Persönliche Bemerkungen zu meinen Ahnen im Schatten

In den vergangenen zwei Jahren habe ich mich intensiv mit der Geschichte meiner Familie beschäftigt; genauer gesagt: mit meinen „Ahnen im Schatten“, über die mir so gut wie nichts bekannt gewesen ist. Eine für meine Generation nicht untypische Feststellung. Unsere Eltern waren nach 1945 auf die Zukunft fokussiert, die Vergangenheit ist kein Thema gewesen.

Vater und Tochter in jungen Jahren © GvP

Abgesehenen von einigen „Highlights“ wie etwa Joachim Bernhard von Prittwitz und Gaffron (1726 – 1793), der Friedrich den Großen 1759 in der Schlacht von Kunersdorf aus großer Gefahr gerettet hat, oder Tante Billa (1903 – 1971), die im Zweiten Weltkrieg zu den wenigen fliegenden Frauen gehörte und während ihrer Dienstfahrten für den Kreisauer Kreis im Büstenhalter Kassiber schmuggelte, sowie launige Anekdoten, die mein Vater aus seiner frühen Kindheit in geselliger Runde gerne zum Besten gegeben hat, wurde über die Geschichte unserer Familie, die sich bis hin zu Karl dem Großen (742 – 814 n.Chr.) zurückverfolgen lässt, nicht gesprochen. Gerade so als wolle man die ritterlichen und später dann die preußischen Ehrenkodexe, die Prittwitze jahrhundertelang hochgehalten haben, vergessen machen.

Für meine Suche habe ich einen großen Bogen zurückgeschlagen und viele neue Kapitel aufgeschlagen, nicht nur meine Familie betreffend. – Aus der Geschichte lernen, das sagt sich leicht und ist zumeist eine reichlich trockene Angelegenheit. Nicht aber, wenn man die Spuren der eigenen Familie zurückverfolgt. Dann wird Geschichte nicht nur lebendig, sondern auch sehr persönlich.

Inzwischen erschließt sich mir, warum über dem Schreibtisch meines Vaters zeitlebens ein Konterfei des Alten Fritz hing. Ich kann auch nachvollziehen, warum er seine Erfahrungen in Krieg und Nachkrieg nicht teilen wollte oder gar konnte. Er wurde mit 17 Jahren eingezogen, sollte gemeinsam mit anderen Kindersoldaten in den letzten Tagen des Krieges den Rügendamm sprengen, kam in sowjetische Kriegsgefangenschaft und schlug sich nach seiner Entlassung zu Fuß nach Melkof durch, wo er schuftete, um zu überleben.

mein Großvater Bernhard (links) mit seinem Vater Wilhelm © Familie vP

Dass er nicht über Tante Anneli (1892 – 1963) sprechen wollte, mag mir ja noch einleuchten. Für mein Dafürhalten hat die Schwester seines Vaters an der Seite des Predigers Frank Buchmann eine dubiose Rolle gespielt. Warum aber hat er nie von seinem Großvater Wilhelm (1864 – 1931) erzählt? Einen Mann, der mich sehr verblüfft hat. Und warum sollte ich von seinem Vater Bernhard (1896 – 1944) nur so viel wissen, dass er 1944 an der Ostfront gefallen ist?

Viele Kapitel in unserer Familiengeschichte haben mich bedrückt. Manches auch erheitert. Etwa Leonhard Adolph von Prittwitz (1706 – 1760), der nicht nur die Chuzpe hatte, seine Erhebung zum Freiherrn in Eigenregie zu managen. Den Krösus hat er auch bei seinen Kutschfahrten gespielt. Statt Pferde ließ er sechs Hirsche anspannen, die eigens für diesen Zweck abgerichtet worden waren.

Viele Schicksale haben mich berührt. Besonders nahe ist mir das meines Großvaters Bernhard gegangen, aus dessen Leben ich hier einige Etappen berichte. – Im Grunde wären alle Geschichten, die ich in den vergangenen Jahren über meine Vorfahren zusammengetragen habe, Erzählungen wert. Aber, wen interessiert das?

Was die Kartoffel mit meinem zukünftigen Wohnsitz zu tun hat

Wurst ging gelegentlich auch. Mein Vater in den 1950ern © Familie vP

Eine große Freundin von Kartoffeln bin ich nicht. Bisher haben meine Geschmacksnerven dieser beliebten Beilage, die seit Ende des Dreißigjährigen Krieges Grundnahrungsmittel der Deutschen ist, nur wenig abgewinnen können. Völlig anders mein Vater. Ihm mundete die Knolle in allen Variationen. „Am liebsten schon zum Frühstück in Form von Bratkartoffeln“, so eine Auskunft meiner Mutter.

Ich mutmaße, mein Vater hat andere Kartoffeln als ich gegessen. Nicht die formschönen, von Ackererde befreiten, Weich- oder Festkochenden, die wir aus den Supermärkten kennen. Zudem dürften ihm beim Verzehr Erinnerungen gekommen sein. Schöne und weniger gute.

Wer mag, kann hier nachlesen, was ihn beschäftigt hat.

Auszug und Aufbruch

Hier ist es still geworden; vielleicht zu still. Man könnte meinen, dass der Verlust von Robert Basic, der mir einst den Anstoß gegeben hatte, zu bloggen, mich innehalten ließ. Zumindest sieht es danach aus. Seit dem 2. November 2018, seinem Todestag, habe ich hier nichts mehr veröffentlicht.

