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Für Deutschlandfunk sah ich Staffel 1 von „Shining Girls“:
Gespräch mit mir im Link (Audio, 6 Minuten)
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Krimi „Shining Girls“ auf Apple TV+
Gute Serien aus schlechten Büchern
Keine Serie braucht einen wasserdichten Plot oder perfekte Spannungsbögen. Keine Serie braucht ein Finale, das jede Frage letztgültig beantwortet: TV-Erfolge der 80er und 90er Jahre setzten auf klare Figuren und ein verlässliches Format. Doch schon in Serien wie „Twin Peaks“ entschied vor allem die Atmosphäre: Intensive Songs, vertraute Farben oder ein markanter Handlungsort versprechen eine eigene Stimmungs- und Gefühlswelt, in die man möglichst tief tauchen darf. Wer „Breaking Bad“ oder „Game of Thrones“, wer „Gilmore Girls“ oder „Grey’s Anatomy“ nicht mag, klagt selten über spezifische Rollen und Momente. Die Grundfarbe, der Grundtonfall und -rhythmus machen aus, wer sich im Publikum angesprochen fühlt – oder außen vor.
Der prachtvolle Krimiserie „Shining Girls“ auf Apple TV+ gehört zu einer ganzen Welle aufwändiger Apple-Produktionen, in denen Stimmung, Farbe, Atmosphäre mehr zählen als der Plot: Toll sieht das aus! Chicago 1992, die Redaktion der Tageszeitung Sun-Times, kurz bevor das Internet alles erleichtert und neu verkompliziert. Archive und Zettelkästen, Schulterpolster und Tonbänder. Kirby (Elisabeth Moss) stand vor ihrem Durchbruch als Journalistin, als sie beim Gassigehen von einem Fremden überfallen und aufgeschlitzt wurde. Als eine Krankenpflegerin tot aufgefunden wird mit ähnlichen Schnitten, riskiert Kirby den faden Job im Zeitungsarchiv und überredet den Journalisten und Alkoholiker Dan Velasquez (Wagner Moura), zu ermitteln: Ist Kirby das einzige überlebende Opfer eines Killers?
Viele Zufälle und Wendungen der achtteiligen Staffel 1 sind fadenscheinig. Doch jede Szene ist besser gespielt und markanter gefilmt als nötig, und jede Folge so originell verschachtelt, so abwechslungsreich und überraschend strukturiert, dass ein Schema-F-Mörder und eine recht konventionelle Krimi-Welt viel packender, hochwertiger wirken als auf dem Papier. Denn „Shining Girls“ erschien schon 2013 als Roman – ein erfolgreicher, doch arg wackelig und wurstig erzählter Fantasy-Thriller der südafrikanischen Autorin Lauren Beukes. Im Buch ist Kirby ein nassforsches Punk-Girl im „Ich bin anders als die anderen Mädchen“-Stil der 90er und verdient sich so Respekt und Liebe des väterlichen Dan. In langen Kapiteln werden starke Frauen vorgestellt, exemplarisch für die Stadtgeschichte Chicagos – nur, um dann aufgeschlitzt zu werden: ein monotoner und trostloser Erzählrhythmus. Die meisten Rezensionen zu Beukes‘ Buch sind voller Ideen, wie man Kirbys Wut, Trauma und Ermittlungen besser hätte erzählen können.
Toll also, dass Apple das neun Jahre später mit viel Budget, Sorgfalt, Talent und Stilwille versucht: einen Bestseller, der fast niemandem so recht gefiel, in eine möglichst intensive Bild- und Stimmungswelt umzubauen. Dafür werden viele der komplexesten Frauen aus Beukes Vorlage gestrichen: zum Beispiel eine trans Frau, die in den 40er Jahren auf dem Jahrmarkt auftritt, doch sich jeder Exotisierung verweigert, und ein feministisches Kollektiv, das in den 70er Jahren bei Schwangerschaftsabbrüchen hilft. Frauenmörder Harper ist in Buch und Serie (hier gespielt von Jamie Bell) die selbe Sorte Aufsteiger, Nach-unten-Treter und Opportunist, und welchen Schaden ein einziger kleiner, rücksichtsloser Mensch anrichtet und wie viel Zukunft er zerstört, zeigt „Shining Girls“ in jeder Szene: Frauen, die leuchten und strahlen, erlöschen.
