
seit 7. Mai 2021 läuft Staffel 1 von „All you Need“ gratis in der ARD-Mediathek
als Sendungsgast bei Deutschlandfunk Kultur sprach ich über meine Eindrücke:
Link: Gespräch mit mir, ca. 9 Minuten
Link: kurze Zusammenfassung des Gesprächs (Text nicht von mir)
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Vier schwule Rollen – für Heteros?
Das Casting der ARD-Serie „All you need“ enttäuscht
Oralsex auf der Club-Toilette: in Folge 1, nach wenigen Minuten. „Eine Szene“, klagt der Berliner Tagesspiegel, mit der sich die erste große schwule Serie im deutschen TV „beinahe selbst ein Bein stellt“. Weil schwule Männer nicht dauernd schnellen Sex suchen oder feiern. Mehr und vielfältiger sind und „nicht alle gerne im Berghain durchtanzen“, mahnt Kritiker Markus Ehrenberg. Auch Oliver Kaever im „Spiegel“ stört sich an einer der ersten Szenen der ersten Folge: Hauptfigur Vince bekommt ein Penis-Foto zugeschickt, und revanchiert sich. „Die beschriebene Szene wirkt aber weniger unique als vielmehr plakativ; sie reduziert Schwulsein so stark auf Sexualität wie eine deutsche Komödie anno 1995.“
Umgekehrt aber ist so wichtig, überfällig und befreiend, dass schneller Sex, Penisfotos und eine schwule Sauna zur Lebenswelt der „All you Need“-Figuren gehören! Und dass sympathische, komplexe, oft charismatische Männer in einer ARD-Serie absprechen, wer aktiv und wer passiv ist heute, beim Sex.
Viele Serien werden komplexer, aussagekräftiger, indem sich Hauptfiguren sozial recht ähnlich sind: Vier Single-Frauen in „Sex & the City“ (1998) wollten grundverschiedene Wege zeigen, sich als Single zu behaupten. Die britische Serie „Queer as Folk“ (1999) zeigte drei queere Männer in Manchester, das US-Remake (2000 bis 2005) vier Männer in Pittsburgh. „All you Need“ erinnert besonders an die HBO-Serie „Looking“ (2014) über etwas planlose, schlurfige, sich oft selbst sabotierende queere Männer in San Francisco. Eine „Dramedy“ mit viel Dating, etwas Humor, kaum Melodrama.
Der größte erzählerische Unterschied zu solchen (international schon wieder gestrigen) Serien: „All you Need“ hat fünf sehr kurze Episoden. In insgesamt kaum 120 Minuten haben vier Figuren keine vier Geschichten: Vince ist Schwarz, studiert Medizin und lässt sich mit Ende 20 zum ersten Mal länger auf einen Partner ein, Robbie. Vinces Mitbewohner Levo hatte Sex mit Familienvater Tom – und will jetzt in Toms Vorstadt-Haus mit Pool die Leerstelle füllen, die Toms Ex-Frau hinterließ. Weil sich nur Vince und Levo gut kennen, besteht die kurze Serie zu zwei Dritteln aus Szenen, in denen sich Figuren holprige Kennlern- und „Wie ist das eigentlich bei dir?“-Fragen stellen.