Ein Anlass zum Räsonieren. Beweggrund für SteglitzMind ist vor allem Neugierde gewesen. Als ich das Blog im Mai 2012 an den Start brachte, trieb mich – wie andere auch – die Frage um, wie die Buchbranche und der Literaturbetrieb auf die Herausforderungen der Digitalisierung reagieren würden? Welche Chancen und welche Risiken damit für eine Branche verbunden wären, die sich eher wenig innovationsfreudig geriert. Damals standen wir am Anfang einer Entwicklung, von der angenommen wurde, dass sie enorme Veränderungen mit sich bringen würde. Vieles war Neuland: Buchblogger, E-Books, Online-Shops, Print on Demand, Selfpublishing, Streamingdienste und soziale Medien.

neue Heimat © GvP

Ich nahm mir vor, die Entwicklung zu dokumentieren. In differenzierten Beiträgen, auch von Gastkommentatoren, und in Form von Interviews mit Autoren, Bloggern, Buchhändlern und Verlegern. Alle habe ich danach gefragt, wie die Entwicklungen infolge der Digitalisierung eingeschätzt, welche neuen Wege genutzt und wo Chancen und Risiken ausgemacht wurden.

Die Pionier- und Aufbruchszeiten sind vorbei. Längst sind Buchblogger, Bookstagrammer, BookTuber und Buchpodcasts, E-Books, Online-Shops, Print on Demand, Selfpublishing, Streamingdienste und soziale Medien keine Herausforderungen mehr, sondern feste Größen im Buchgeschäft.

Das Neue existiert neben und mit dem Alten und keiner stößt sich mehr daran. Somit hat sich die Intention von SteglitzMind, die Umbruchsphase möglichst facettenreich zu dokumentieren, überholt.

Mein Dank gilt allen, die mit Gastbeiträgen oder als Interviewpartner dazu beigetragen haben. Ich meine, gemeinsam ist es uns doch recht gut gelungen, auf SteglitzMind eine Phase des Umbruchs in der Buchbranche abzubilden; mitsamt ihren diffusen Ängsten und übertriebenen Hoffnungen.

alte Heimat

Abgesehen davon, dass ich die Haare nicht mehr ganz kurz trage, hat sich bei mir persönlich inzwischen auch einiges getan. So konnte ich endlich letzte Hand an die Geschichte meiner Familie legen. Eine Spurensuche, die mich Kraft gekostet hat. Sie beginnt 800 zu einer Zeit als einige meiner Vorfahren an der Seite von Karl dem Großen gegen die Mauren gekämpft haben. Und endet mit der Flucht aus Schlesien 1945. Eine weite Zeitspanne, die mit sich bringt, dass diese Familiengeschichte auch deutsche Geschichte erzählt. – „Aus der Geschichte lernen“, das sagt sich leicht und ist zumeist eine reichlich trockene Angelegenheit. Nicht aber, wenn man die Spuren der eigenen Familie zurückverfolgt.

Eine große Veränderung steht alsbald an. Ich werde Berlin und somit Steglitz verlassen. Für mich ein Grund, unter anderem Namen und mit neuer Intention zu bloggen. Frei nach Wolf Biermann: „Nur wer sich verändert, bleibt sich treu.“ Natürlich würde ich mich freuen, wenn Ihr Euch ab und zu auch dafür interessieren würdet.

R.I.P. Robert Basic

Heute ist Robert Basic, Ur-Blogger und Schnellsprecher, viel zu früh von uns gegangen. Ich habe ihm zu danken.

Nach einer Veranstaltung, die sich um’s Internet drehte (damals für die meisten tatsächlich noch Neuland), rief er mir hinterher: „Gesine, du musst bloggen! Du musst!!“

Ohne Rob gäbe es SteglitzMind nicht. Er hat mich inspiriert, protegiert und ermutigt.

Ich bin sehr traurig.

Dank an eine Unbekannte

Dieses Präsent, das ich heute Nachmittag aus meinem Briefkasten gefischt habe, machte mich zunächst sprachlos. Dann glücklich. Mehr als eine „dankbare Leserin“ kann sich ein Autor, ein Blogger schwerlich wünschen.

das anonyme Präsent © GvP

Da es sich um eine anonyme Wohltäterin handelt, bleibt mir kein anderer Weg, als mich hier, bei SteglitzMind, für das großartige Geschenk, die berührende Geste zu bedanken. Und zugleich hoffe ich auf eine Gelegenheit, der Spenderin doch noch persönlich danken zu können.

Jetzt weihnachtet es bei SteglitzMind …

Frohe Weihnachten. Und – viel wichtiger: setzen wir auf nur Gutes in und für 2018. Ich weiß, ein hybrider Gedanke…

Ukrainisch oder Russisch? Odessa: Die Stadt der Literatur und der Hunde – Teil 2

Den Namen Swetlana Alexijewitsch kennt man vermutlich. Schließlich wurde ihr 2015 der Nobelpreis für Literatur verliehen. Aber: weiß wer schon, dass sie 1948 in der Westukraine geboren wurde?

Abgesehen von einigen Ausreißern wie etwa Oksana Sabuschko, die 2006 mit ihrem Roman „Feldforschungen auf dem Gebiet des ukrainischen Sex“ für Wirbel sorgte, dem intellektuellen Wortführer der „Orangenen Revolution“ Jurij Andruchowytsch, mittlerweile in Westeuropa der wohl bekannteste ukrainische Autor, oder Natascha Wodin, die das Leben ihrer Mutter – einer ukrainischen Zwangsarbeiterin, die die Nationalsozialisten nach Deutschland verschleppt hatten – literarisch verarbeitete und für ihren Roman „Sie kam aus Maruipol“ 2017 mit dem Literaturpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, tut man sich mit Land, Leuten, Literatur, Geschichte und den aktuellen Entwicklungen in der Ukraine hierzulande schwer. Ganz so, als würde der Eiserne Vorhang noch existieren.

free Julija Tymoschenko © Sabine Münch

Und dies obwohl es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und verstärkt nach der „Orangenen Revolution“ immer wieder Bemühungen gab und gibt, ukrainischen Büchern im deutschsprachigen Raum Wege zu ebenen. Darum früh verdient gemacht hat sich die 2011 verstorbene Anna-Halja Horbatsch, die nach dem Einzug der Roten Armee mit ihren Eltern 1940 aus der Ukraine nach Deutschland gekommen war.

