„Paper Girls“ (Staffel 1, Kritik)

.

Für Deutschlandfunk Kultur sah ich Staffel 1 von „Paper Girls“ (2022)

Gespräch mit mir im Link (Audio, 6 Minuten)

.

Ein typisches USA-Motiv, noch in den 80er Jahren, sind die „Paper-Boys“: Zeitungs-Zusteller, die mit dem Rad durch die Vorstadt ziehen und jede Zeitung beim Fahren an die Tür oder in den Vorgarten werfen.

„Paper Girls“ ist eine neue Science-Fition-Serie auf Amazon Prime:

Sie zeigt vier zwölfjährige Mädchen, die 1988 zweifeln, ob der Job für sie zu gefährlich ist. Dann lernen sie, wie viel sie schaffen können, als Team – auf einer Zeitreise.

.

Der Soundtrack und die Mode erinnern an die erfolgreichste US-Serie auf Netflix, „Stranger Things“

Und wie! Doch „Stranger Things“ ist Horror – und viele Hauptfiguren dort sind Jungs. „Paper Girls“ hat eine ganz andere Stimmung, andere Bilder, ist anders erzählt als diese Nostalgie-Phantastik-Bildwelten der 80er Jahre: „Paper Girls“ ist heller, sehr herzlich, einladend, auch für Zwölfjährige toll.

Folge 1 kam mir noch 08/15 vor – doch es wird schnell richtig gut. Das liegt allein an den Figuren und der Nähe, Intimität, Sorgfalt – denn wir verbringen meist über-lange, ganz ruhige, tiefe Szenen mit diesen vier Mädchen. Tiffany ist Schwarz, liebt Wissenschaft, und als die vier von einem Zeitreise-Modul ins Jahr 2019 gerissen werden, wird sie euphorisch: „Zeitreisen sind möglich? Dann höchste Zeit, dass ich Forscherin werde und sie entdecke!“

Erins Familie kommt aus China. Erin will US-Präsidentin werden und vier Kinder kriegen – und dann steht sie 2019 in ihrem Elternhaus und sieht ihr älteres Ich: mit Mitte 40 hat Erin Depressionen. Sie hat viel Sorge-Arbeit geleistet – doch für die junge Erin heißt das: „Ich habe keine Kinder und keinen Traumjob? Ich habe ja gar nichts erreicht im Leben!“

Die Serie handelt also von Mädchen – die ansehen müssen, was aus ihnen wird.

Das ist der Reiz. Dazu kommen zwei Fraktionen aus der Zukunft: Der „Underground“ will ein totalitäres Regime verhindern, durch Zeitreisen. Die „Old Watch“ sagt: Reisen zerstören das Zeitgefüge – wir töten alle, die sich in der falschen Zeit aufhalten. Die Mädchen aus 1988 sehen ihre Vorstadt bei Cleveland auch 2019 und 1999: Welchen Erwachsenen können sie trauen? Wer wird getötet, weil sie ihn reinziehen? Wessen Erinnerung wird gelöscht? KJ ist Jüdin, aus einer reichen Familie – und ist schockiert, als ihr älteres Ich eine Frau küsst. Mac denkt, sie sei „White Trash“. Sie raucht mit 12 und fragt sich: Welche Zukunft haben Mädchen wie ich?

Der Comic „Paper Girls“ erschien ab 2015 in 30 Heften. Am 10. August erscheint auch eine Gesamtausgabe mit 800 Seiten auf Deutsch bei Cross Cult.

Der Zeichner, Cliff Chiang, liebt Mode, Neonfarben – darum ist „Paper Girls“ ein super-stilsicherer Comic. Der Autor, Brian K. Vaughan, schreibt die beste Comicreihe die ich aktuell kenne: „Saga“ (unbedingt lesen!). Doch „Paper Girls“ ist für ein Publikum, das Schocks mag, Cliffhanger, flapsige und gewitzte Figuren – alles rauscht so durch, rauscht an mir vorbei, sehr effizient und mechanisch. Mir war das zu reißbrettartig und streberhaft: Der Comic erzählt nicht viel übers Mädchen-Sein 1988 oder über Freundschaft oder darüber, wie Frauen zu verschiedenen Zeiten auf sich blicken. Das macht jetzt die Serie – die wird immer langsamer, charakterzentrierter und herzlicher!

