The Girl from Plainville (Kritik. CN: Suizid)

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Für Deutschlandfunk sah ich „The Girl from Plainville“ (2022)

Gespräch mit mir im Link (Audio, 6 Minuten)

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True-Crime-Serie „The Girl from Plainville“

Via SMS zum Suizid überredet

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Bekannte Kriminalfälle werden immer öfter als teure, halb-fiktive Drama-Serie noch einmal neu erzählt: Aus realen Opfern und Angeklagten werden Figuren, gespielt von Stars wie Renée Zellwegger und Colin Firth. Michelle Carter war bis 2020 in Haft, weil sie einen Online-Freund wochenlang zum Suizid drängte und während der Durchführung mit ihm telefonierte. Die achtteilige Serie „The Girl from Plainville“ stützt sich auf 60.000 Facebook-Nachrichten und SMS, die Carter und der Verstorbene, Conrad Roy III, von 2012 bis 2014 wechselten. Eine langsame, traurige Serie über Einsamkeit, Dazugehören und verdrängte Wut.

Plainville liegt bei Boston – und weil „Plain“ für „Ebene“ oder „Plateau“ stehen kann, doch auch für „schlicht“ und „schmucklos“, steht sofort in Frage, ob die Serie von Allerwelts-Menschen erzählen will oder von Ausnahmen und Extremen. Ob sich Michelle, Fan der Musical-Serie „Glee“, als All-American Girl sieht, als tragische Ausnahme-Figur oder als gewöhnliches Opfer von Einsamkeit und Mobbing. Und, mit wie viel Häme die acht Folgen in Traumsequenzen und Musical-Einlagen, bösen Tagträumen und sehr viel schmerzhaftem Erwachen Michelle immer wieder spiegeln wollen: „Rede dir nichts ein, Mädchen. Du bist traurig stinknormal.“

Im Februar 2012 besucht Michelles Familie eine Großmutter in Florida. Eine Bekannte dort wird selbst gerade vom Sohn und den Enkelkindern besucht: Michelle (15) und Conrad (16) fahren auf Leih-Fahrrädern an den Strand und tauschen Handynummern aus. Bald sieht Michelle in Conrad einen „Boyfriend“ und die große Liebe – doch obwohl sie nur ca. 40 Meilen voneinander entfernt leben, sehen sie sich in zwei Jahren höchstens vier, fünf Mal. In stillen, meist quälend leeren Szenen zeigt die Serie, wie Conrad einen ersten Suizidversuch macht, mit sozialen Ängsten kämpft und für Michelle, die eine Essstörung hat und selbst in Therapie geht, zur einzigen Bezugsperson wird. Eine zweite Zeitebene zeigt, wie Michelle nach Conrads Suizid aufblüht und im Mittelpunkt steht – bis Conrads geschiedene Mutter (gespielt von Chloë Sevigny) misstrauisch wird.

Conrad (Colton Ryan, 27) leidet zu sehr im Stillen und ist oft auch zu misogyn, um Michelle eine Stütze zu sein. Michelle (Elle Fanning, 24) verliebt sich in ein Mädchen aus ihrem Softball-Team, doch wird zurückgewiesen und kann auch in der Schule keine Freundschaft knüpfen. Erst, als sie sagt, dass ihre suizidale große Liebe Conrad verschwunden ist und vermisst wird, sind Klassenkameradinnen für sie da: Doch Conrad ist zu dieser Zeit noch am Leben – erst Tage später will er sich auf dem Parkplatz eines Supermarkts im Auto mit Kohlenmonoxid vergiften. Als er das Auto verlässt und Michelle anruft, drängt sie ihn, wieder einzusteigen.