Nach langjähriger Übersetzer- und Herausgebertätigkeit gründete sie 1995 noch im hohen Alter von 70 Jahren ihren Brodina Verlag, den sie nach ihrem Geburtsort in der ukrainischen Nordbukowina benannt hat. Bis zu ihrem Tod sind hier 15 Titel erschienen, vornehmlich zeitgenössischer Autoren. Aber auch das deutsch-ukrainische Lesebuch „Die ukrainische Literatur entdecken“ (2001), das die wichtigsten Werke der ukrainischen Literatur präsentiert, und die literaturwissenschaftliche Abhandlung „Die Ukraine im Spiegel ihrer Literatur: Dichtung als Überlebensweg eines Volkes“ (1997). Für ihre Bemühungen um eine weithin unbekannte Literaturszene hat Anna-Halja Horbatsch 2006 das Bundesverdienstkreuz erhalten.

Ebenfalls mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde Katharina Raabe, die sich seit der Jahrtausendwende beim Suhrkamp Verlag engagiert um den Ausbau des osteuropäischen Programms bemüht. Auch andere Verlage wie Luchterhand, Rowohlt Berlin, S. Fischer, Zsolnay in Österreich oder Diogenes und Dörlemann in der Schweiz führen ukrainische Autoren im Programm. Der 2010 gegründete Verein Translit, ein Zusammenschluss von Übersetzern und Kulturmittlern, bemüht sich um den Austausch zwischen der Ukraine und Deutschland. Und die Buchmessen in Leipzig und Frankfurt? Die organisieren inzwischen ebenfalls verschiedentlich Schwerpunkte speziell zu Autoren aus Osteuropa.

 

Ukrainische Literatur – eine Terra Incognita

Dass wir kaum etwas über die literarische Szene wissen, liegt zweifellos mit daran, dass das Gebiet der heutigen Ukraine – abgesehen von einer kurzen Episode zwischen 1918 und 1920, zu der sich ein unabhängiger Nationalstaat konstituiert hatte – im Zeitenlauf zu vielen unterschiedlichen Staaten gehört hat. Zum zaristischen Russland, Lemberg, Galizien, den Karparten, zum Habsburgerreich, zu Polen, Rumänien und der Tschechoslowakei. Die Sowjetunion verleibte sich nach dem Krieg mit Polen 1920 den größten Teil des Landes ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden ihr auch die polnischen, rumänischen und tschechischen Territorien zugeschlagen.

Die jahrhundertelange Fremdherrschaft hatte zur Folge, dass sich die ukrainische Sprache und Kultur nur unter extrem schwierigen Bedingungen entwickeln konnten. Autoren, die ihre Schriften in ihrer Heimatsprache abfassten, wurden drangsaliert und verfolgt. Allein in der Stalin-Ära sollen mehr als 300 Autoren ukrainischer Herkunft ihr Leben durch Terror, Folter oder im Gulag gelassen haben.

Nicht besser war die Situation im Zarenreich gewesen, wo ukrainisch-sprachige Publikationen einem Druckverbot unterlagen. Dies sogar Wiederholt: 1863, 1876 – 1906, 1914 – 1917. Autoren, die sich des Ukrainischen bedienten, wurden verspottet, sich einer schlechten Sprache zu bedienen, schikaniert, eingesperrt und verbannt. So etwa der ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko (1814 – 1861), der als einer der ersten gilt, der seine Gedichte und Lieder in seiner Heimatsprache verfasst hat. „Bäuerlich“ sei seine Sprache, ein primitiver Dialekt des Russischen. Nachdem er sich einem Geheimbund angeschlossen hatte, der für die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Gleichberechtigung der slawischen Völker im Zarenreich eintrat, wurde Schewtschenko verbannt und nach seiner Entlassung mit der Auflage belegt, kein ukrainisches Gebiet mehr zu betreten. Bis zu seinem Tod lebte er in St. Petersburg unter strenger Aufsicht.

Es liegt auf der Hand, dass die Autoren ständig mit sich rangen: Schreibe ich auf Ukrainisch oder auf Russisch? Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809 – 1852), ein gebürtiger Ukrainer, soll in einem Brief an eine Freundin geschrieben haben, dass er nicht wisse, ob er Russe oder Ukrainer sei. Wie ihm erging es vielen. Wer unter imperialer Kontrolle ungeschoren publizieren und zudem eine breitere Leserschaft erreichen wollte, musste sich der Sprache der Herrschenden bedienen.

 

Kein Staat, keine Nation, keine Nationalliteratur?

Mit Michail Gorbatschows Reformpolitik wendete sich in den späten 1980er Jahren das Blatt. Erst- und Neuveröffentlichungen bisher verbotener und vergessener Werke und Bücher, die nur im Ausland hatten erscheinen können, wurden zugänglich. Autoren brachen mit der sozialistisch-realistischen Tradition der Sowjetära und sagten sich vom ukrainischen Schriftstellerverband los, der 1934 als Verband der Sowjetischen Schriftsteller der Ukraine gegründet und 1959 in Schriftstellerverband der Ukraine (SVdU) umbenannt worden war.

Eine neue Autorengeneration trat auf, die sich am Westen orientierte, Liberalisierungen forderte und eine genuin ukrainische Identität einklagte. Motor dieser Bewegung war die 1985 in Lviv (Lemberg) gegründete Gruppe BU-BA-BU (Burlesk-Balahan-Buffonada, deutsch: Burleske-Farce-Posse), die anfangs im Untergrund agierte, später gingen aus Lemberg zahlreiche literarische Initiativen hervor. Ziel von BU-BA-BU war es, das Land gesellschaftlich, kulturell und sprachlich zu erneuern.

