Weihnachten bei den Eltern: Warum ich die Provinz beschimpfe. („Zuhause“, Daniel Schreiber)

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Weihnachten. Die Zeit, in der man in die Heimatorte fährt, wo man auf die Schultern geklopft bekommt.

– Schön, dich auch mal wieder zu sehen
– Kommst ja gar nicht mehr vobei.
– Und den Heimatdialekt kannst du auch nicht mehr.

Und dann, nach einer gewissen Zeit, Vorwürfe. Immer unversteckter, immer expliziter.

– Also, für mich wäre das nichts, in der Großstadt.
– Die ganze Kriminalität, die ganzen Ausländer.
– Ja, das ist ja schön, dass ihr euch Theater leistet. Zahlen wir gern, im Länderfinanzausgleich. Aber irgendjemand muss das Geld halt auch verdienen.
– (Hinter vorgehaltener Hand) Er ist jetzt was Besseres. Er weiß nicht mehr, wo er eigentlich herkommt.

Und dann die Erinnerungen, weswegen man da unbedingt fort wollte.

Die Demütigungen, der Hass. Schwule Sau!, Kommunistendrecksack!

Keine Angst, ich weiß noch, wo ich herkomme. Das vergesse ich euch nicht.

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…schrieb Netzfreund F. neun Tage vor Heiligabend.

„Sehr starke, sehr traurige Zeilen“, kommentierten seine Leser*innen, „Kommt mir bekannt vor“ oder einfach „Oha“ und „Sorry“.

Ich weiß nicht, ob es mir bekannt vorkommen darf oder sollte:

Als Teenager habe ich mehr Mitschüler mit Worten verletzt, als mich verletzten. Ich wurde nie ernsthaft homophob beschimpft oder gemobbt – und mir hat nie jemand gespiegelt, dass ich auf meiner Schule, in meinem Dorf keinen Platz habe. Man fand mich seltsam, affig, abgehoben, arrogant. Manchmal auch einfach langweilig. Ich wusste: So richtig passt das alles nicht, fast immer.

Doch ich sagte viel öfter, lauter, aggressiver „Ich will weg“, „Das reicht nicht“, „Ich fühle mich hier nicht wohl“…

…als dass man mir sagte „Hau ab!“ oder „Du reichst uns nicht!“

Ich dürfte keinen Text posten, wie F. ihn schrieb.

Doch ich überlege fast jeden Tag, sobald mich der Gedanke an mein Dorf, das Leben in der angrenzenden Kleinstadt und das Leben in Heilbronn (…wo drei meiner engsten Freundinnen mittlerweile leben, glücklich) beklemmen oder deprimieren: Darf ich das eng, beklemmend finden – oder bin ich einfach zu stur oder zu blöd, um dort glücklich zu sein? 

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„Je weiter ich von dort, wo ich aufgewachsen war, weg kam, desto freier fühlte ich mich, desto mehr kam ich zu mir selbst, desto besser ging es mir.“

…schreibt Daniel Schreiber in „Zuhause“, einem 120 Seiten langen Essay über Sehnsucht, Geborgenheit, Identität und die Frage, wie man sich alte, bekannte und ganz neue Orte persönlich erschließen, erkämpfen, erarbeiten kann – und, wo solche Arbeit vergebens ist. Schreibers Buch erscheint erst am 20. Februar 2017; Hanser Berlin schickte mir ungefragt ein Leseexemplar. Ausführlich darüber sprechen, als Literaturkritiker, darf ich noch nicht.