Besonders in Folge 1 bleibt das platt, didaktisch, freudlos und fürs Hetero-Publikum gedacht: „Warum schickt ihr Dick Picks?“, „Warum fahren immer noch so viele auf Britney (Spears) ab?“, „Regt dich (Queerfeindlichkeit) etwa nicht auf? Warum wehrst du dich nicht?“, „Was für ein Leben führen ‚wir Schwulen‘ denn – und warum sollte jemand Berührungsängste damit haben?“, „Was ist so besonders an einer schwulen Sauna?“. Das ist kein Erzählen – sondern eine „Frequently Asked Questions“-Liste, bei der Autor Benjamin Gutsche oft nur Antworten einfallen, die vor fünf Jahren schon auf Sprücheklopf-Sammlungen im Internet langweilten: „Wer von euch ist eigentlich die Frau?“ – „Bei Essstäbchen fragst du doch auch nicht, wer das Messer ist und wer die Gabel.“
Ab Folge 2 wirkt der Plot weniger wie eine Liste, die abgehakt sein will – und die vier Männer sind kantig genug, um sich in einer zweiten Staffel (schon in Arbeit) tiefer zu fragen: Was haben wir gemeinsam? Wollen wir monogam leben? Wem glauben wir, gefallen zu müssen? Zwei US-Serien, die solche Fragen stellten, „Eastsiders“ und „Ein besonderes Leben“, brachen 2019/2021 ab. „All you Need“ hat Potenzial – weil viele Szenen ins Gruselige kippen, die Männer keinen gemeinsamen Nenner finden. „Ich glaube ja“, sagt Vince, „als Schwuler ist man sein ganzes Leben lang damit beschäftigt, herauszufinden, was an der eigenen Identität wahrhaftig ist… und was nur angeeignet, weil man in einer heteronormativen Gesellschaft nicht auffallen will.“
Zum Glück ist undenkbar, dass bei einer Serie über vier Schotten kein Darsteller aus Schottland kommt. Denkbar, doch zum Glück zunehmend in der Kritik: dass bei einer Serie über vier behinderte oder vier trans Figuren keine Hauptollen an trans Menschen oder Menschen mit Behinderung gehen. Für „All You Need“ wurden offen queere Schauspieler zwar angefragt, doch im Casting bei fast 400 Bewerbungen gingen alle vier Hauptrollen an Heteros. Das spricht dafür, wie viele Hetero-Schauspieler sich heute Prestige und Applaus davon erhoffen, schwule Rollen zu spielen: Noch 1995 stieg in „Verbotene Liebe“ ein Schauspieler aus, weil er nicht auf die Rolle des schwulen Gero von Sterneck festgelegt sein wollte.
So gerne ich „All you Need“ empfehle, unterm Strich: Eine Serie ohne Lesben, Bi- oder Asexuelle, genderqueere Figuren etc. ist weniger „queer“ als ausschließlich und ausschließend „schwul“. Und so interessant ein Interview mit Hauptfigur Vince darüber wäre, wie Schwulsein und Schwarzsein seinen Alltag prägen – Vinces Darsteller Benito Bause kann, als Hetero, entscheidend weniger beitragen: Mit vier queeren Darstellern gäbe es jetzt vier öffentliche Sprecher, Ansprechpartner, Gesichter in einer neuen, wichtig sichtbaren Position. Wollen wir zehn, zwanzig Jahre warten – auf die nächste Serien-Chance?
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und, als Bonus: meine Notizen, vorbereitend zur Sendung:
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1) ist das eine „queere Serie“ – oder eine Alltagsserie, in der 4 Hauptfiguren queer sind?
„queer“ ist die Serie leider gar nicht: es geht um 4 schwule Männer. schon die Frage, ob einer vielleicht bisexuell ist, kommt nicht vor. es gibt keine lesbischen Figuren, keine trans Figuren, keine Asexuellen etc.
wenn man grundsätzlich sagt „queer“ ist eine Art, Normen in Frage zu stellen, Erzählmuster, die Dominanzkultur usw. hat „All you Need“ für mich einen wenig „queeren“ Blick._ich halte Folge 1 für ein Ärgernis und eine… kleine Katastrophe, weil 4 Männer, von denen die meisten sich noch nicht gut kennen, Gespräche führen. Oft redet auch eine Hetero-Freundin mit. und weil sich viele Figuren noch neu und fremd sind, stellen sie sich Fragen. aber GENAU die Fragen, von denen ich denke: Das glaubt eine ARD- oder Degeto-Redaktion, sind die Fragen eines Hetero-Publikums.
alles in 33 Minuten – ich habs mir echt notiert, weil ichs nicht fassen konnte:
Warum schickt ihr Dick Picks?
Warum fahen immer noch so viele auf Britney ab?
Regt dich (Queerfeindlichkeit) etwa nicht auf? Warum wehrst du dich nicht?
Was für ein Leben führen „wir Schwulen“ denn – und warum sollte jemand Berührungsängste damit haben?
Was ist so besonders an einer schwulen Sauna?
und dann etwas später noch:
Glaubst du nicht, es git auch unter Schwulen rein platonische Freundschaften?
2) Folge 2 wird dann aber besser?
Ja. Insgesamt ist die ganze Staffel eher wie ein Film, 120 Minuten – und trotz vier Figuren auch deutlich simpler erzählt als z.B. „Sex & the City“ (uff: simpler als DAS), ich würde echt empfehlen, einfach mit Folge 2 einzusteigen.Ich mag, dass die Hauptfigur Schwarz und schwul ist und dass Alltagsrassmus und struktureller Rassismus immer wieder thematisiert werden.Ich mag, dass es *nicht*groß um schwules Leid und schwule Traumata geht – doch dass man trotzdem, wenn sich Figuren z.B. beim Spaziergehen nahe kommen, immer kuckt: Stehen da Leute irgendwo? Kucken sie böse? Kann das gleich eskalieren?