Traditionell wird im Westen Ukrainisch, im Osten hingegen Russisch gesprochen. Daneben existiert eine Mischform aus dem Russischen und dem Ukrainischen, das sogenannte Surzhyk, das vor und nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist.[1] Die Frage, welche Sprache man benutzt, wird in der ukrainischen Politik schärfer diskutiert und problematischer bewertet, als dies in der ukrainischen Lebensrealität der Fall ist. Die Sprachen koexistieren, die meisten Ukrainer sprechen Russisch und Ukrainisch. Was auch für Autoren gilt, die in beiden Sprachen veröffentlichen.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde 1989 das Russische durch das Ukrainische als einzige Amtssprache ersetzt und Maßnahmen zur Ukrainisierung des Bildungswesen und der Medien beschlossen. Das bis dahin sozial, kulturell und politisch dominante Russisch erhielt den niedrigeren Status einer geduldeten Verkehrssprache.

Nationalfarben © Sabine Münch

2012 ließ der damalige pro-russische Präsident Viktor Janukowitsch mit dem Gesetz „Über die Grundlagen der staatlichen Sprachpolitik“ Russisch wieder als Regionalsprache zu. Manchem mögen die tumultartigen Szenen und handgreiflichen Auseinandersetzungen noch in Erinnerungen sein, die anlässlich des Sprachengesetzes im ukrainischen Parlament losgebrochen waren. Einige Bezirke sowie Städte im Osten und Süden, darunter auch die Hafenstadt Odessa, ließen das Russische wieder als nahezu gleichberechtigte Sprache zu. Unmittelbar nach der Maidan-Revolution wurde das Gesetz in einer außerordentlichen Sitzung des Parlaments im Februar 2014 wieder gekippt.

Nachdem sich im Dezember 1991 in einem Referendum 90 Prozent der Bevölkerung für die Unabhängigkeit ausgesprochen hatten – übrigens mit klarer Mehrheit auch in den heutigen Separatistenhochburgen Donezk und Lugansk – stand nicht nur die Sprachenfrage, sondern auch die Frage nach dem Nationalbewusstsein und einer genuinen ukrainischen Identität an. Hier war ukrainisch-sprachige Literatur gefragt. In Vergessenheit geratene Klassiker wurden wieder oder neu entdeckt. Autoren wie Ljubko Deresch (geb. 1984), Oksana Sabuschko (geb. 1960), Jurij Andruchowytsch (geb. 1960), Jurko Prochasko (geb. 1970) oder Serhij Zhadan (geb. 1974) wurden auf Festivals und Lesungen gefeiert.[2]

Die literarische Szene entwickelte sich dynamisch, wenn auch unter schwierigen Bedingungen. Unabhängige Verlage und Buchhandlungen, die sich ukrainischer Literatur verschrieben haben, kämpfen mit immensen Schwierigkeiten.[3] Professionelle literaturvertreibende, -herstellende und -propagierende Strukturen fehlen weitestgehend und den Kulturkommissionen im Parlament mangelt es vielfach an Weitblick und Kompetenz. Zwar florierte eine junge ukrainische Szene, der Literaturbetrieb aber blieb russisch dominiert; der Markt wurde von niedrig-preisigen russischen Büchern überschwemmt, die in der Regel drei- bis viermal billiger sind als Titel aus ukrainischen Verlagen.

Mit Annexion der Krim und dem Bürgerkrieg im Osten wendete sich das Blatt. Die riesigen Verlagshäuser aus der Sowjetzeit, die in Kiew und anderen Großstädten ansässig gewesen waren, machten dicht. Auch viele der großen sowjetischen Buchhandlungsketten, die das Land einst mit einem mustergültigen Vertriebsnetz überzogen haben, wurden aufgelöst. An ihrer Stelle entstanden kleinere Sortimente und Buchkioske, die aber vornehmlich preisgünstige russische Importe anbieten. Trotz immer rigideren Versuchen seitens der Regierung, russische Literatur einzudämmen, heimsen russische Produktionen weiterhin einen Großteil des Umsatzes auf dem ukrainischen Markt ein.

Spätestens seit dem Bürgerkrieg im Osten steht die Frage, die sich Autoren seit dem 19. Jahrhundert schmerzhaft gestellt haben, wieder im Raum. Für die einen ist sie eine Frage der politischen Haltung, für andere (noch) eine Frage der Fertigkeit. „In der Regel beherrscht ein Schriftsteller eine der beiden Sprachen besser. Auch ich selbst habe einige meiner Essays ins Russische übersetzt und dabei festgestellt, dass mir im Russischen einige Nuancen und Ausdrucksmöglichkeiten fehlen. Mein Russisch ist viel ärmer als mein Ukrainisch.“ So Jurij Andruchowytsch in einem Interview mit der „Neuen Züricher Zeitung“ im März 2007.

 

Alter Wein in neuen Schläuchen

Eine erste Debatte über den Status der in der Ukraine auf Russisch erschienenen Bücher war bereits mit der Krimkrise entbrannt. Eine Quote sollte her, um den überbordenden Buch- und Filmimport aus Russland einzudämmen. Im August 2015 wurden Werke von 38 russischen Autoren aus dem Verkauf gezogen, die die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation befürwortet hatten. Im Dezember 2016 erließ Präsident Petro Poroschenko ein Gesetz, dass Bücher mit pro-russischer Tendenz in der Ukraine verbietet. Begründet wurde die Maßnahme mit dem Kampf gegen russische Propaganda.

Seither stehen Werke auf dem Index, die Russland und seine Führung verherrlichen, anti-ukrainisch sind oder totalitäre Ansichten vertreten, und Bücher, in denen zum Staatsstreich in der Ukraine, zum Krieg oder zum Rassenhass aufgerufen wird. Für das Fernsehen gilt, dass 75 Prozent der Nachrichten und Filme auf Ukrainisch sein müssen. Russische Produktionen werden ukrainisch untertitelt. Russische Fernseh- und Radiosender wurden eingestellt, im Mai 2017 der Zugang zu mehreren russischen Internetdiensten gesperrt, darunter das russische Facebook-Pendant VKontakte (VK).