Doch eine Stelle geht mir nicht aus dem Kopf:

„Es ist ein Irrtum, die Welt, aus der wir kommen, zu verklären […]. Für viele von uns ist es der schwierigste Ort, den wir in unserem Leben kennen, der Ort, an dem wir die meisten Konflikte austragen, der Ort, an dem wir uns im Leben am meisten reiben – der Ort, in anderen Worten, an dem wir uns am allerfremdesten fühlen.“

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Meine Eltern sind seit fast 20 Jahren geschieden – doch feiern immer noch gemeinsam Heiligabend: Ich bin stolz darauf, wie respektvoll die beiden miteinander umgehen und ich bin recht froh, meinen Vater in diesem Rahmen zu sehen. Am zweiten Weihnachtsfeiertag, jedes Jahr seit 2001, treffen sich meine Schulfreund*innen zum Raclette-Essen: Ich freue mich schon Monate vorher, alle wieder zu sehen, in einem festlichen Rahmen, Buchgeschenke zu verteilen, die neuen Wohnungen zu bewundern und viele Fragen zu stellen, die ich per Mail oder am Telefon nicht stellen kann.

Heiligabend in der Familie und das Freundeskreis-Raclette sind Traditionen, die mir wichtig sind – und Abende, auf die ich auf keinen Fall verzichten will: Einige meiner stärksten oder wertvollsten Erinnerungen stammen aus diesen Abenden, ich liebe die Kontinuität – und weiß, dass ich willkommen bin, erwünscht, und sich fast alle immer sehr freuen, mich zu sehen.

Trotzdem kosten beide Abende – und ihre Vorbereitung, meine Anreise, und die Versuche, Enttäuschungen, Missverständnisse, sehr private, kurze Momente vor, auf und nach diesen Treffen zu verarbeiten – Kraft: Ich bin ab dem 27. Dezember oft tagelang müde. Ich habe nie Lust, Geld, Energie, schon für Silvester neue große Pläne zu machen.

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„Freund G. feiert Weihnachten in einer Großfamilie, tagelang. Das kostet Kraft, aber: „Hinter allem [steht] die Lektion, dass am Ende das große Ganze zählt, nicht jede einzelne Stimmung, nicht jedes einzelne Wort.“ Das Anstrengende daran, in Berlin zu leben und die Zuhause-Freund*innen in Süddeutschland (die meisten: ohne Facebook) nur ca. alle zehn Wochen zu sehen, ist, dass ich solche Treffen oft behandle wie ein… Drive-by-ShootingAllen SCHNELL sagen, wie sehr ich sie mag. Alle Fragen zwischen Tür und Angel stellen. „Ihr seid mir wichtig!“-Signalraketen und -Beteuerungen senden. Und dann wieder, wochenlang: kein Kontakt“

…schrieb ich auf Facebook über diese Raclette-Abende.

Doch es gibt ein zweites, größeres Problem:

Beide Abende sind wichtig. Doch sie sind nicht besonders schön, für mich.

Immer wieder schütteln mich Dinge durch – viel länger und stärker, als sie sollten:

Seit ich zuletzt daheim bei meiner Mutter war, Anfang November, hängte sie zwei große gerahmte Fotos zurück in den Flur. Beide zeigen unsere Familie, wie sie in den 80er Jahren war: Mein Vater stolz, meine Mutter unsicher, abgekämpft, mein Bruder und ich in einem Alter, von dem ich glaube, dass meine Mutter es bei Kindern am schönsten findet: Ich konnte nicht lesen. Familie war mein Lebensmittelpunkt. Ich war noch nicht so… seltsam, affig, abgehoben, arrogant wie später mit 9, mit 15, mit 19.

Vor ein paar Wochen kam mein Partner zu Besuch – hier in Süddeutschland. Das Dorf feierte gerade Kirchweih, und meine Mutter erzählte uns, man könne das schwer vergleichen: eine Handvoll Süßigkeiten- und Verkaufsstände, ein Karussell… in ihrer Kindheit in den 60er Jahren war das unbeschreiblich. „Und Bürsten wurden da verkauft! Wo hätte man die kaufen sollen, den Rest des Jahres? Da haben sich alle drauf gefreut.“

Bürsten, Mama? Der Händler auf der Kirchweih war eure einzige Möglichkeit, Bürsten zu kaufen?

