Aus dem Blogpost „Ein Herz für Kinder!? Oder: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch…“, entwickelte sich ein sehr persönlicher Austausch mit Angela Charlotte Reichel. Gemeinsam haben wir entschieden, unsere Gespräche hier in Fortsetzungen öffentlich zu machen. Ich unterhalte mich mit Charlotte über ihre Erfahrungen als schwer misshandeltes Kind und Jugendliche, über die Folgen und wie wichtig es ist, dass Anständige erfahren, dass es so etwas doch gibt …
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Teil 2: „Halt durch, du bist bald groß.“
Sehnsucht ist wie Sonnenschein, / ich will es nicht bestreiten. / Woher nehm‘ in tiefer Nacht ich Sonne?“ heißt es in deinem Gedicht „schlaflos“. Wo kam Sonne in deiner Kindheit her?
Im Grunde hatte ich schon als kleines Kind mit mir so etwas wie einen Geheimbund geschlossen. Ich hatte früh erkannt, verlassen kann ich mich nur auf mich; und ich muss jeden Tag neu überleben. Nachts bin ich relativ sicher, weil meine Mutter auch mal schlafen muss. Aus meiner heutigen, erwachsenen Sicht, weiß ich, es hat für mich drei feste Haltepunkte gegeben, mit deren Hilfe ich über meine Jahresberge gekrochen bin.
Magst du über deine Stützpunkte sprechen?
Erstens, ich hatte das Glück, meine „eigene Sonne“ in mir zu haben, ein nicht zu beschreibendes Vertrauen zu mir selbst. Das ist (für mich) etwas vollkommen anderes als das, was gemeinhin mit Selbstvertrauen bezeichnet wird. Ich denke, ich bin wahrlich ein innerliches Sonnenkind (gewesen). Zum Beispiel habe ich mir, besonders nach ganz schlimmen Erlebnissen, nachts selbst Freude geschenkt. Ich habe mich gelobt, was ich alles aushalten kann. („Na siehste, das letzte Mal hast du noch gedacht, daran stirbst du und dieses Mal war es schon nicht mehr sooo schlimm.“) Ich konnte das, indem ich einfach nur dagelegen und auf meine Atemzüge gehört habe und jeder Atemzug ist ein Wort gewesen. Unausgesprochen zwar, aber es war, als würde auch mal jemand etwas Liebes zu mir sagen. Und wenn es auch nur meine innere Stimme gewesen ist. Das Allerallerschönste ist gewesen, wenn ich irgendwas zum Naschen hatte. Nachts unter der Bettdecke heimlich lesen und etwas essen, war für mich die Schwelle zum Himmelreich.
Zweitens habe ich mir immer wieder vorgenommen, ein besseres Mädchen zu werden. Ein Kind glaubt das, wenn die Mutter immer sagt, wie böse, schlecht, missraten es ist. Braver, artiger, lieblicher wollte ich werden. Die allmächtige Forderung: Änderst du dich endlich! Wirst du dich wohl endlich bald bessern! Das große Versprechen: Ja, ich werde mich ändern. Ja, ich werde mich bessern. Darin steckt alles, vor allem die schleichende Zerstörung jedweder kindlichen Vertrauensbasis. Zu sich selbst, zu anderen, nichts ist mehr fass- und erfassbar.
Nicht allein das Vertrauen geht verloren, auch die Persönlichkeit und Identität des Kindes wird dadurch zerstört …
Also. Alles von meiner Mutter Angemahnte wollte ich werden, ohne genau zu wissen, was das sein soll und mich so lange ändern, bis sie mich lieben kann. Das ist im Grunde eine Lebensaufgabe gewesen. Ein Kind ist zu weitgehender zeitlicher Abstraktion gar nicht fähig. Mit 6 Jahren hatte ich schon eine richtig lange Geschichte. Mir vorzustellen, alles gehe noch mal so lange weiter, ist ein Graus gewesen. Dann aber meine Mutter zu sehen, die viel älter war als ich, und mir klar zu machen, vielleicht hört es erst auf, wenn ich so „groß“ bin wie sie? Unvorstellbar! Wirklich unvorstellbar für ein kleines Kind.