Für seine Morde reist Harper durch die Zeit – er kann fast im gesamten 20. Jahrhundert jeden Tag so oft wiederholen, so frei vor- und zurückspringen, dass er Hilferufe und Wortwahl seiner Opfer gern auswendig lernt und meist perfekt vorhersagen kann. Wenn Harper Kirbys Gestern ändert, bemerkt das nur Kirby – die plötzlich eine neue Frisur hat oder ein anderes Haustier. Die Serie macht fast nichts aus diesem Zeitreise-Potenzial, weil die Figur Harper selbst fast nichts aus dem Potenzial „Zeitreise“ holt außer, das Potenzial von Frauen zu zerstören. Ein, zwei Requisiten (zum Beispiel blaue Nike-Schuhe im 19. Jahrhundert) liefern eine Basis für eine mögliche Staffel 2. Dort müsste deutlich klüger besprochen werden, wie man via Zeitreisen Hitler tötet oder generell so viele Leben wie möglich rettet (statt wehrlose Frauen auswendig zu lernen und ihre Fluchtwege vorherzusagen). Weder im Buch noch in der Serie ist dieser Zeitreise-Aspekt besonders stimmig. Aber in der Serie zumindest stimmungsvoll – weil Kirby sich selbst und ihrem Alltag seit dem Angriff nicht mehr traut. Ein griffige Metapher für Trauma, Selbstwirksamkeit und verletzte Autonomie.
Falls Hollywood bald noch viel mehr auf Verfilmungen und Adaptionen setzt und falls eine 8-Folgen-Serie zum Standardmodell wird, um schlechte Bücher durch Schauwerte und Sorgfalt zu besseren Serien zu machen, bleibt ein immer größeres Problem: Die Serie beginnt, als Kirby in der Kindheit vom erwachsenen Harper besucht, verstört und beschenkt wird. Sie erhält ein Holzpferd, das in vielen Szenen auf allen möglichen Zeitebenen bedeutungsschwanger herumsteht. Am Ende bedeutet das Pferd fast nichts: Es ist nur da, weil Kirby in Kapitel 1 von Beukes Roman ein „My Little Pony“-Plastikpony erhält – im Jahr 1976. „Die Ponys kamen erst 1983 auf den Markt“ wissen pony-affine Zeitreise-Roman-Fans und die Frage, ob das für Beukes und Kirby später im Buch relevant wird, macht die Lektüre etwas spannender. Doch eine Serie ist weniger denn je ein Kunstwerk, in dem jedes Element seinen Platz und Sinn hat: Das Pferd ist da, weil es anderswo ein Pony gab – das ganz anders benutzt und erzählt wurde. Zur Atmosphäre der hochwertigen, schicken Serie passt dunkles Holz viel besser als Neon-Plastik. Und Atmosphäre entscheidet hier alles. Nicht stimmig. Aber stimmungsvoll!
Shining Girls
drei Episoden ab 29. April 2022 auf Apple TV+
danach fünf weitere Episoden wöchentlich freitags
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Krimis wollen oft bodenständig sein: nah an der Realität – und nah an den Milieus und Orten, an denen sie spielen.
Apple TV+ zeigt ab 29. April eine neue Krimi-Serie über Chicago vom ersten Weltkrieg bis Anfang der 90er Jahre: „Shining Girls“.
Es geht um Stalking – und um Kirby: eine Frau, so verängstigt, dass sie sagt: Sie weiß nicht mehr, was real ist. Ihr Stalker, sagt sie, ist einfach überall.
Die ganze Serie wird getragen von Elisabeth Moss – die Schauspielerin, die sich bei „Mad Men“ im Büro durchbeißen musste, weil alle so sexistisch sind. Dann klärte sie als Ermittlerin Frauenmorde auf in „Top of the Lake“. Seit fünf Jahren spielt sie in „The Handmaids Tale“: Auch da geht es um sexualisierte Gewalt und um Frauen, die Widerstand leisten.
„Shining Girls“ ist jetzt genau das – eine weitere Paraderolle für Moss, doch für ein breites Krimi-Publikum. Moss zeigt uns, was Frauen erdulden müssen; dieses Mal als Archivarin bei einer Zeitung, 1992. Kirby muss sehr auf sich aufpassen – denn überall scheint dieser Mann zu sein, der alles sieht. Vor Jahren hat er sie beim Gassi-Gehen gepackt und aufgeschlitzt. Sie hat das überlebt, doch sein Gesicht nicht gesehen. Und sie hat keine Kraft, um als Journalistin zu arbeiten. „Shining Girls“ zeigt – toll gespielt, toll geschrieben, sehr atmosphärisch gefilmt – wie Trauma hemmt und verunsichert und, wie Kirby Jahre später neu ermittelt gegen den anonymen Stalker.
Was sind denn „Shining Girls“? Ist Kirby so ein „Girl“?