Und Russland? Macht es nicht anders. Auf der Krim existieren keine ukrainischen Radio- und Fernsehsender mehr, Internetdienste wurden vom Netz genommen, ukrainische Zeitungen dürfen auf die Halbinsel nicht geliefert werden. Im Oktober wurde in Moskau – nicht zum ersten Mal – die „Bibliothek für Ukrainische Literatur“ von bewaffneten Polizeimannschaften durchsucht. Beschlagnahmt wurden Bücher, elektronische Datenträger, Dokumente und Zeitungen. Die Direktorin wurde verhaftet und im Juni 2017 zu vier Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.

Als „Missverständnis“ sollte sich die Festnahme des ukrainisch-sprechenden Serhij Zhadan herausstellen – so jedenfalls berichteten die „Ukrainer-Nachrichten“ im März 2017 über den Fall. Den Autoren, der in der Ostukraine zur Welt gekommen ist und 2014/15 verschiedentlich in die Kriegsgebiete im Donbass gereist war,[5] hatten weißrussische Polizisten in Minsk im Februar 2017 unter dem Vorwand festgenommen, ihm sei wegen einer „Teilnahme an terroristischen Aktionen“ eine Einreise in die Russische Föderation untersagt.

Odessa 2014 © Sabine Münch

In der heftigen Propagandaschlacht, die sich beiden Seiten liefern, scheinen nicht nur Bücher, auch das kulturelle Erbe zum Spielball geworden zu sein. Gestritten wird um große Namen; etwa um Anton Tschechow und Michail Bulgakow, um den großen Komponisten Sergei Prokofjew oder Maler wie Kasimir Malewitsch und Ilja Kabakow.[6] Besonders ins Auge gefallen ist mir in diesem Zusammenhang der „Kampf um Gogol“, eine Kontroverse, die anlässlich des 200. Geburtstages des bedeutenden Klassikers 2009 offen aufgebrochen war.

Richtig ist, dass Nikolai Gogol seine Werke auf Russisch verfasst hat, als junger Mann nach St. Petersburg gezogen war, später nach Moskau. Im Herzen aber blieb er Ukrainer, wo er aufgewachsen und zweisprachig erzogen worden war. Seine ersten literarischen Erfolge hat er mit folkloristischen Erzählungen über die ukrainische Heimat gefeiert. Im Alter litt Gogol an Schizophrenie. Er verbrannte Teile seines Oeuvres, darunter auch die Fortsetzung seines 1841 erschienenen Opus Magnum „Die toten Seelen“, an der er 1850/51 in Odessa gearbeitet hat, und hungerte sich zu Tode.

Beide Seiten reklamieren den Klassiker für sich. Ukrainische Neuübersetzungen merzen alles aus, was russisch anmutet. Die Russen wollen seine Herkunft vergessen machen lassen. Dabei wäre Gogol prädestiniert, Brücken zu schlagen. In der bereits zitieren Passage aus dem Brief an eine Freundin heißt es ausführlich: „… und weiß auch selber nicht, welche Seele ich habe, eine ukrainische oder eine russische. Ich weiß nur, dass ich weder dem Kleinrussen den Vorzug geben würde vor dem Russen noch dem Russen vor dem Kleinrussen. [Den Norden der Ukraine nannte man damals Kleinrussland.] Beide Naturen sind von Gott überreich beschenkt, und jede davon schließt das ein, was die andere nicht hat – ein deutliches Zeichen dafür, dass sie sich gegenseitig ergänzen müssen.“

Allein: in der zugespitzten politischen Lage tobt ein Kulturkampf; ein altbekannter. Wenn auch – zumindest aus ukrainischer Perspektive – unter umgekehrten Vorzeichen.

 

Eine kleine Reihe über die schreibenden Kinder und Besucher der Stadt kann man hier lesen.

 

Anmerkungen

Bis zu meinem Besuch in Odessa im Juli 2017 (dazu hier mehr) war auch mir die ukrainische Literatur ein unbeschriebenes Blatt. Umso erstaunter bin ich gewesen, wie reich die Hafenstadt am Schwarzen Meer auch in dieser Hinsicht ist. Zurückgekehrt nach Steglitz machte ich mich auf eine Spurensuche, die ich in loser Folge dokumentiere.

Empfehlenswert: Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 2017.

 

[1] Siehe dazu das Gespräch „Der Versuch, das Russische abzuschaffen, war eine Dummheit“ mit Gerd Hentschel, Professor für Slavistische Sprachwissenschaft an der Universität Oldenburg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Juli 2014.

[2] Von allen Genannten liegen Übersetzungen ins Deutsche vor.

[3] Einen lesenswerten Bericht über die Situation des unabhängigen Buchhandels in Odessa in Zeiten des Bürgerkriegs kann man bei Deutschlandfunk Kultur nachlesen

[5] Seine Eindrücke im Donbass hat Serhij Zhadan in Prosaarbeiten und in Gedichten verarbeitet: „Warum ich nicht im Netz bin“ und „Mesopotamien“. Beide Titel sind 2015 bei Suhrkamp erschienen.

[6] Siehe hierzu etwa: Gogol – großer Russe oder großer Ukrainer?, in: Die Presse vom 23. August 2015.

Odessa: Die Stadt der Literatur und der Hunde

„Wir sind glücklich, dass sie auf uns aufpassen.“  Eine Reise in die Ukraine – Teil 1

Wenig weiß man in Westeuropa über die Ukraine. Und das, was man zu wissen meint, ist mit Klischees und Vorurteilen durchsetzt: Misswirtschaft, Korruption, Kriminalität, Prostitution. Wenn überhaupt darüber berichtet wird, dann sind das die großen Themen. Seit Annexion der Krim, dem formalen Beitritt der Halbinsel zu Russland im März 2014 infolge eines spontan abgehaltenen Referendums und dem Bürgerkrieg in den Gebietskörperschaften Donezk und Lugansk in der Ostukraine ist es zudem schwierig geworden, sich jenseits von westlicher und russischer Propaganda über Land und Leute eine Meinung zu bilden.

