Severance (Apple TV+, Staffel 1: Kritik)

Für Deutschlandfunk sah ich Staffel 1 von „Severance“:

Gespräch mit mir im Link (Audio, 4 Minuten)

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Vergiss den Job(s)!

„Severance“ (Apple TV+) zeigt eine Büro-Hölle im Apple-Design

Endlose Gänge im Keller. Jobs, deren Zweck niemand erklären will. Und eine Belegschaft, die nur hier unten, in der „Severance“-Etage, bei Bewusstsein ist: Ben Stillers neue Thriller-Serie auf Apple TV+ mischt Kafka und Work-Life-Balance, „Mad Men“-Chic und Sartres „Geschlossene Gesellschaft“, absurden Grusel wie bei „Akte X“ und, immerhin: ein wenig Arbeitswelt- und Großkonzern-Kritik.

Helly wurde betäubt auf einem Konferenztisch des Konzerns Lumon abgelegt. Ihr Wortschatz, ihr Humor, ihr Biss und ihr Sachwissen? Abrufbereit. Doch jede Erinnerung daran, woher sie kommt und wie sie bisher lebte? Blockiert. Helly hat einen Chip im Gehirn, der ihre Erinnerungen je nach Umgebung ausblendet oder freischaltet: Nimmt sie den Fahrstuhl nach oben und checkt sie nach Feierabend aus, vergisst sie alles, was im fensterlosen Keller geschah.

Die OP ist freiwillig; und außerhalb der Bürozeiten führt Hellys altes Ich das normale Leben weiter, ohne Erinnerungen an den Job. Hellys Arbeits-Ich dagegen erinnert keinen Schlaf, keine Natur, sitzt mit drei recht frauenfeindlichen Männern an Computerterminals im Retro-Stil und soll Ziffern danach sortieren, ob sie beim Lesen einer Zifferngruppe schaudert, beklemmt ist, Panik kriegt.

Während Arbeits-Helly nur zunehmend an den Strukturen in der Etage verzweifelt, wird ihr feiger, hilfloser Chef Mark – die Hauptfigur, gespielt von Adam Scott – auch durch die Wochenenden, ins Private begleitet. Dort ist Mark Witwer, Ex-Geschichtsprofessor und trinkt zuviel. Arbeits-Helly und Feierabend-Mark sehen die Hirn-OP und den Konzern zwar kritischer und wollen sich gegen Lumons Regeln behaupten (anders als z.B. Arbeits-Mark). Doch Konzern-Angestellte ohne Severance-Chip, vor allem Peggy (Patricia Arquette), können Büro- und Privat-Welten manipulieren, so lange Mark immer nur die Hälfte weiß – je nachdem, wo er sich aufhält.

Bei einer Episodenlänge von 40 bis 60 Minuten bliebe zwar Zeit für Psychologie und große Philosophie: Erschütternd etwa, wie eine Beraterin für Wellness-Coaching sagt, als Person, Persönlichkeit existiere sie leider erst seit 170 Stunden. Angestellte, die kein Vorleben erinnern und die nichts Privates ablenkt, und die darum immer möglichst klein gehalten werden können.

Eine griffige Serie über das Gegängelt-Werden und die Mündigkeit dieser Halb(?)-Menschen – so beklemmend wie der Versuch, in Apples Pads, Phones und Macs etwas anklicken, umstellen, verschieben oder ändern zu wollen, das nicht vorgesehen ist. Das Büro als weißer, elegant-zeitlos-minimalistischer „Walled Garden“. Innen und außen immer nur die allerfeinsten Schriftarten, Kameraschwenks, clean-strenge Farbwelten (Keller: wie 1983 von Dieter Rams designt; und draußen die Pendler-, Schlafsiedlungen: Wintersonne in Pennsylvania, viel tiefbraunes Holz).

„Severance“ spricht Bildsprachen, wie sie viele Apple-Kund*innen, Apple-Fans lieben. Halb-mutig immerhin, wie sehr das Lumon-HQ an die Apple-Zentrale erinnert und wie der Lumon-Gründer als Vordenker, Messias, großer Disruptor und Vater aller kapitalistischen Schönheit und Wahrheit gefeiert wird: Auffällig viele Serien auf Apple TV+ handeln von großen Ausnahme-Übermenschen oder, tragischer, von Leuten, die sich dafür halten.

Sechs „Severance“-Episoden sind von Ben Stiller inszeniert; elegant und ohne Klamauk. Drei mittlere von der jüngeren irischen Regisseurin Aoife McArdle – genauso stimmig. Wendungen, Schocks und rührende Momente sind passabel getaktet – es wird nie langweilig oder hanebüchen, und die geplante zweite Staffel wird entscheidend.

