Zufällig stieß ich bei Recherchen auf das „Buch der Etikette“, das 1956 im Perlen-Verlag erschienen ist, und auf ein Fräulein Pappritz, das in der Nachkriegspresse als „Anstandsdame der Nation“ und „Hofmarschallin der guten Sitten“ viel von sich reden machte. – Ich nahm die Fährte auf, um auf eine aberwitzige Besteller-Geschichte aus dem Biedermeier der Adenauer-Ära zu stoßen. Die Rekonstruktion dokumentiere ich hier in zwei Teilen, weil sie uns auf durchaus amüsante Weise lehrt, dass die Verlage vor 57 Jahren auch nicht viel anders tickten als heute. Wohl hielten Öffentlichkeit, Politik und der Literaturbetrieb in den 50er Jahren das noch für einen Skandal, worüber sich längst keiner mehr aufregt, weil es in den Verlagen heute Standard ist.
Zu Teil 1 findet Ihr hier
Des einen Schadenfreude ist des anderen reinste Freude …
Schelte und Hohn über das „Buch der Etikette“ der Legationsrätin Erica Pappritz hagelte es auch aus den eigenen Reihen, nämlich aus Politik und Diplomatie. Kanzler Adenauer und Bundespräsident Heuss frotzelten nicht eben galant über das Ungeschick ihrer Anstandsdame. Die damals 37-jährige SPD-Parlamentarierin Annemarie Renger soll sogar eine kleine Anfrage zum „Fall Pappritz“ in den Bundestag eingebracht haben und Marie-Elisabeth Lüders, FDP-Abgeordnete und Alterspräsidentin des 2. Deutschen Bundestages, intern die Frage aufgeworfen haben, ob die Verfasserin eines solchen Buches für die Position der stellvertretenden Protokollchefin im Auswärtigen Amt noch tragbar wäre. In die gleiche Kerbe schlug auch der langjährige Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Friedrich Sieburg, der sich öffentlich dahingehend geäußert haben soll: „Allen Beteiligten wäre gedient, wenn Fräulein Pappritz … in den wohlverdienten Ruhestand träte.“ Pikant ist dessen despektierliche Äußerung übrigens auch deshalb, weil der schillernde Intellektuelle Sieburg selbst einer von jenen gewesen ist, der der damals noch jungen Bundesrepublik Takt, Sitte und Anstand einbläuen wollte. Aber: Das ist eine andere Geschichte.
Trotz des prominenten Namens der Pappritz lief der Verkauf vom „Buch der Etikette“ 1956 nur schleppend an. Erst nachdem die Medien ihre Autorenschaft im März 1957 in Zweifel zogen und den Verlag unlauterer Methoden bezichtigten, zog er an. Offensichtlich wusste sich der Perlen-Verlag dank allseitiger Kritik auf der Seite des Erfolges. In einer zweiten Auflage schob er prompt 10.000 Bücher nach, obwohl die 11.500 Exemplare der ersten Auflage noch nicht vergriffen waren. Die dritte Auflage erschien bereits im Juni 1957 – und zwar mit Änderungen, die der öffentliche Druck wohl notwendig gemacht hatte.
Bereinigt wurde u.a. eine Passage im Vorwort des Buches. Die Aussage „wo wir sind, ist oben“ hatte offensichtlich jene mit Besorgnis erfüllt, die die jüngste deutsche Geschichte Mitte der 50er Jahre noch nicht gänzlich unter den Teppich gekehrt hatten. Stattdessen hieß es in der dritten Auflage nun: „Ist, wo wir sind, wirklich oben?“ Ebenfalls überarbeitet wurden die Darlegungen darüber, wie ein Gentleman seine Wäsche zu wechseln hätte. Ersatzlos gestrichen wurde hier der Satz „Unser täglich Hemd gib uns heute“, den man der Blasphemie verdächtigt hatte. Die Behauptung, dass lange Unterhosen unmännlich seien, wurde etwas abgemildert. Und die Aussage, „Damen, die auf der Straße rauchen, sind keine – oder Amerikanerinnen“ soll ebenfalls den ‚kritischen‘ Überarbeitungen seitens des Verlages zum Opfer gefallen sein, wie die ZEIT im Juni 1957 im Mosaik über die dritte Auflage zu berichten wusste.