Was hast du unternommen, damit dich deine Mutter lieb haben kann?
Weißt Du, Gesine, ganz oft habe ich wirklich mein kleines Kinderhirn zermartert, um endlich dahinterzukommen, was ich denn genau machen muss, um mich zu ändern, zu bessern. Meine allerersten Änderungsversuche liegen in der frühsten Kindheit, ich denke, ich war 5, auf jeden Fall noch kein Schulkind. Ich hatte mir vorgenommen, so lange die Luft anzuhalten, bis ich tot bin, um schön still und lieblich zu werden. Es ist eine meiner frühesten Enttäuschungen über mich selbst daraus geworden – also ich war so frustriert, so unglaublich enttäuscht von mir selbst, weil ich es eben nicht geschafft habe, nicht mehr zu atmen. Einfach keine Luft mehr holen, selbst dazu bin ich zu dumm gewesen.
Atem holen, das konntest du zumindest bei deinem Vater …
Ja, er ist mein dritter Haltepunkt gewesen. In ihm hatte ich so etwas wie einen Schatz, einen Kraftspender, Mutmacher. Wie reiner Sauerstoff. Ich bin süchtig danach geworden und gleichzeitig hat es mich wohl hauptsächlich in die Lage versetzt, durchzuhalten. Mein Hoffnungsträger, mein Papa schlich sich manchmal nachts heimlich zu mir, hat seine Hand auf meine Wange oder meine Stirn gelegt und geflüstert: „Halt durch, du bist bald groß.“ Dann ist er leise wieder fortgeschlichen. Auf diesen Trost habe ich jede Nacht gewartet. Sobald ich seine Schritte gehört habe, ist es mir schon besser gegangen. „Mein Papi liebt mich“, lautete die Botschaft. Ich habe nur selten gezeigt, dass ich es höre und meist so getan als wenn ich schliefe. Ich wollte ihn in seiner Hilflosigkeit nicht beschämen. Vielleicht habe ich auch gefühlt, sobald ich mehr ersehne als eben diesen nächtlichen Hoffnungsstern, wird er ihn mir nicht mehr geben können. Viel später erst, mit Mitte 40, habe ich mir endlich eingestehen m ü s s e n , er hat mich damit weder beschützt noch befreit.
Hast du eine Erklärung dafür finden können, warum dich dein Vater damals nicht besser beschützt oder gar befreit hat?
Kurz und direkt, ohne mir etwas vorzumachen, muss ich sagen: Er war zu feige. (Mir dieses einzugestehen und es laut auszusprechen, nur für mich, hat Jahre gedauert und gekostet.) Er ist gewissermaßen nicht bereit gewesen, sich zu opfern, um mich zu retten. Konfliktunfähigkeit würde ihm heute wohl jeder Spezialist bescheinigen. Inzwischen gibt es für so etwas richtige Diagnosen und Therapien. Aber damals? Was wusste man denn schon, außer dass er überlebt hat. Den Krieg, Stalingrad. Ich kann ja noch von Glück sprechen, dass mein Vater das nicht auch in Gewalttätigkeit verarbeiten musste. Trotzdem, trotzdem, trotzdem denke ich heute, ein Vater, und sei er noch so verletzlich, kann auch sein Kind schnappen und in Sicherheit bringen. Und wenn er mit ihm zur Polizei geht, egal, Hauptsache weg von der Zwangslage. Schweigendes Wissen ist eine Sauerei und macht schuldig. Es ist egal, ob Mutter oder Vater: Wissendes Schweigen kommt Schuld gleich.
Bekam dein Vater die Gewalttätigkeiten deiner Mutter ebenfalls ab?