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Mit 17 fuhr meine Mutter täglich nach Heidelberg, auf eine Haushaltungsschule. Ich hing noch in der Kreisstadt. Mit 19 fuhr sie nach Wien und Ungarn, allein. Mit Mitte 20 baute sie ein Haus, mit Ende 20 hatte sie Kinder, ihr Leben hat sich in einer Geschwindigkeit (und: Selbstverständlichkeit) geweitet, beschleunigt, entwickelt… mit der mein Leben nicht mithalten kann.

Ich bin nicht sicher, warum sie mir vor allem die rustikalen und fast… vormodernen Geschichten erzählt: Dass sie als Kind bei jedem Gewitter aufgeweckt wurde und in der Küche kauern sollte, falls ein Blitz einschlägt. Dass sie in den Sommerferien Tabakblätter auf Schnüre fädelte, die dann in Scheunen getrocknet wurden. Das Klo war außerhalb des Wohnhauses, die Wände waren mit Zeitungspapier tapeziert, und eine Meldung betraf Picasso und seine Geliebte. „Wie hätte ich sonst je wissen können, wer Picasso war? Das war etwas ganz Besonderes!“

Mit 18 sah sie mit ihrem Vater „Der letzte Tango in Paris“: Mein Opa wollte mitreden können oder ihr die Gelegenheit geben, danach einen Gesprächspartner zu haben – falls der Film zu viel für sie gewesen wäre. Das sind die Geschichten, die ich gern hören würde. Die Stellen, an denen meine Mutter ihrer Zeit voraus war. Mutiger. Hungriger. Oft aber klingt sie, als hätte ihr gar nichts gefehlt zum großen Glück – als still, duldsam, passiv monatelang auf die Kirchweih zu warten. Und den Bürstenverkäufer.

Neulich drückte sie „gefällt mir“ auf der Facebook-Seite von „Manufactum“.

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Sobald ich in Berlin Berliner treffe, erkläre ich ihnen viel zu schnell, warum ich nicht viel Lebensqualität aus Berlin ziehen kann: zu grau, zu karg, zu wenig Urban Density, keine wintertauglichen Third Spaces, die ich zu Fuß bequem erreichen kann.

Sobald jemand Hildesheim erwähnt – die Stadt, in der ich fünf Jahre lang studierte – will ich erklären, warum ich dort nicht glücklich war: zu wenig queere Menschen und Diversity, die immer gleichen wenigen Studierenden in allen Seminaren, das städtische Leben fast ohne Akademiker, Buchhandlungen, progressive Kultur.

Fünf Jahre lang war ich jeden Winter in Toronto, den Rest der Zeit zurück im Dorf, im leeren Haus meiner toten Großeltern. Ich glaube, im Vergleich zu vielen Leuten, die fort zogen, kann ich meiner Heimatregion (und, sowieso: meinen alten Freunden und meiner Familie) sehr viel abgewinnen: „Du bist noch so oft daheim? Du drehst nicht durch, nach zwei Tagen?“ Ich poste Fotos. Ich lade Leute ein, mich hier im Dorf zu besuchen. Ich schreibe einen Roman über mein elftes Schuljahr – das nirgendwo anders so dicht und wichtig hätte werden können.

Die Menschen hier geben mir sehr viel – sie wohnen nur meist viel zu lange, zermürbende Autofahrten weit weg von meinem eigenen Dorf: Egal, wen ich sehen will – ich sitze dafür 90 Minuten lang allein im Auto; das ich mir vorher von meiner Mutter leihen muss. Das Licht, die viele Natur, die Freude meiner Mutter, sobald ich zu Besuch komme oder länger hier schreibe, arbeite… ich kann hier auftanken.

Ich habe nur zu schnell das Gefühl, dass alle Menschen von hier, sobald sie mich ansehen und sagen „Schön – oder?“ meinen „Eigentlich fehlt hier nichts“ – und deshalb antworte ich ungefragt auf jedes „Schön – oder?“ mit einem „Mir fehlt DAS. Und DAS hat mich als Teenager schon genervt. Und DAS reicht nicht. Und DAS ist in Städten auch viel besser.“

Von 60 Tagen verbringe ich etwa zehn im Dorf. Das sind sieben oder acht Wochen im Jahr.