Denn Staffel 1 zeigt „irgendein“ Büro „irgend eines“ bösen Konzerns, aus dem sich Menschen, die draußen „irgendwer“ sein könnten, befreien wollen. Was ganz konkret bei Lumon, in vielen Feierabend-Leben und vor allem bei Patricia Arquettes bisher lachhaft übertriebener Figur im Argen liegt, muss/darf Staffel 2 konkretisieren.

Die recht ähnliche Prestige-Serie „Westworld“ hatte eine überfrachtete, wuchernde, über-ambitionierte Staffel 1, und viel mehr Angriffsflächen – doch eben auch viel mehr Substanz und Kanten. Kann sein, dass „Severance“ daraus lernen will und darum gerade bewusst langsam Grundsteine für tolle Frauenfiguren legt, für eine komplexe schwule Romanze und für Kapitalismuskritik, die über Mister-Burns- und Onkel-Dagobert-Gezwinker reicht:

Alles hier ist gut genug gespielt, geschrieben, getaktet, um ein sehr breites Publikum stimmungsvoll und niedrigschwellig an sehr, sehr große Fragen zu führen. Nach einem Cliffhanger, der den Ball eher flach hält, müssen die zehn nächsten Folgen aber endlich beweisen: Hier wurde genauso gründlich über Welt- und Psycho-Systeme nachgedacht wie über Wandfarben und Bildaufbau. Eine gute Serie also – die sich entscheiden muss, wie viel sie riskiert, um endlich eine bessere Serie zu werden!

„Severance“ ist auf Deutsch und Englisch auf Apple TV+ zu sehen:

Folge 1 und 2 am 18. Februar, danach wöchentlich eine neue Folge.

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Falls man nach der Arbeit nicht gut abschalten kann… 

kann man sich vielleicht bald SELBST abschalten:

Was wäre, wenn jede Erinnerung deiner Arbeit nur innerhalb des Büros erinnert werden kann?

Und du zugleich beim Arbeiten komplett vergisst, wer du außerhalb des Büros bist: nach Feierabend?

„Severance“ heißt: betriebliche Abfindung. aber auch: Entlassung, Trennung oder Abkapselung.

1) Drei Folgen sind von Regisseurin Aoife McArdle – doch ganze sechs von Comedian und Regisseur Ben Stiller. ist das ein Thriller – oder vor allem Comedy?

Es ist durch und durch ein Thriller – aber in einer Atmosphäre wie bei z.B. „Akte X“: Du siehst etwas Absurdes, einen ganz absurden Moment… und das ist unheimlich: ein unheimlich-absurdes Großraumbüro im Keller. Riesengroß, alles in Weiß, ein cleanes, smartes, minimalistisch Apple-strenges Labyrinth im Design-Stil der 80er Jahre. Dort arbeitet Mark seit zwei Jahren. Er weiß nichts über sein Leben außerhalb. Und jetzt wird Mark befördert und soll sein kleines Team bei Laune halten – obwohl alle immer verstörter werden, wütender, hilfloser und merken: Wir sind gefangen.

2) Doch nur das Arbeits-Ich ist gefangen: Jeden Tag zu Feierabend darf Mark in den Aufzug… und vergisst die Unfreiheit.

Ja: Mark ist verwitwet und glaubt, die acht Stunden täglich, an die er nicht an seine tote Frau denken kann, tun ihm gut. Ob sein Arbeits-Ich, sein „Innie“ raus will: Das weiß er gar nicht.

3) Das reicht für neun lange Folgen – und eine zweite Staffel kommt dazu?

Mit 15 (1998) freute ich mich sehr auf „Die Truman Show“ – weil die Idee so gut klang: „Dein Leben wird gefilmt, und du bist der einzige, der das seit fast 30 Jahren nicht weiß.“ Dann war ich im Kino… und der Film war okay, doch viel zu sehr im Tonfall: „Ist das nicht ungeheuerlich?! Er wird GEFILMT. Er ist UNFREI und weiß gar nicht, was hinter den Kulissen steckt.“ Die ersten zwei, drei Stunden „Severance“ glauben, das genügt: dieses Apple-Büro, diese „Mad Men“-Gespräche, und wir sollen denken „Ungeheuerlich. Ein geteiltes Gedächtnis!“ Das reicht mir nicht.

4) Was fehlt der Serie?

