„Großväter“ der modernen jiddischen Literatur. Odessa: Stadt der Literatur (2)

„Es geschah, es geschah in Odessa!“, heißt es überschwänglich in Wladimir Majakowskis frühem Gedichtzyklus „Wolke in Hose“ (1915). Das ist nicht die einzige Hymne, die Künstler auf die Stadt am Schwarzen Meer gesungen haben. Geprägt vom liberalem Geist und mediterranem Klima hat die Stadt – neben den literarischen Zentren Lviv (früher: Lemberg) und Ivano-Frankivsk (früher: Stanislaw)viele Autoren hervorgebracht. Und selbstverständlich viele angezogen. Ihre Werke haben das Bild von Odessa geprägt.

Ich bin auf Autoren gestoßen, die die Umstände der Zeit gebrochen haben, aber auch auf solche, die widerstanden oder einfach Glück gehabt haben. Auf Dissidenten, Kriegsgefallene und Opfer der stalinistischen Säuberungen.

Installation „Zwölf Stühle“ in Odessa © Sabine Münch

Und so ist eine Reihe über die Kinder und Besucher einer Stadt entstanden, die von den Einheimischen liebevoll „Mama Odessa“ genannt wird. Keine Kurz-Biographien im klassischen Sinn, die Leben und Werk würdigen. Sondern mal längere, mal kürzere Skizzen, die herausstellen möchten, welchen Bezug die Porträtierten jeweils zu Odessa hatten. Eine, wie ich meine, bunte Sammlung, die manchen auch überraschen könnte.

Skizziert werden Autoren, die unfreiwillig in Odessa gelandet sind. Schriftsteller, die politisch nicht erwünscht waren. Es werden Namen genannt, die die Zeitläufte getilgt haben, und Werke erwähnt, die wiederzuentdecken wären. Und nicht zuletzt kommen Autoren in der Reihe vor, die bis heute gerühmt werden. – Den Anfang haben drei in Odessa geborene Schriftsteller gemacht, die literarische Kultfiguren geschaffen haben: Isaak Babel (Benja Krik in seinen „Geschichten aus Odessa“),  Ilja Ilf  und Jewgeni Petrow ( Ostap Bender im Kultroman „Zwölf Stühle).  – Heute geht es um  einige „Großväter“ der modernen jiddischen Literatur.

 

Scholem Jankew Abramowitsch (1835 – 1917), in Minsk geboren, studierte an verschiedenen Talmudhochschulen und unternahm als Student ausgedehnte Reisen durch die Ukraine. Da die gebildeten Juden Jiddisch für eine ungehobelte Sprache hielten, die kaum geeignet sei, anspruchsvollere Gedanken auszudrücken, verfasste er seine Schriften anfangs auf Hebräisch. Um 1863 reifte sein Entschluss, in der Sprache zu schreiben, die Juden im Zarenreich mehrheitlich benutzten, Jiddisch. 1881 ließ er sich in Odessa nieder, wo er einige Jahre später zum Begründer der modernen jiddischen Erzählkunst wurde.

Bekannt aber ist er zu Lebzeiten unter dem Pseudonym einer von ihm geschaffenen literarischen Figur geworden: Mendele Moicher Sforim – Mendele, der Buchhändler. Obschon er zu Lebzeiten sehr populär gewesen war, erinnert heute kaum noch etwas an den „Großvater der jiddischen Literatur“, so nannte Scholem Alejchem ihn. Auf Deutsch liegen derzeit keine Werke von ihm vor; auch im Antiquariat wurde ich ebenfalls nicht fündig.

Mendele Sforim © Wikipedia

Martin Walser, der den jüdischen Schriftsteller zwischen Jonathan Swift und Franz Kafka einordnet, widmete ihm 2014 einen Essay mit dem Titel„Shmekendike blumen“. Im Untertitel heißt es auf Jiddisch und Deutsch: Ein Denkmal / A dermonung für Sholem Yankev Abramovitsh.[1] Walsers Essay fußt übrigens auf einer literaturwissenschaftlichen Studie von Susanne Klingenstein. In „Mendele, der Buchhändler“, 2014 auf Deutsch erschienen, rekonstruiert die Amerikanerin das abenteuerliche Leben von Scholem Jankew Abramowitsch und beschreibt die Geschichte der modernen jiddischen Literatur. [2]

Ein anderer Klassiker der jiddischen Literatur ist der bereits erwähnte Scholem Alejchem alias Scholem Rabinówitsch (1859 – 1916). In Kiew geboren, hat es ihn zwischen 1890 und 1905 immer wieder nach Odessa getrieben. Die dortigen Pogrome im Jahr 1905 veranlassten ihn, nach New York zu emigrieren, wo er im Mai 1916 verstarb. Bei seiner Beerdigung sollen mehr als 100.000 Trauergäste dabei gewesen sein.