Nationalfarben © Sabine Münch

Mit einer Delegation des Deutschen Tierschutzbundes war ich im Juli 2017 vor Ort. In Odessa am Schwarzen Meer, das übrigens nicht schwarz, sondern smaragdgrün ist. Vom Flieger aus ebenfalls sofort auffällig: plattes Land, riesige Anbauflächen. Und, in der Tat, rund 32 Millionen Hektar Ackerland gibt es dort; was etwa einem Drittel der Ackerfläche der gesamten Europäischen Union entspricht. Da sich hier große Mengen an nährstoffreicher Schwarzerde befinden, sind die Anbauflächen bei ausländischen Investoren sehr begehrt.

Das Gebiet um Odessa, die „Oblast Odessa“, liegt geopolitisch in einer ungünstigen Lage: eingekesselt zwischen der Halbinsel Krim im Osten und Transnistrien im Südosten. Eine Republik am Ufer des Dnjestr, die sich im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion von Moldawien abgespaltet hat. 1992 gipfelte der Konflikt in einem kurzen blutigen Krieg. Transnistrien, eine der größten europäischen Drehscheiben für Geldwäsche und den Handel mit Drogen und Waffen, ist international nicht anerkannt, wird aber von Russland unterstützt. Die Hauptstadt heißt Tiraspol. – Unweit davon ist mein Großvater väterlicherseits im April 1944 gefallen.

Anflug auf Odessa © GvP

Odessa weist einige Superlative auf. Mit 1.02 Millionen Einwohnern ist sie die drittgrößte Stadt der Ukraine. Neben dem größten Hafen des Landes, der von Anbeginn ein geostrategisches Projekt Russlands gewesen ist, befindet sich in der „Hauptstadt des Südens“ mit der „Nationalen Metschnikow Universität“, nach einem Zoologen benannt, auch eine der ältesten und größten Universitäten des Landes.

Erbaut wurde Odessa auf Geheiß von Katharina der Zweiten, genannt die Große. Nach dem Russisch-Türkischen Krieg 1787 – 1792 war das fruchtbare Steppenland um Odessa vom Osmanischen an das Russische Reich gefallen. Nun ging es darum, den osmanischen Einfluss langfristig einzudämmen. 1794 beauftragte die Zarin ihren damaligen Liebhaber, Admiral Josif de Ribas, an der strategisch bedeutsamen Stelle am Schwarzen Meer einen Hafen zu bauen. Dort sollte eine Vorzeigemetropole des „neuen Russland“ entstehen, die mediterrane Antwort auf St. Petersburg.

Aus dem Vorhaben wurde Realität. Hafen und Stadt entwickelten sich rasch zu einem wichtigen Umschlagplatz. Odessa boomte, Handel und Kultur blühten. Russische, italienische, griechische und jüdische Kaufleute ließen sich nieder, auch Deutsche, Franzosen und Polen zog es dorthin. Bereits hundert Jahre nach ihrer Gründung war Odessa die viertgrößte Stadt im Zarenreich. Es gab eine Oper, eine Börse, eine Kathedrale. Bald galt die schmucke Küstenstadt, die „Perle am Schwarzen Meer“, als „Riviera“ des Zaren- und später des Sowjetreichs.

Hafen von Odessa © Sabine Münch

Bis in die heutigen Tage wird Odessa in russischen Kulturkreisen als „russische“ oder „russisch-jüdische“ Stadt wahrgenommen. Es gibt kaum eine russische Familie ohne Verwandte in der Ukraine und umgekehrt. Entsprechend eng ist die Identität der Odessiten mit Russland verwoben.[1] Nach offiziellen Angaben sind 30 Prozent der Stadtbevölkerung ethnisch russischstämmig.

Andererseits war Odessa ein Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen; eine multi-ethische, kosmopolitische und weltoffene Hafenmetropole, die Intellektuelle, Künstler und Freidenker anzog. Alexander Puschkin, der Teile seines Versepos „Eugen Onegin“ 1823/24 im Odessiter Exil verfasste, hat das Stimmengewirr in den Straßen beschrieben. Hier atme man Europa, soll er über Odessa gesagt haben. Genau diese Vielfalt war totalitären Machthabern verhasst. Die Bolschewiken vertrieben die Franzosen und Italiener, Stalin die Griechen und die Schwarzmeerdeutschen, die Nationalsozialisten, die Odessa im 2. Weltkrieg besetzt hatten, die Juden. 100.000 Odessiter Juden sind den Pogromen zum Opfer gefallen.

in Odessa © Sabine Münch

Vom Sprachengewirr aus Russisch, Griechisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Jiddisch kam mir nichts zu Ohren. – Und mit Englisch, dem Idiom, mit dem ich mich halbwegs vor Ort hätte durchschlagen können, haben es die Odessiten nicht. – Nach der Unabhängigkeit wurde per Dekret Ukrainisch als einzige offizielle Landessprache festgelegt, obwohl ein Großteil der Bevölkerung, vorwiegend im Osten des Landes, Russisch spricht. So sie sich nicht eines besonderen Dialekts bedienen, der sich unter dem Einfluss der jiddischen und ukrainischen Sprache entwickelt hat, sprechen die Odessiten im Alltag überwiegend Russisch. Die Amtssprache freilich ist Ukrainisch.

Schilder auf den Straßen oder dem Flughafen sind sowohl in ukrainischer wie in russischer Sprache gehalten. Mit leichten Abweichungen gebrauchen beide Sprachen die kyrillische Schrift. Die Orthografie wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dem Russischen angepasst. Mancher Ukrainer hält jedoch an der Rechtschreibung fest wie sie bis in die 1920er Jahre gültig gewesen ist.

Odessa © Sabine Münch

Die pittoreske Hafenstadt ist arm und reich zugleich. Reich an Kultur, mittelos ist ein Großteil der Bevölkerung, vor allem in den Vorstädten und im Umland. Zu Sowjetzeiten war die Reederei mit 318 Schiffen und 25.000 Seeleuten eine der größten weltweit. Nach der Unabhängigkeit wurde die Reederei privatisiert, die Schiffe teilweise zu Schleuderpreisen ins Ausland verkauft. Trotzdem konnte sich Odessa bis zur Krimkrise als bedeutendster Umschlaghafen des Schwarzen Meeres halten. Ein Drittel der Arbeitsplätze war damals mit dem Hafen und dem Meer verknüpft.