Ein guter Grund-Stoff also, der jetzt als Serie verbessert wird?

Ich glaube, wer wasserdichte Zeitreise-Spannung sucht und Figuren, die meist schnurstracks das taktisch Beste tun: Lest den Comic. Die Serie hat sehr billige Effekte – und viel mehr Logik-Lücken. Dazu dauert immer alles riskant lange: Die Figuren klauen zum Beispiel Geld bei einer Hausparty, auf die sie gar nicht eingeladen sind. Sie plündern im Garderoben-Zimmer die Handtaschen – und unterhalten sich dabei ewig. Schlimmer taktischer Fehler! Oder sie verstecken sich vor 10, 12 Soldat*innen: Ihr „Versteck“ ist ein Baucontainer, in dem alle Lichter brennen. Da stehen sie dann zu viert im hellen Fenster und unterhalten sich. Ich kenne so viele Leute, die sagen: „Ab so einem Moment ist eine Serie für mich kaputt. Jetzt ist mir auch egal, ob die Figuren gleich von einem Dino gefressen werden!“

Doch der Serie „Paper Girls“ verzeiht man das – weil sie auch Zwölfjähige anspricht?

Die Serie nimmt Zwölfjährige toll ernst: Romantik zum Beispiel kommt vor (…und Menstruation), doch ihr Körper wird nie sexualisiert. Der Comic belohnt jede Figur, die schnell und taktisch ist. Die Serie aber belohnt Figuren, die emotionale Arbeit machen – in sich reinhören. Empathie zeigen! Eine zweite Staffel wird gerade gedreht. „Paper Girls“ wirkt so billig, das kann drei oder vier Jahre laufen: Ich glaube nicht, dass es viel kostete.

Und es gibt gerade zwar auch andere gute Serien übers Mädchen-Sein. Aber „Cruel Summer“ zum Beispiel, ein intensiver Thriller, fragt: Wieso fühlst du dich mit deinem Körper unwohl? Und in deiner Familie? Und bei deinen Freund*innen? Immer: Unwohlsein. „Paper Girls“ ist viel konstruktiver: „Fühl dich wohl. Gib dir Zeit!“ In jedem Jahrzehnt bisher, in jedem Umfeld und bei jede*r Gegner*in kamen diese Mädchen an, am Ende. Der Comic? Eskaliert. Doch die Serie de-eskaliert. Mir tat sehr gut, dieses konstruktive Miteinander zu sehen. So viele Figuren – die meisten: Frauen und Mädchen – die aufeinander zugehen und sich unterstützen.

.

„Paper Girls“ läuft auf Amazon Prime: 8 Episoden.

Der Comic erscheint bei Cross Cult. 30 Ausgaben in einer Gesamtausgabe für EUR 60 (Softcover) oder EUR 99 (Hardcover).

.

.

1) Die (…bis „Squid Game“ kam, im September 2021) erfolgreichste Netflix-Serie ist „Stranger Things“ (ab 2016) – eine Pastiche von Horror- und Fantasyfilmen der 80er über eine Gruppe v.a. männlicher Zwölfjähriger ab 1983. Weil ich die Filme, deren Atmosphäre „Stranger Things“ aufgreift („E.T.“, „Stand by me: Das Geheimnis eines Sommers“) schon als Kind nicht besonders mochte („Die Goonies“ habe ich nie gesehen, Stephen Kings „Es“ fand ich nur als Buch okay), schaue ich „Stranger Things“ nicht gern. Doch ich verstehe, warum Leute über „Paper Girls“ denken: dasselbe Konzept, nur vom Netflix-Konkurrenten Amazon und mit Mädchen in der Hauptrolle.

