Beachtung wünsche: Das „Querlesen“ im Musikdorf Ernen in der Schweiz. Es findet jedes Jahr Ende Juli in diesem wunderschönen Dorf im Goms/Wallis statt, also zB. jetzt am 23./24. Juli. „Wir“ übernehmen dann dieses wunderschöne Schweizer Bergdorf, tagsüber wandert man am Aletschgletscher mit Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau, abends hört man ein klassisches Konzert in der Barockkirche oder besucht eine Lesung – geht’s schöner im Sommer?
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16_Ein queeres guilty pleasure in meinem Leben:
Bei meiner Unschuld – ich weiß nicht einmal, was ein ‚queeres guilty pleasure‚ ist! Hört sich allerdings vielversprechend an. Vielleicht kann es mir bei den „Empfindlichkeiten“ eine erklären, zeigen oder gar – beibringen?
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17_Queere Texte handeln oft von Sexualität, Identität/Selbstfindung und Diskriminierung. Andere Themen/Fragen, denen ich in queeren Texten mehr Gewicht wünsche:
Dem würde ich widersprechen. Viele Werke der zu den „Empfindlichkeiten“ anreisenden AutorInnen handeln von weitaus mehr als der eigenen Nabelschau. Und umgekehrt gilt: Welcher Mainstream-Roman funktioniert ohne Liebesgeschichte?
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18_Ein Staat, eine Stadt, Region, Kultur oder eine Szene, aus der ich wichtige queere Impulse erhalte (welche?) oder über die wir mehr sprechen müssen:
Der rheinische Karneval ist tatsächlich subversiver als manche CSD-Demo. Das ganze Köln (nicht nur die Community) ist dann durch und durch queer. Das fängt bei der kölschen Jungfrau an (Teil des Dreigestirns zusammen mit Prinz und Bauer), die immer von einem Mann verkörpert werden muss und hört beim „Stippeföttchetanz“ (Po an Po reiben) der Roten Funken (eine Karnevalsgarde, mit den komischen Uniformen) noch lange nicht auf. Ganz Köln ergibt sich einer Anarchie, die jedwede Normen, Gesetze, Annahmen, was ’normal‘ ist, sprengt – die Kategorie „Geschlecht“ gehört stets zu den allerersten Grenzen, die eingerissen werden. Wer wirklich einmal wissen will, wie eine völlig queere Stadt enthemmt tanzt, säuft und feiert, muss zu Weiberfastnacht mal kommen und bis zur Nubbelverbrennung am Dienstag Abend bleiben. Ich geh übrigens zu Karneval immer als Skilangläuferin – weg von Köln.
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19_Wenn Universitäten und Akademiker auf queere Diskurse (und: Gender-Diskurse) blicken, denke ich…
…dass dann zu viel von „intersektionell“ und „Queerness“ die Rede ist. Auch die ästhetischen Unworte „Performanz“ und „Performativität“ wurden jetzt etwas lang schon durchdekliniert. Es ist tief bedauerlich, dass die akademische Genderforschung null Relevanz für Gesellschaft und Alltagsleben besitzt und praktische Emanzipationsbestrebungen von Frauen, Lesben, Schwulen, Trans* usw. politisch gesehen im Stich lässt.
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20_Ein Mensch (oder, abstrakter: eine Eigenschaft/ein Wesenszug), den ich sehr sexy finde:
Humor. (O, hallo Kristof, schön dich zu sehen!)
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21_Kulturvermittler*innen, Institutionen, Journalist*innen machen, nach meiner Erfahrung, im Umgang mit queerer Kultur manchmal folgenden Fehler:
Zu denken, es hätte nichts mit ihnen selbst zu tun.
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22_Wie/wo/wann profitierte ich künstlerisch von meiner eigenen Queerness? Und steht/stand sie mir je im Weg, war sie je eine Schwierigkeit für mich?
„Women only stir my imagination“. Diesem Satz von Virginia Woolf habe ich nichts hinzuzufügen (sorry, Kristof!). – Als promovierte Literaturwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt „Geschichte der weiblichen Homosexualität“ hatte ich im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts nur geringe Chancen auf eine Stelle im deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb. Nach dem Motto „Krisen neu bewerten“ bin ich heute froh darüber. Als Autorin hatte ich eventuell sogar Vorteile – Mainstreamverlage zB schmücken sich mittlerweile auch ganz gern mit ein paar Exoten.