Seit der Krimkrise und den Kämpfen in der Ostukraine legen keine russischen Handelsschiffe mehr im Hafen an. Die devisenbringenden Touristen aus dem Westen und die zahlreichen wohlhabenden Russen, die bis 2014 gerne in die liberale Stadt mit südländischem Flair gereist sind, bleiben fort. Und die großen internationalen Kreuzfahrtschiffe, die regelmäßig in Odessa Station gemacht haben? Die laufen stattdessen das bulgarische Warna an. Womit sich vielen Odessiten, die vom Hafen und dem Tourismus gelebt haben, kein Auskommen und keine berufliche Perspektive mehr in der Hafenstadt bieten.

Fassade © Sabine Münch

Die Ukraine zählt heute zu den ärmsten Staaten Europas. Das Durchschnittseinkommen liegt bei unter 300 Euro, der Mindestlohn bei 51 Euro. Mancher Rentner bezieht lediglich 80 Euro – und dies bei Preisen, die für die dortigen Verhältnisse recht hoch sind. Zudem ist der Griwna (1 Euro = 30 Griwna) – dessen Scheine nur mit Mühe in mein Portemonnaie passten, das auf Euroscheine geeicht ist – keine stabile Währung. Die Inflation ist hoch. Im ersten Halbjahr 2017 stiegen die Verbraucherpreise um 13,8 Prozent gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum. Vor allem junge, gut ausgebildete Kräfte zieht es fort ins Ausland. Die Visumspflicht, die im Juni 2017 für Ukrainer entfallen ist, mag das erleichtern.

Da die Krim als einstiges Lieblingsurlaubsziel der Ukrainer weggefallen ist, waren die Strände in Odessa bei unserem Aufenthalt im Juli 2017 gut besucht. Reges Treiben herrschte auch im „Istanbul Park“ an der berühmten Potemkin-Treppe, neben der Oper dem Wahrzeichen der Hafenstadt. Die gepflegte Anlage erinnerte mich an die Gönneranlage im Kurort Baden-Baden. Picobello sauber, akkurat geschnittener Rasen, Blütenpracht – alle zehn Meter ein Hinweisschild, dass Hunde nicht erwünscht sind.

Blick von der Potemkin-Treppe © Sabine Münch

Der Park, der im Mai 2017 offiziell übergeben wurde, ist ein Geschenk der Türkei anlässlich des 20. Jahrestages der Städtepartnerschaft zwischen Istanbul und Odessa. Die Potemkin-Treppe mit ihren 192 Stufen, die unten fast zweimal breiter sind als oben, hat Mark Twain 1869 so beschrieben: „Eine riesige Flucht steinerner Stufen führte hinunter zum Hafen … Es ist eine prächtige Treppe, und von weitem wirken die Menschen, die sich hinaufplagen, wie Insekten.” Hinaufplagen muss sich heute niemand mehr, da eine Zahnradbahn in Betrieb genommen wurde.

Auf mich wirkte die ursprünglich aus Muschelkalk um 1840 erbaute Treppe unscheinbar. Grauer Granit aus den frühen 1930er Jahren, der Zeit ihrer letzten Renovierung. Ein vollkommen anderer Eindruck als in Sergeji Eisensteins Stummfilm „Panzerkreuzer Potemkin“ mit der beeindruckenden Szene, in der ein Kinderwagen – gleichsam in Zeitlupe – die Stufen der Potemkinschen Treppe hinabrollt. Wegen dieser Sequenz wohl gilt sie als die berühmteste Treppe der Welt.

Legendär sind auch die Katakomben von Odessa, ein circa 2.500 Kilometer langes Tunnelsystem, das sich bis in die Außenbezirke erstreckt. Kurz nach Gründung 1792 hatte man begonnen, direkt unter der Stadt Sandstein abzubauen. Mit den Stollen hat sich ein weit verzweigtes Netz gebildet, in dem die Gesetze aus der Oberwelt außer Kraft gesetzt waren. Das Labyrinth, in dem sich heute keiner mehr zurechtfindet, haben ehedem unterschiedlichste Menschen genutzt. Es bot Gaunern, Verbrechern und Seeräubern, aber auch religiösen Minderheiten, politisch Verfolgten und den Partisanen Zuflucht, die sich während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg dort versteckt hielten.

Sandstrand in Odessa © GvP

Außer meiner Geburtsstadt Baden-Baden erinnerte mich Odessa auch an eine Hafenstadt im Atlantik: Las Palmas auf Gran Canaria, wo ich an der dortigen „Deutschen Schule“ die Mittlere Reife ablegt habe. Aufgehübschtes neben Heruntergekommenem. Aufwändig restaurierte Gebäude, die europäische Architekten ab Ende des 18. Jahrhunderts in Odessa geschaffen haben, neben Bürgerhäusern von denen der Putz bröckelt. Manches Wohnhaus wirkte so baufällig, dass ich mir nur schwer vorstellen konnte, dass es bewohnt ist.