(…ist es nicht, weil „Stranger Things“ auf Horror setzt und eine Atmosphäre von damals nachbauen will, während „Paper Girls“ wie nichts aussieht oder rüberkommt, das es damals gab oder hätte geben können – und, weil „Paper Girls“ viel cleaner wirkt, weniger viszeral und körperlich, weniger verschwitzte-Kinder-reißen-in-Großaufnahme-ihre-Augen-auf-vor-Angst. Das finde ich sehr gut.)

.

2) Comic-Autor Brian K. Vaughan schreibt SciFi- und Held*innencomics, die oft Jahre später verfilmt werden. Für die Verfilmung bieten sie sich immer an, weil Vaughan in großen Bildern und mit vielen Twists und Cliffhangern erzählt. Sein Comic „Saga“ ist seit ca. zehn Jahren die beste Comicreihe, die ich kenne; 2021 lief (und floppte) auch die Serien-Version seiner Reihe „Y: the Last Man“. https://de.wikipedia.org/wiki/Y:_The_Last_Man_(Fernsehserie)

Ein Problem seiner Comics ist für mich, dass die Plots, Figuren etc. immer supergenau durchgeplant sind und alles sehr mechanisch „aufgeht“ und „funktioniert“ – doch Szenen emotional oft nicht so stimmig sind, wie er sich das vorstellt. Viele Momente in Vaughans Comics, die berühren und überraschen sollen, sind einfach nicht halb so „awesome“, „epic“ und „deep“, wie er glaubt – und darum haben seine „coolen, sexy Figuren“ oft was Juveniles bis Verzweifeltes. Für den Marvel-Comic „Runaways“ schuf er z.B. interessante Figuren – doch ernst nehmen und richtig deep finden kann ich diese Figuren erst, seit der Comic nicht mehr von ihm selbst geschrieben wird, sondern von der Jugendbuchautorin Rainbow Rowell: die erzählt das einfach besser.

.

3) Vaughans Comic „Paper Girls“ erschien monatlich (mit Pausen) von 2015 bis 2019, ich las die Hefte damals bei Erscheinen und habe die Reihe auch mehrmals empfohlen. Ich mag den Zeichner sehr, Cliff Chiang („Wonder Woman“), weil er viel Gefühl hat für Mode (und: Figurenzeichnung DURCH Mode und Frisuren), für (Neon-)Farbe und für super-ausdrucksstarke und intensive Gesichtsausdrücke. Die Zeitreisen, Wendungen und die Auflösung von „Paper Girls“ haben etwas traurig Mechanisches – streberhaft-effizient: Ich gab der Serie durchgängig vier von fünf Sternen, weil sie als… Action-Puzzle voll flotter Sprüche und flotter Twists gut funktioniert. Emotional aber erreichte mich hier fast nichts, und wer „starke Frauen“ o.ä. in Comics sucht, findet hier v.a. recht reißbretthafte Konstrukte davon, was sich Vaughan unter „starken Frauen“ vorstellt.

Der Comic liegt komplett auf Deutsch vor, in sechs Sammelbänden (à 5 Heften) – doch am 10. August erscheinen alle 30 Hefte nochmal als Softcover (60 Euro) und als Hardcover (99 Euro) als dt. Gesamtausgabe bei Cross Cult.

(…“Paper Girls“ entstand als Comic also vor „Stranger Things“: Weder Plot noch Optik sind eine Reaktion auf die Netflix-Serie. Dass Amazon aber erst nach „Stranger Things“ dachte: „Wir investieren in, wir pushen Paper Girls“, ist offensichtlich.)

.

4) ich sah vorbereitend noch in andere gelobte Serien, die Mädchen-Sein als Hauptthema haben. „The Baby-Sitters Club“ (Netflix) ist lieb, aber *deutlich* kindlicher und mir als Erwachsenem zu schlicht.

„Cruel Summer“ spielt in den 90ern, war letztes Jahr ein großer Hit, ist fantastisch – doch viel dunkler als „Paper Girls“.

.