„The Girl from Plainville“ inszeniert den Archetyp und das Klischee „weiße, reiche, normschöne, unglückliche US-Teenagerin“ nicht ohne den üblichen satirischen Überdruss: Michelle singt immer wieder Songs aus „Glee“, einmal auch als geschmacklosen Musical-Tagtraum. Ein anderer Traum zeigt, wie der Chor von Michelles wütender kleiner Schwester um Michelle kreist, ihr das Lied „Teenage Dirtbag“ widmet und entgegen-schmettert. Die Serie „Glee“ wollte ab 2009 selbst irgend eine feministische, wichtige Aussage treffen über gefallsüchtige, unsichere Mädchen – doch verlor sich in Häme und Satire: Eine der Hauptfiguren, Rachel Berry, tut alles, um im Rampenlicht zu stehen. Gespielt wird Rachel von Lea Michele: einer Schauspielerin, der man immer wieder Mobbing, Gefallsucht und Egozentrik vorwirft. Cory Monteith, der Partner der Schauspielerin, starb im Juli 2013 an einer Überdosis. In „Glee“ starb darum auch seine Rolle, Quarterback Finn.

In realen, nicht in der Serie enthaltenen Interviews weist Conrads Mutter darauf hin, dass Michelle Carter kurz vor dem Jahrestag des Todes von Cory Monteith immer drängender wurde: Monteith starb am 13. Juli 2013. Conrad starb am 13. Juli 2014, und immer wieder zitiert Michelle (im echten Leben und in der Serie) in Gesprächen, Chats und Facebook-Posts die trauernde Figur Rachel und die trauernde Schauspielerin Lea. So steht „The Girl from Plainville“ als vorläufiges Ende von zwei traurigen Ketten.

Kette 1 ist eine Verwertungskette: Ein Kriminalfall schlägt Wellen. Journalist*innen wie Jesse Barron im US-Magazin Esquire berichten darüber – und kommen darum auch in einer HBO-Dokumentation zu Wort: dem sehenswerten Zweiteiler „I love you, now die“. Jetzt ist Barron Produzent der Serie „The Girl from Plainville“ und baut süffisante, fiktive Traum-Szenen um reale Menschen.

Kette 2 besteht aus jenen gefallsüchtigen, unsicheren jungen Frauen, die in den USA halb empathisch, halb „kritisch“ vorgeführt werden. Zuerst die eitle Rachel, ein misslungenes Klischee aus „Glee“. Dann Lea Michele und Michelle Carter – vor allem in Boulevardzeitungen zerpflückt und beschimpft. Und jetzt die Serien-Figur Michelle – die auch wieder kaum Empathie weckt. Sondern das alte, frauenfeindliche Bild bestärkt: „Nervige Teenager-Mädchen nerven.“ So wird „The Girl from Plainville“ nach zwei, drei soliden Episoden schnell zur Serie, die gelangweilt wirkt von ihrer Hauptfigur. Eine übergriffige Serie über echte, allein gelassene Menschen, die niemandem hilft.

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„The Girl from Plainville“. 8 Episoden, je ca. 45 Minuten.

Alle Episoden ab 10. Juli 2022 auf Starzplay, dem Abo-Portal von Amazon Prime.

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Die Serie handelt vom Suizid eines 18jährigen.

„The Girl from Plainville“ fragt, ob man Leute zum Tod ermuntern und überreden kann. Und, ob das strafbar ist: Conrad und Michelle leben bei Boston, so… 40 Meilen auseinander. Beide haben Omas in Florida – Michelle lernt Conrad dort im Urlaub kennen 2012. Sie schreiben zwei Jahre SMS. Beide haben Angststörungen, nehmen Medikamente, und als Conrad sterben will, wird er von Michelle dazu… gedrängt, ermutigt, überredet.

Das Überreden findet vor allem in SMS statt. Obwohl die zwei so nah beieinander wohnen, sehen sie sich kaum.

Genau – Michelle ist 17, Michelle sagt „Das ist mein Boyfriend: Conrad ist DIE Liebe meines Lebens!“, 60.000 Nachrichten schicken sie in zwei Jahren. Die Serie hat also sehr viel reales Material, das wortwörtlich ins Drehbuch fließt. Und: Ich bin dankbar, dass man einen Fehler vermeidet: „The Girl from Plainville“ ist keine Satire und nicht technik-feindlich. Wer also denkt „Die Generation Z hängt nur am Handy – das kann doch keine Liebe sein, SMS sind keine echte Nähe…“ Nein. Die Serie sagt: Wer depressiv ist, der soll bitte reden, sich öffnen, MUSS um Hilfe fragen, nur so kann es besser werden. Es geht nicht groß-skandalisierend darum, wie leichtfertig Leute oft miteinander umgehen, wenn sie sich fast nur online kennen.