Ich dachte bei jeder Frauenfigur „Gleich kommt eine special Folge, in der erklärt wird, warum sie ist, wie sie ist.“ Doch so tief ging es nie: Patricia Arquettes Figur war für mich ein Witz, völlig drüber. Adam Scott, den Hauptdarsteller, mag ich aus anderen Serien – doch es ist schauspielerisch einfach so langweilig, Scott gute vier, fünf Stunden dabei zuzusehen, wie er Sachen nicht weiß oder Sachen nicht ändern kann. Eine Randfigur sagt im Büro mal „Ich arbeite hier leider noch nicht lange: Es gibt mich jetzt, als Person, erst 170 Stunden.“ Das ist SO spannend. SO ungeheuerlich! Ich will da tiefer, psychologisch.

5) Doch das Psychologische kommt trotz der Länge zu kurz? Der Thriller ist wichtiger: die Katz- und Maus-Spiele im Büro-Labyrinth und in der Außenwelt?

Genau. Diese Spiele sind wunderschön gefilmt, alles ist durchdesignt, mir war nie langweilig, das ist eine elegante und griffige und einfache Serie über Unfreiheit und Work-Life-Balance. Doch vor sechs Jahren sah ich „Westworld“, über Roboter mit Erinnerungslücken, die selben Fragen über Bewusstsein und Benutzbarkeit… und das war so vollgestopft, so ein Durcheinander, wollte so viel auf einmal… An „Westworld“ denke ich einmal pro Woche: weil es mich intellektuell und menschlich packte. „Severance“ aber muss erst noch rein, ins Menschliche, muss noch VIEL tiefer in die Arbeits- und Kapitalismuskritik, und in die Figuren. Bisher ist es schön gefilmt, dekoriert – doch statt mich zu erschüttern, zeigt es zu selbstverliebt: „Schaut nur – ist DAS nicht erschütternd?“

Das wird dann wieder wie „Die Truman Show“: dass ich nicht 25 Jahre lang denke „Oha, das beschäftigt mich“, sondern „So eine gute Idee! Warum beschäftigt mich das trotzdem noch viel zu wenig alles: die Gespräche, die Tragik, die Systemkritik?“

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Apple TV+ streamt seit zwei Jahren (November 2019) Serien… und ich finde (bis aufs etwas hemdsärmelige „Ted Lasso“ vielleicht, den größten Erfolg bisher), Apple-Serien sehen oft aus, wie Apple-Kund*innen sich Apple Stores, Apple-Interfaces, Apple-Genius-Bar-Berater*innen etc. wünschen:

Wer das schnöselige HBO abonniert, interessiert sich oft auch für LIFESTYLE-Eliten: HBO hat auch Serien über Elite-Surfer oder Elite-Skateboarderinnen. Apple dagegen mag Messias-Figuren, Superlativ-Konzerne. Bildwelten für Fans von strengem Design, formal streng, hochwertig fotografiert, nur die allerbesten Schriftarten usw.

„Geschliffene“ Serien – manchmal lächerlich clean, glatt, starr.

„Severance“ ist genau das: bekannte Stars (Patricia Arquette, Christopher Walken, John Turtorro: alle eher unterfordert) in einer Bildwelt (Büro) und einer zweiten Bildwelt (Februar/Schnee in sehr reichen Vorstädten), bei deren strenger Gestaltung jedes Detail sitzt und die – streng und etwas leblos – über ein strenges, lebloses Büro erzählt, das zunehmend dystopischer scheint…

…aber halt aussieht wie ein Apple-Design-Kosmos im Retro-Stil von ca. 1983.

Eine zweite Staffel ist erzählerisch nötig – weil vieles dürftig/vage bleibt.

Ayn Rand schrieb libertäre Romane über Ausnahme-Industrielle, denen die Welt nie genug dankt, obwohl sie so tolle Fabriken und Verfahren erschufen. Die Videospielreihe „Bioshock“ macht sich über solche Kirche-trifft-Kapitalismus-„Der Fabrikant ist wie GOTT“-Chefs lustig. Wer fragt, inwiefern „Severance“ eine Satire ist oder „kapitalismuskritisch“: leider nur in diesem Stil. Der Unternehmensgründer Kier Egan (19. Jahrhundert) wird verehrt wie ein Gott.

In die Tiefe geht das nicht, und etwas Beißendes, richtig Kluges über moderne Arbeitswelten kriegt hier keinen Platz. Wir merken nur als Publikum nach und nach: Auch außerhalb des dystopischen Büros spielt „Severance“ in einer extrem kapitalistischen US-Gegenwart/Parallelwelt. Bisher zeigt sich das aber immer nur kurz via Kier-Egan-„Gebeten“, Schreinen usw., die mich (sicher mit Absicht) an die Art erinnern, wie Steve Jobs behandelt und erinnert wurde.

als Kapitalismuskritik mit irgendnem Erkenntniswert oder konkretem Punkt ist das zugleich zu dick/drüber… und viel zu wenig.

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