Erica Pappritz ging 1958 im Alter von 65 Jahren in den Ruhestand.
Dem Perlen-Verlag, den Matthias Lackas 1949 in Marbach am Neckar gegründet hatte, gereichte der Bonner Skandal indes nicht zum Schaden. Im Gegenteil. Das Buch, das die Anstandsdame der Nation eben nicht selbst geschrieben hatte, verhalf dem Verlag sogar zu seinem Durchbruch. Mehr noch: Obwohl die bewusste Täuschung aufgeflogen war, avancierte das „Buch der Etikette“ zu einem der größten Geschäftserfolge der 50er und 60er Jahre …
1958 zog der Perlen-Verlag nach München, wo er 1963 in Südwest-Verlag umfirmierte und dann Bestandteil von Ullstein-Heyne-List wurde. Seit 2003 gehört Südwest zur Verlagsgruppe Random House. Hier brachte es das Benimm-Buch zu weiteren Ausgaben. Die 12., völlig neu bearbeitete Auflage erschien in München 1971 unter dem Titel „Etikette neu“.
Derzeit lieferbar ist „Etikette neu“ mit dem Untertitel „Der Knigge aus den Wirtschaftsjahren“ bei der Verlagsanstalt Handwerk. Obwohl die Verlagsinformation zum Buch augenzwinkernd daherkommt, suggeriert der Text doch, dass Benimmregeln aus den 50er Jahre des 20. Jahrhunderts ihre Gültigkeit behalten haben: „Auch wenn oder gerade weil aus heutiger Sicht einige Regeln kurios wirken, mit diesem Buch eröffnet sich ein wahres Lesevergnügen nicht nur für Menschen, die in punkto Etikette noch etwas dazulernen möchten. Sie werden staunen, wie viele dieser Benimm-Regeln noch immer modern sind. Und über den Rest dürfen wir getrost schmunzeln!“
Tatsächlich wirkte die Etikette der Pappritz über die Jahrtausendwende hinaus fort. Dass die „Pappritz ihre Bibel“ sei, bekannte im November 2004 Friedgard Halter öffentlich in der WELT. „Das klassische Nachschlagewerk für guten Ton in allen Lebenslagen“ sei ihr – ließ Halter die Leser wissen: „so etwas wie ein Kursbuch durch ihren Job als Protokoll-Chefin der Hypo-Vereinsbank“. – 2013 scheint ein anderer Wind zu wehen. Derzeit nutzt die Kabarettistin und Chansonsängerin Ulrike Neradt Texte aus dem „Buch der Etikette“ in ihrem aktuellen Programm „Wir sind so frei!“, um ihr Publikum zum Lachen zu bringen.
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Und zum Abschluss noch ein echter Pappritz aus der Erstausgabe 1956:
Koffer haben es in sich! Das, was sie in sich haben, ist zumeist das Falsche. Man merkt es frühestens in dem Augenblick, da der Zug aus dem Bahnhof rollt, da sich schüchtern die erste Ferienfreude bemerkbar zu machen beginnt und man feststellt, daß Adam Smiths »Theorie der ethischen Gefühle« – die im übrigen auch noch zuunterst im Koffer liegt, gleichsam als wolle sie ihre Tiefgründigkeit noch unterstreichen – zwar einen Schlüssel zur philosophischen Erforschung des ökonomischen Liberalismus darstellt, als Reiselektüre mit Agatha Christie jedoch nicht konkurrieren kann. Spätestens wird einem das klar, wenn man die Straße von Messina überquert hat und abends auf einem der Campingplätze bei Catania in strömendem Regen unter sturmgebeugten Palmen und Olivenbäumen steht und immer wieder vergeblich versucht, die Zeltheringe festzubekommen. Quelle: http://www.zeno.org – Contumax GmbH & Co.KG
In der Erstausgabe kann man übrigens hier stöbern.