„Shining Girls“ sind Frauen voller Potenzial, die im Leben strahlen. Es gibt eine Roman-Vorlage, schon von 2013: die Autorin Lauren Beukes kommt aus Südafrika, doch recherchierte tolle Frauen, typisch für die Stadtgeschichte von Chicago. Und ihr Buch zeigt dann ca. sieben solcher Frauenrollen von den 20er Jahren bis in die 90er – zum Beispiel eine trans Frau in den 40ern, oder ein feministisches Kollektiv in den 70ern, das anonym bei Schwangerschaftsabbrüchen hilft. die Frauen werden im Buch kurz beschrieben – und dann alle abgemurkst, von einem armseligen Mann der sagt „Ihr überstrahlt mich nicht!“.
Das ist ein trostloser und monotoner Roman, immer die erstbesten Ideen, erstbesten Sätze – wie Stephen King, wenn er mal wieder gar keinen Bock hat. Und Kirby in diesem Buch ist ganz frech und zynisch, ihr Altmänner-Chef verliebt sich in sie, weil: Die flucht und ist ein Punk und lässt sich nicht ins Bockshorn jagen.
Die Serie macht das besser?
Kirby und ihr Trauma sind um Welten besser erzählt in der Serie! Viele der interessanten Frauen und Epochen aus dem schlechten Roman lässt die Serie auch ganz weg. Doch diese Verfilmung ist SO intensiv – und liebevoll gemacht: „Shining Girls“ ist eine echte Mainstream-Empfehlung, weil man acht lange Folgen auf die Mechanismen von Trauma und Gewalt gestoßen wird… aber für das Publikum, das Mainstream-Krimis mag wie „Cold Case“ oder „Frequency“.
Denn der Killer kann durch die Zeit reisen und er benutzt das, um viele Tage zu wiederholen und seine Opfer, ihre Reaktionen einzustudieren. Das klingt jetzt wild verkopft – doch wir sehen keine komplexe, gut erklärte, wasserdichte Zeitreise. Sondern wir erleben mit Kirby einen ganz heutigen Frauenhass.
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Aber der Frauenmörder sah den ersten Weltkrieg: Warum ist sein Frauenhass „aktuell“?
Es gibt bei „Star Trek“ einen Zeit-Kristall. Damit kann Hochstapler und Mörder Harry Mudd zurückspulen, immer von vorn: Harry will die U.S.S. Discovery stehlen, und die v.a. Frauen, die versuchen, ihn zu stoppen, sehen, wie er genervt und gelangweilt tötet und sagt „Boah, das sagt die Alte jedes Mal“ oder „So ist die Frau immer“ – bei jedem Durchgang.
So erlebe ich viele Videospiele: Ich bin der Spieler in einer Welt, ich spule zurück, ich sehe die Frauen in ihren Durchläufen, ich kann sie töten und ich kann alles an ihnen ausprobieren. Das ist EIN Weltbild aus Games – vor dem ich Angst habe. Es ist auch ein Weltbild für Leute, die sagen: „Wer schwächer ist, den schiebe ich hin und her.“ Kirby in der Serie merkt das: Ein Mann verändert ihre Zeitlinie. Er weiß fast immer, was sie gleich tut. In fast jeder Szene schiebt etwas Leute hin und her.
Elisabeth Moss führte bei zwei Folgen auch Regie. Es gibt nur Regisseurinnen…
Und ich würde so gern sagen „Man merkt es: Es ist nicht der übliche Hetero-Voyeurs-Blick, der Male Gaze auf schöne tote Frauen.“ Doch die Serie hat keinen schlau-feministischen Blick und nichts Superneues zu sagen. Es bleibt konventionell.
Doch jede Szene packt mich. Das Zeitreise-System ergibt null Sinn – ist aber so interessant, dass ich mir unbedingt Staffel 2 wünsche. Alle spielen toll. Die Ausstattung, die Kamera, die Lichtstimmung: das ist die dritte Serie von Apple dieses Jahr, von der ich sage: „So toll ist das Konzept nicht – aber die Sorgfalt, das Herzblut, der detailverliebte Aufwand?“
Wir haben hier: schlampig erzählte Zeitreisen und die Versatzstücke eines 08/15-Thrillers. Doch wo ich beim Roman denke „Bäh – wie naheliegend. Was für ein flacher Dialog. Was für ein einfallsloses Requisit“ denke ich bei Apple-Serien gerade „Das Requist, der Dialog ist doppelt so gut wie nötig.“
Und das ist sehenswert: wie aus Romanen, die man sich sparen kann, eine intensive Serie wird – nur, weil Geld da ist und alle deutlich mehr investieren und nachdenken und schönere Bilder finden als nötig. „Shining Girls“ ist wie ein Werbespot für die Kunstform: kurze, gute Serie.
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Elisabeth Moss ist bei Scientology und wirbt dafür, dass wir die Scientology-Sekte als Religion akzeptieren. Ich wünsche so einem Appell so wenig Gehör und Einfluss wie möglich.
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