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23_Eine Video-Kampagne, die queere Jugendliche vom Selbstmord abhalten will, verspricht: „It gets better.“ DOES it get better? Wo und für wen? Wann/wie wurde es für dich besser? Was muss noch anders/besser werden?
Mein Coming-out war wie ein zweites Geborenwerden, eine Befreiung, und ich wünsche allen Jugendlichen von Herzen, Mut zu sich zu haben, egal, wen und wie sie lieben. Und uns Großen wünsche ich den Mut, immer und überall zu zeigen, wen und wie wir lieben. Ob Lehrerinnen an Schulen oder Profi-Fußballer: Wir selber müssen uns selber noch viel selbstverständlicher werden, bevor wir anderen selbstverständlich werden.
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Angela Steidele war 2006 und 2007 Gastdozentin an der Universität Hildesheim. 2005 leitete ich dort ein Kreatives-Schreiben-Tutorium für Erstsemester, die fünf Monate lang über die Uni und ihren Alltag schrieben, für das Gruppenprojekt „Kulturtagebuch – Leben und Schreiben in Hildesheim“.
Hanns-Josef Ortheil lud Angela Steidele ein, in einem Seminar ihr Buch „In Männerkleidern“ vorzustellen.
Einer der Studenten schrieb damals beeindruckt:
„Angela Steidele, eine diplomierte Kulturwissenschaftlerin, wird ihr Buch „In Männerkleidern“ vorstellen. Eine wissenschaftliche Biografie über Catharina Margaretha Linck, bekannt als Anastasius Lagrantinus Rosenstengel. Mehr hat Ortheil letzte Stunde nicht gesagt, und mehr muss man auch gar nicht wissen: Die Story, die sich aus diesen beiden Namen ergibt, ist reizvoll genug. Eine Frau verkleidet sich als Mann, heiratet, dann kommen Inquisition und Gefängnis und das bittere Ende. Das alles aber nicht als pseudo-dokumentarischer Historienroman mit dem „Ich war dabei!“-Gestus, sondern solide belegt an historischen Quellen, verfasst von einer Kuwi-Absolventin. Das klingt so grundlegend widersinnig, das muss ich mir anhören.
[…] Boah, was für eine Frau! Aber warum? Ich glaube, weil sie etwas verkörpert, das Hildesheim oft fehlt: Unaufgeregtheit, Bescheidenheit, Forschergeist, Selbstironie, Nachdenklichkeit… Angela Steidele setzt allen Ringelsocken und Regenbogenstulpen und Cordjacketts und Rock-über-Hose, aller lärmend zur Schau gestellten Individualität und allem penetrant zelebrierten Lesbentum die höfliche Zurückhaltung (ja, das trifft es: Höflich ist diese Zurückhaltung!) eines gefestigten Charakters entgegen. Klar: Hinterher werden manche sagen, Steidele habe bieder gewirkt, wie eine Lehrerin, nicht extravagant genug. Ein kleinakademisches Pflänzchen am Wegesrand. Schwachsinn, sage ich: Diese Frau hat gestrahlt, aus der Ruhe und Selbstgewissheit heraus, etwas zu tun, das ihr nicht nur Spaß macht, sondern ganz nebenbei (oder doch hauptsächlich?) auch schön und gut und wahr ist – eine echte Wissenschaftlerin. Wenn ich es mir recht überlege, möchte ich werden wie Angela Steidele. Zwar möchte ich ständig wie irgend jemand anderes werden, und diese Idole unterscheiden sich auch immer grundlegend, doch heute Abend möchte ich werden wie sie: unaufgeregt, selbstgewiss, klug und menschlich. Gebt mir mehr Adjektive für unspektakuläres Wohlgefallen! Gebt mir mehr Adjektive für schlichte Sympathie!“
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all my 2016 interviews on Queer Literature:
…and, in German:
- Katy Derbyshire (Link)
- Kristof Magnusson (Link)
- Angela Steidele (Link)
- Hans Hütt (Link)
- Martina Minette Dreier (Link)
Kuratoren & Experten am Literarischen Colloquium Berlin:
Queer Literature: “Empfindlichkeiten” Festival 2016:
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