Es nicht SO schlimm, 50 Tage lang keinen Bahnhof vor der Tür zu haben. Keine S-Bahn. Keine Restaurants, die ich bequem erreichen kann. Keine Buchhandlungen. Keine sichtbaren queeren Menschen, keine postmigrantischen Theaterstücke, keine Cafés voller Laptops.

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Mein Fehler – jedes Jahr, zu Weihnachten:

Dass ich immer genau den Leuten, die freiwillig und gern hier leben, sobald wir uns kurz sehen, zeigen will, warum ich in Toronto und New York glücklicher war. Warum ist mir wichtig, dass ausgerechnet jene Freund*innen, denen das Leben in einer Stadt wie Heilbronn genügt, die nie im Ausland leben wollten, die eine Familie gründen, statt sich immer wieder auf neue Begegnungen und neue Bekanntschaften an neuen Orten zu stürzen, mir sagen: „Ja. Du hast mich überzeugt. Stefan? Ich verstehe, dass du das Leben in Städten schneller, reicher, dynamischer, stimulierender empfindest“?

Ich behandle – ausgerechnet – die Leute, die gern hier leben, wie eine Jury, die mir immer wieder bestätigen soll, dass meine Langeweile, mein Überdruss, mein Augenrollen oft gerechtfertigt sind. Meine städtischen, meine queeren, meine Akademikerfreunde fragen sich, warum ich so oft zurück komme, so viel Zeit im Dorf verbringe: „Was gibt dir das? Mir gäbe das nichts.“ (Denen müsste ich meinen Überdruss gar nicht erklären.)

Meine Provinzfreunde aber fragen: „Was hast du denn dagegen?“ (und: „Nenn uns doch bitte nicht ‚Provinzfreunde‘! Das klingt ja schlimm.“).

Die „Jury“ fühlt sich dann als Angeklagte.

Ich treffe Menschen, auf die ich mich seit Wochen freue – und sage: „Der Fernbus war teuer und schwer zu erreichen. Die Fahrt in Mamas Auto dauerte ewig. Heilbronn gibt mir nichts. All dieses Hin-und-Herfahren zermürbt mich. Meine Facebook-Freunde wissen mehr von mir als ihr, mittlerweile. Das Raclette kostet Kraft. Mir fällt hier kein Café ein, in dem ich gern sitzen würde. Ach… und kommt mich gern in Berlin besuchen. Aber da ist es trostlos, grau, kalt und alles liegt zu weit auseinander.“

Waren für meine Mutter wirklich die biederen 80er Jahre in der Kleinfamilie die schönste Zeit des Lebens? War noch früher die Kirchweih einer der schönsten Tage ihres Jahres? Und wenn: Ist das so schlimm für mich? Warum werde ich wütend, sobald jemand sagt: Struktur ist gut. Nachbarn sind gut. Das Dorf ist groß genug. Alles, was wichtig ist, ist um uns herum ausreichend vorhanden. Eigentlich ist alles da. Das passt schon, im Großen und Ganzen.

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Ich glaube, Weihnachten wird leichter, sobald ich diese Großstadt-Plädoyers, Wegzieh-Rechtfertigungen verschiebe: Fast alle Menschen, mit denen ich regelmäßig spreche, schreibe, befreundet bin, verstehen sofort, dass ich in einem Dorf nicht sonderlich gut aufgehoben bin. Aber die Leute, von denen ich mir am dringendsten wünsche, zu hören „Klar. Geh! Ich glaube nicht, dass du hier glücklich werden könntest“, sind die Leute, die hier glücklich wurden. Oder daran arbeiten. Und sagen: „Hör auf, zu jammern, dass hier alles fehlt. Hier ist so viel. Du müsstest dir nur mehr Mühe geben.“

Der Tag, an dem ich richtig gern hier bin, ist nicht der beste Tag, um allen dauernd ungefragt und wütend zu erklären, warum ich grundsätzlich lieber woanders bin.

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