Ja, ihre Gewalt ist auch gegen ihn gegangen. Manchmal hat sie nach ihm gehauen. Er ist ausgewichen, jedenfalls wenn ich es gesehen habe. Ich fühlte, er hat Mitleid mit ihr. Mein Vater wollte sich nicht wehren. Er hat hingenommen. Ihre Gewalt ist ihm gegenüber sowieso vor allem psychisch ausgeprägt gewesen. Diese Frau war ein Phänomen. Sie konnte von Samstagmittag nach Feierabend bis Montag früh 6:00 Uhr ununterbrochen toben, meckern, lamentieren, schreien. Sie muss unbeschreiblich voll von Verzweiflung und Hass gewesen sein. Ich wundere mich, dass sie nicht regelrecht auseinandergeborsten ist. Ist sie eingeschlafen, hat sie nach dem Aufwachen an genau der Stelle, an der sie aufgehört hatte, wieder begonnen. Kam ein Sonntagsspaziergang dazwischen, dann vollendete sie den letzten Satz von vor zwei Stunden unmittelbar nach unserer Rückkehr … und machte weiter. Ich habe das als Kind beobachtet. Sie hatte ein enormes Gedächtnis. Und ihre Stimme, durchdringend, harsch, böse, oft auch verzweifelt, wirklich herzzerreißend unglücklich. Ich denke, sie konnte über zwei Oktaven ihre Armseligkeit, ihre Wut, ihre Bedürftigkeit, ihre Zerrissenheit hinaus schreien. Mein Vater hat in diesen Augenblicken genauso gelitten wie ich. Es ging ungefähr genausooft gegen ihn wie gegen mich. Das hat uns irgendwie zusammengeschweißt. Wir saßen sozusagen gemeinsam in einem Boot und meine Mutter war der Steuermann. Sie bestimmte: Gute Zeit oder schlechte Zeit. Das Schlimme daran, es ist ihr selbst zu allen Zeiten sicherlich trotzdem nicht ein einziges Mail wirklich gut gegangen.
Deine Mutter scheint eine tickende Zeitbombe gewesen zu sein. – So du magst, sollten wir demnächst auch über deine Eltern, ihre Herkunft und Sozialisation, ihre Erlebnisse reden …
Ja machen wir. Weißt Du, meine Mutter hat in unregelmäßigen, aber immer kürzer werdenden Abständen – ich erinnere mich an Abschnitte von zwischen zwei Wochen und zwei Tagen –Unüberwindlichkeiten in sich gespeichert. Bildhaft vergleichbar mit einem riesigen Ballon, der bis kurz vorm Bersten, mit Druck aufgeblasen wird. Heute denke ich, wenn sie zwischendurch nicht geschlafen hätte, wäre sie geplatzt. So aber hat sie sich selbst auch dadurch entlastet, indem sie „es“ im Schlaf etwas abließ. Wir kennen das, „eine Nacht drüber schlafen“ in andere Zusammenhängen ja auch. Allerdings wird dieser Ballon immer und immer grösser und praller. Und dann kommt der Moment, da es außer Platzen nur noch einen Weg gibt, nämlich den Pfropfen ziehen. Und dann? Pfffffff !!! Der Ballon scherbelt alles um, rauscht planlos und unlenkbar durch die Gegend. Da ist nichts mehr von dem übrig: Ich habe mir dieses Kind so sehr gewünscht und wollte immer eine gute Mutter sein.
Sie hat die Kontrolle verloren?
Ich weiß nicht, ob ich manchmal einfach nur Glück hatte oder sie dann und wann mehr Kontrolle über ihr Ventil hatte. Mitunter, vollkommen überraschend, schoss sie mir eine, sagte beiläufig, dies sei für „letztens“ gewesen und wand sich unvermittelt dem wieder zu, was sie vorher gemacht hatte. Bis ich mich aufgerappelt hatte, füllte sich bei ihr der Ballon schon wieder. Ist der Ballon erst einmal geplatzt, bin ich eindeutig in Lebensgefahr gewesen. Ich denke, das hat sie auch gewusst, nicht selten hat sie mich dann in den Keller gesperrt und erst rausgelassen kurz bevor mein Vater heimkam. Redeverbot! Ist klar! Frag nicht, wieso er nicht gesehen hat, was mit mir geschehen sein musste. Dafür hatte er seinen Satz: „Halt durch, Du bist bald groß.“
Und früh morgens gingen sie dann zusammen zur Arbeit – mich in der Mitte an ihrer Hand. Ich wurde zum Kindergarten gebracht, als wären wir eine heile, glückliche Familie …
Innen Krieg, aber nach Außen stellen deine Eltern ein idyllisches Familienbild zur Schau?