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Michelle Carter wurde schuldig gesprochen und saß im Gefängnis. Ist die Serie aus Perspektive der Täterin?

Ich finde, die Serie ist aus der Perspektive von Frauen. Ich würde nicht sagen: Das ist ein feministischer Blick. Doch Conrad bleibt recht fremd, weit weg. Es geht ein wenig um seine geschiedene Mutter. Im Zentrum aber ist wirklich: „das Girl“, Michelle, intensiv gespielt von Elle Fanning. Sie hat keine Freundinnen und sie benutzt Conrads Tod für Mitleid und für Likes. Sie hat eine Essstörung.

Die Serie beginnt recht stark. Dann wird jede Folge schlaffer. Ausgefranster. Aber ich verstehe, dass man nach fünf, sechs traurigen Stunden *vielleicht* auch Michelles Wut versteht, wenn sie täglich liest: „Du, ich will sterben. Sag das keinem weiter, Michelle: Sonst sind wir fertig!“ Da kommt am Ende keine große Wendung – nur diese depressive 17jährige, die immer wütender zurück schreibt „Ja, dann geh halt. Mach. Warum lebst du weiter? Du hast gesagt, du willst gehen.“

Vor Gericht stand Michelle aber, weil Conrad sich mit Abgasen im Auto töten wollte. Er stieg dann aus, rief Michelle an und sie sagte: „Steig zurück ins Auto.“

Es gibt auf eine gute HBO-Doku über den Fall: „I love you, now die“.

Doch brauchen wir dazu noch eine Drama-Serie, die alles halb-authentisch, melodramatisch, super-zäh nacherzählt? Mir macht das Angst: Dein Kind stirbt oder deine Schwester begeht ein Verbrechen… und du bist dann eine Figur in einer Serie von Disney oder von Apple? In den 90ern galten solche Filme als Schmuddel: der große TV-Roman, „based on a true story“.

Und: Die Serie „The Staircase“ zum Beispiel zeigt einen Familienvater – die Frau stirbt, die These ist: Er tötet sie, weil sie nicht will, dass er schwule Sex-Dates hat. Michelle Carter schreibt – im echten Leben – eine SMS: Ich bin wohl bisexuell, ich mag ein Mädchen. …und jetzt wird ein Publikum eingeladen, über reale bisexuelle Leute zu spekulieren: „Wir haben die Theorie: Du tötest deinen Hetero-Partner, und in dir brodeln Homo-Gelüste.“ Für mich als Kritiker wird das zugleich aber fast… unangreifbar, weil: Es ist ja alles irgendwie real so passiert.

Die Serie wird also den Tätern und den Opfern nicht gerecht – obwohl so viel Zeit ist?

Junge Frauen sind SO ein Feindbild, auch füreinander. Und: Wir brauchen Serien über die Gewalt und Abwertung, die man mit 17 erfährt. Aber: Michelle ist Fan der Serie „Glee“ – da gibt es Rachel. Rachel hat keine Freunde und will krankhaft ins Rampenlicht. Und weil der Boyfriend von Rachel stirbt wird Conrad ein Jahr später, auf den Tag genau, zum Suizid gedrängt: Weil Michelle diese Serien-Figur liebt und liebt, dass diese Figur einen toten Boyfriend hat.

Es ist so wichtig, in immer neuen Serien zu fragen: Wie werden Teenager-Mädchen überhöht? Und warum lernen sie trotzdem so schnell, sich selbst zu hassen? Doch „The Girl from Plainville“ ist als Serie so schlapp und von oben herab, dass einfach nur wieder neue Leute sich eingeladen fühlen werden, zu sagen: „Bäh, nervige Serien über nervige Mädchen… nerven halt.“ Wirklich: Echt lieber die Doku „I love you, now die“ sehen – als diesen… übergriffigen, spekulativen Kitsch.

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