3) Gibt es nicht international schon viele solcher Serien, z.B. auf Netflix?
da gibt es vielen explizit queeren Content – auch immer mehr Dokus und Zeitgemälde. doch ich mag Alltagsserien, gerne auch mit sperrigen Figuren wie in „Girls“ – und DAVON gibt es überraschend wenig.“All you need“ ist im Ton so ähnlich wie „Looking“, eine San-Francisco-Serie über Figuren, die sich fragen „Bin ich jetzt schon erwachsen? Wie will ich leben?“ war toll gefilmt, mir aber etwas zu langweilig.Und dann gibts „Eastsiders“ – das ist geschwätzig, oft etwas billig gefilmt etc., geht aber für mich menschlich mehr in die Tiefe. und „Special – ein besonderes Leben“ – da hat die Hauptfigur eine Spastik, hatte noch nie Sex, es ist alles etwas simpler und komödiantischer, aber hat superviel Charme.“All you need“ kriegt auf jeden Fall eine zweite Staffel, sie haben Themen wie Armut/Bildungsgefälle angeschnitten, Heteronormativität, ich finde, es braucht *wirklich* dringend lesbische und/oder genderqueere Figuren… das ist schon genug Stoff, Raum für eine Serie.
mein „Vorwurf“ an „All you Need“ wäre, dass es bisher noch um gar nichts Tieferes, Zentrales geht: Schwulsein heißt in dieser Serienwelt, dass man ein Mann ist und Männer trifft, mit denen man wenig gemeinsam hat. und jeder dieser Männer kann mit dir schlafen, oder mit allen anderen um dich rum – erzählerisch fühlt sich das bisher an, als würde ein Ball von Figur zu Figur geworfen.
4) Auf Youtube gibt es ein langes Gespräch mit dem Autor und Regisseur der Serie, Benjamin Gutsche. die Drag Queen Bambi Mercury fragt enttäuscht nach: warum werden alle vier Hauptrollen von heterosexuellen Schauspielern gespielt?
ja – das Gespräch sah ich sehr gern und mit großem Gewinn. die Antwort ist, dass sie fürs Casting zwar auch einige queere Schauspieler anfragten – doch weder für den Redakteur, noch für die Casterin oder für Benjamin Gutsche war das DIE Priorität. tatsächlich sind viele schwule Schauspieler abgesrpungen – während es für Heteros 2020 offenbar attraktiv und spannend ist, schwule Rollen zu spielen.
(als Ruby Rose, queere Hauptdarstellerin bei „Batwoman“, nach Staffel 1 die Serie verließ, wurde ein Ersatz für sie gesucht. der Casting-Aufruf endete mit „Performers who are LGBTQ are encouraged to submit.“ am Ende fand sich auch für die queere Figur Ryan Wilder, Batwomans Nachfolgerin in Staffel 2, eine queere Darstellerin.)
ich bin froh, dass Gutsche schwul ist. ich finde auch leider unvermeidlich, dass bei solchen Fragen immer 20 Leute rufen „Ja, aber dürfen jetzt nur noch Mörder einen Mörder darstellen?“
doch das ist gar nicht so sehr mein Problem: bei „Unter Uns“ spielt Lars Steinhöfel eine schwule Figur, Easy – und Steinhöfel gibt als schwuler Mann einfach VIEL politischere, überlegtere, interessantere Antworten, wenn man ihn fragt. genauso Gunnar Solka aus der „Lindenstraße“. bei der Reality-Show „Prince Charming“ hatten die meisten Kandidaten Instagram – und ich finde wichtig, wenn mir eine Serienwelt ans Herz wächst, Interviews lesen zu können, Welten HINTER diesen Figuren lesen zu können.
wären das 4 queere Schauspieler, gäbe es jetzt einfach 4 wichtige oder präsentere queere Stimmen mehr. ich kann Hauptdarsteller Benito Bause fragen „Du bist Schwarz.“ aber ich kann eben nicht, wie bei seiner Figur, fragen: „Du bist Schwarz UND Schwul – wie wirkt das ineinander?“ das ist eine verpasste Chance.