Ich glaube, sämtliche Werte sind in dieser Nachkriegszeit komplett durcheinander gewesen. Waisen, Witwen, Witwer, Heimkehrer, Versehrte, ich erinnere mich an ganz viele Beinamputierte in unserem Städtchen, und die vielen Vermissten und Verschollenen, nach denen gesucht wurde … Im Vergleich dazu waren wir eine hübsch anzusehende Familie. Und noch dazu komplett! Vater, Mutter, Kind. Alles da. Kein Bein fehlt, kein Arm. Ab meinem 10. Lebensjahr sogar eine Familie mit zwei Kinder. Verstehst Du, das war als hätte man den Krieg wenigstens ein bissel gewonnen …
Jedenfalls erinnere ich mich deutlich: Umgaben uns fremde Leute, dann musste ein hübsch ordentliches Bild gewahrt werden. Die heile Welt, die es in Wirklichkeit nicht gab. Hinzu kommt, dass die Kinder damals, glaube ich, auch so etwas wie Aushängeschilder gewesen sind: „Schau, wie gut es uns geht“. Ende der 50er Jahre in der DDR. Sogar in unserem kleinen sächsischen Beamtenstädtchen noch Ruinen. Und ich? Ich hatte sogar schon einen Petticoat.
Das Kind als Trophäe: Wir haben überlebt! Und zugleich als ein Symbol für eine andere, bessere Zeit …
Ja, das meine ich. Kleine Kinder fungierten wie Schau-, Schmuckstücke. Immerhin sind sie ein Wahrzeichen für Liebe und Fruchtbarkeit. Nach dem Kriegselend, mit dem Durcheinander in den Köpfen der Menschen, hatten Kinder einen sozialen Wert, der nicht nur etwas mit Aufbau und Altersversorgung zu tun hatte. Sie stellten ein Teil der heilen Welt in der Welt dar, die endlich wieder heile werden sollte nach all‘ den Schrecken. Ich weiß nicht, ob mir die Worte reichen, das überhaupt bildhaft darzustellen? Die Nachkriegszeit ohne uns 50er Kinder? Stelle dir die Trostlosigkeit und Armseligkeit der damaligen Zeit vor. Niedliche, kleine Kinder brachten da etwas Glanz herein. Vielleicht sind gerade wir Kinder, um derentwillen es wieder weiter und aufwärtsgehen sollte, auch ein Alibi dafür gewesen, dass man sich nicht mit der Vergangenheit beschäftigt hat.
Dazu fällt mir Ernst Toller „hoppla, wie leben!“ ein …
Das war genauso. „Hauptsache wir leben noch und haben was zu essen.“ Es gab keinen Erwachsenen, den ich das damals nicht auf die eine oder andere Art habe sagen, seufzen oder beten hören. Ein Sonntagspaziergang, auswärts essen, Radio hören oder – ganz wichtig – Einkaufen gehen, dann war die Welt schön, heil und friedlich. Das war auch mein Maßstab. Insbesondere IN den Geschäften fühlte ich mich absolut sicher, praktisch unzerstörbares Friedensgebiet. Ich habe immer etwas bekommen, eine Scheibe Wurst oder eine Wiener– gleich in die Hand fürs hübsche Kindchen. (Da gibt es heute eine Werbung mit einem Sportler beim Metzger. Also wirklich, ich bekomme jedes Mal Gänsehaut und freue mich riesig, weil es bei mir so viel gute Erinnerung weckt.) Ich habe Eis bekommen, diese Kugeln auf einer spitzen Waffeltüte. Blumen und Schleifchen fürs Haar. Meine Mutter war unglaublich geschickt und hatte auch bei Handarbeiten ausgefallene Ideen. Und mein Kinderverstand hat mir vorgegaukelt, mein Leben wird immer so schön und friedlich sein, wenn ich mich endlich so geändert habe wie mir meine Mutter das einbläut.
Charlotte, lass‘ uns nächste Woche weitermachen. Vielleicht reden wir dann über deine Eltern?
Das machen wir so.
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Zum meinem Gespräch mit Charlotte am 21. Februar 2013 geht es hier