Verehrte Frau Bundeskanzlerin,
liebe Frau Dr. Merkel,
lassen Sie mich voranschicken, dass mein Herz linksliberal schlägt, nicht konservativ. Niemals wäre ich auf den Gedanken verfallen, Ihrer Partei meine Stimme zu geben. Ins Straucheln geriet ich bei den jüngsten Berliner Wahlen. Sollte ich mein Kreuz etwa bei Ihrer Partei machen, um Ihnen den Rücken zu stärken? Da ich mich nicht dazu überwinden konnte (und es Ihnen zudem auch nicht geholfen hätte), schreibe ich Ihnen diese Zeilen.
Sie sind mir lange fremd geblieben. Vielleicht haben Sie sich ein wenig zu viel von der „Eisernen Lady“ Margret Thatcher abgeguckt? Trotz vieler Verdienste, nicht zuletzt auch für uns Frauen, bin ich mit Ihnen nicht warm geworden. Bis zu jenem Moment, als Sie im Spätsommer vergangenen Jahres in der Flüchtlingsfrage Haltung bewiesen haben. In dieser Krise wirkten Sie auf mich authentisch; nicht getrieben von Sachzwängen, Machtspielen und Proporz.
Hören Sie auf, unter Druck zurückzurudern und Fehler in der Flüchtlingskrise einzugestehen. Wir können uns nicht aus der Verantwortung stehlen. Unerträglich ist, wie man Sie zerlegt und damit den Rechten in die Hände spielt. Auch wenn die „Merkel muss weg“-Rufe anderes evozieren: Nicht Sie sind das Problem, sondern Ihre zerstrittenen Parteikollegen, die Ihnen aus der Angst heraus, Stimmen und Macht zu verlieren, permanent in den Rücken fallen. – Der Ton, dem sich so mancher im Umgang mit Ihnen befleißigt, vergiftet das Land.
Davon abgesehen will mir nicht einleuchten, warum sich alle Welt auf ein – völlig aus dem Zusammenhang gerissenes – „wir schaffen das“ kapriziert. Schließlich haben Sie mit dem Satz: „Wir schaffen das, und wo uns etwas im Weg steht, muss es überwunden werden“ nicht gesagt, dass uns keine Schwierigkeiten bevorstünden. Im Gegenteil: Ich habe Ihren Satz dahingehend verstanden, dass Sie uns dazu ermutigen wollten, die Probleme anzupacken, die bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise anstehen.
So ich eine persönliche Bitte äußern darf: lassen Sie es nicht weiter zu, dass man Sie demontiert.
Mit guten Wünschen
Gesine von Prittwitz