Obwohl er der beliebteste jiddische Autor seiner Zeit gewesen ist –  seine Werkausgabe umfasst immerhin 28 Bände – kennt man von ihm heute allenfalls noch den 1916 erschienenen Roman „Tewje, der Milchmann“. Und dies auch nur, weil das Musical „Anatevka“ auf dem Werk beruht. Das Musical wurde im September 1964 in New York uraufgeführt. 1971 unter dem Titel „Fiddler on the Roof“ verfilmt und im Jahr darauf mit drei Oscars ausgezeichnet. In der Bundesrepublik feierte Ivan Rebroff in der Rolle des Tewje sensationelle Erfolge. In der DDR wurde es an der „Komischen Oper“ ab 1971 gespielt. Allerdings war das nur nach Querelen mit der Zensur möglich. Ein jüdisches Thema, ein kritischer Blick auf Russland, das passte der Partei damals nicht ins Bild.

Anlässlich Scholem Alejchems 100. Todesstag hat der Manesse Verlag „Tewje, der Milchmann“ in einer neuen Übersetzung von Armin Eidherr herausgebracht.[3] Wie sagt Tewje zum Schluss? „Morgen könnte es uns nach Jehupez verschlagen, und nächstes Jahr könnten wir nach Odessa, nach Warschau oder gar nach Amerika geschleudert werden – es sei denn, der Höchste würde sich einmal umsehen und sagen: ‚Wisst ihr was, Kinderchen? Jetzt werde ich euch endlich einmal den Messias hinunterschicken!‘“

Chaim Nachman Bialik (1873- 1934), in einem kleinen ukrainischen Dorf geboren, zählt bis heute zu den einflussreichsten jüdischen Autoren der Moderne. Zwischen 1900 und 1921 hat der israelische Nationaldichter in Odessa gelebt. Hier sind sein erster Sammelband (1902) und seine erste Gesamtausgabe (1908) erschienen. 1922 hat er Sowjetrussland verlassen, siedelte zunächst nach Berlin über, wo er einen hebräischen Verlag gegründet hat. 1924 ging er nach Tel Aviv. Sein Werk wurde in viele Sprachen, in den 1920ern auch auf Deutsch, übersetzt.

Andere jüdische Autoren, die in Odessa gewirkt haben, sind der Lyriker und Romancier Jakov Petrovič Polonskij (1819 – 1898) und der Lyriker und Übersetzer Saul Tschernichowski (1875-1943), der seinen literarischen Weg wie Chaim Bialek in der Hafenstadt begonnen hat.

Oleksandr Abramovitsch Bejderman, 1949 in Odessa geboren, zählt zwar zu den Gegenwartsautoren, auf die ich später noch gesondert eingehen möchte. Als Ausnahmeerscheinung soll er in diesem Kontext dennoch erwähnt werden. Er ist ein Relikt aus der jiddisch geprägten Zeit. Er schrieb konsequent auf Jiddisch und wurde zu Sowjetzeiten nicht gedruckt.[4] Erst in den letzten Jahren wandte sich Bejderman, der Lyrik und Prosa verfasst, der ukrainischen Sprache zu. Man kann das sicher auch als ein politisches Zeichen verstehen, dass er neuerdings ukrainisch schreibt.

 

Anmerkungen

[1] Martin Walser: Shmekendike blumen, Reinbek 2014.

[2] Susanne Klingenstein: Mendele der Buchhändler. Leben und Werk des Sholem Yankev Abramovitsh Eine Geschichte der jiddischen Literatur zwischen Berdichev und Odessa, 1835-1917, Wiesbaden 2014.

[3] Scholem Alejchem: Tewje, der Milchmann. Aus dem Jiddischen von Armin Eidherr, München 2016.

[4] Alexandr Bejderman: Jiddische Gedichte . Zweisprachige Ausgabe Jiddisch und Deutsch. Übersetzt vom Jiddischen ins Deutsche von Torsten Steinhoff. Hrsg. vom Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-Jüdische Studien, Potsdam 2000

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