Neoklassizismus, Empire und Jugendstil sowie die „russische Moderne“ der 1910er Jahre prägen das Stadtbild. Etliche Bausünden gibt es auch: quadratisch-funktional. Aus der sowjetischen Ära und der ersten Wende-Zeit nach der Unabhängigkeit von Russland. Bau-Flops neueren Datums finden sich ebenfalls. So hat der Stadtrat am unteren Ende der Potemkin-Treppe die Errichtung eines Hotel-Kolosses genehmigt. Von dort strebt ein Wolkenkratzer (siehe Bild oben) in den Himmel, der den Blick von der Treppe auf die Hafenbucht verstellt, aber nie genutzt wurde, leer steht. Auch an anderen exponierten Orten in der Stadt haben ausländische Investoren frei nach dem Motto „Geld zählt mehr als Denkmalschutz“ ihr Glück gesucht – und sich verspekuliert. Etwa unweit vom Stadtgarten, einem beliebten Treffpunkt der geselligen, lebensfrohen Odessiten. Das imposante, aufwändig restaurierte Gebäude steht seit Jahren leer. Zum Ärger der Odessiten.

quadratisch-funktional © Sabine Münch

Die „guten Onkels“ sind in der Ukraine ein geflügeltes Wort für die unsichtbaren Strippenzieher, die mit ihrem Geld das Geschehen bestimmen. Bürgermeister Gennadij Truchanow, seit Mai 2015 in Odessa im Amt, tauchte in den berühmt-berüchtigten Panama-Papers als Eigner mehrerer Briefkasten-Firmen auf. Er ist Hobby-Thaiboxer und besitzt ein florierendes Bauunternehmen. Nachgesagt wird ihm, die Medien, den Stadtrat und die Geschäftsleute fest im Griff zu haben und Beziehungen zur Unterwelt zu pflegen. Für Aufsehen (sogar in den hiesigen Medien) sorgte sein Machtkampf mit dem ehemaligen Gouverneur der Regionalen Staatsverwaltung von Odessa, Michail Saakaschwili, den Präsident Petro Poroschenko im Mai 2015 eingesetzt hat, um die Korruption, mafiöse Strukturen und alte Seilschaften effektiv zu bekämpfen.

der Bauflop am Stadtgarten © GvP

Am Ende konnte sich Bürgermeister Truchanow durchsetzen, der für das alte System stehen und eine pro-russische Linie vertreten soll. Saakaschwili, der nicht von allen Odessiten gut gelitten war und in der Bevölkerung zunehmend an Rückhalt verlor, warf im November 2016 das Handtuch. Als dessen Nachfolger bestimmte Poroschenko, der nach der Maidan-Revolution im Juni 2014 ins Präsidialamt gewählt wurde, im Januar 2017 Maksym Stepanow.

Sicherlich gibt es zahllose Geschichten, die über die Hafenstadt berichtet werden könnten. Mit seinen „Geschichten aus Odessa“ hat der sowjetische Schriftsteller Isaak Babel der Halbwelt ein literarisches Denkmal gesetzt. „Odessa ist eine abscheuliche Stadt. Das weiß jedermann“, schrieb er 1916. Strippenzieher, Markenfälscher und Gauner, Schmuggler und Schmiergeldzahler, Waffenhändler und Mafiosi – der Mythos, die Stadt der Gauner und der Sünde zu sein, haftet Odessa bis heute an.

Marken-Piraterie © Sabine Münch

Diesem Leumund wird der größte Schwarzmarkt Europas gerecht, der vor den Toren Odessas liegt. Am siebten Kilometerstein, weshalb er offiziell den Namen „7. Kilometer“ trägt. Ein Staat in der Oblast Odessa mit eigenen Gesetzen und Regeln. Die Verkaufsfläche, die aus 3.000 ausrangierten, bemalten Schiffscontainern besteht, erstreckt sich über 750.000 Quadratmeter. 60.000 Menschen aus 32 Nationen arbeiten in der Händlerstadt, die vom Nike- und Gucci-Imitat über Autos und Waschmaschinen, CDs und Computer, Babyschnuller, Gebrauchsgegenstände und Nahrungsmittel alles bietet, was das Herz begehrt. Nicht grundlos heißt der Schwarzmarkt unter Einheimischen „Feld der Wunder“.

Als der Krieg im Osten der Ukraine begann, war es auch in Odessa zu Sympathiebekundungen für Russland gekommen. Verschiedentlich zu Zusammenstößen zwischen pro-ukrainischen und pro-russischen Kräften. Am 2. Mai 2014 eskalierte eine Straßenschlacht. Abends wurde das Gewerkschaftshaus, in das sich die pro-russischen Aktivisten zurückgezogen hatten, durch Molotow-Cocktails in Brand gesetzt. Der Hergang, der ungeklärt geblieben ist, forderte 48 Tote, darunter mehrheitlich pro-russische Aktivisten, und über 200 Verletzte.

Odessa 2014 © Sabine Münch

Von diesen Spannungen war bei unserem Aufenthalt nichts spürbar. Auch der Krieg im Osten – knapp 650 Kilometer von Odessa entfernt – war nicht greifbar. Lediglich für einen kurzen Moment wurde mir vor Augen geführt, dass die Ukraine seit dreieinhalb Jahren in einem Bürgerkrieg steht. Dann nämlich als ein martialischer Kampfhubschrauber mit ohrenbetäubendem Lärm aufstieg. Irritiert wandte ich mich an unsere Dolmetscherin Valentina. Sie lächelte: „Wir sind glücklich, dass sie auf uns aufpassen.“ – Gemeint war die Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE), die den brüchigen Waffenstillstand überwacht, der mit dem Friedensabkommen von Minsk 2015 ausgehandelt wurde. Bisher hat der Krieg im Osten mehr als 10.000 Opfer gekostet.

 

Eine kleine Reihe über die schreibenden Kinder und Besucher der Stadt kann man hier nachlesen.

Einige Gedanken darüber, warum wir so wenig über die Literatur wissen, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine entstanden ist, habe ich hier dargelegt.

 

Anmerkungen:

[1] Im Westen wird die Ukraine gemeinhin als eine tief gespaltene Gesellschaft wahrgenommen, als Zankapfel und Schlachtfeld zwischen Russland und dem Westen dargestellt. Hintergrundinformationen über die konfliktentscheidenden Ost-West-Gegensätze in der Ukraine liefert ein kenntnisreicher Essay von Andrij Portnov: Postsowjetische Hybridität und „Eurorevolution“ in der Ukraine, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2014/47-48.

Wer sich detailliert über die Geschichte und Entwicklung der Hafenstadt informieren möchte, wird im Online-Lexikon zur Geschichte der Deutschen im östlichen Europa der Carl-von-Ossietzky der Universität Oldenburg fündig

 

Mein Brief an die Bundeskanzlerin

Verehrte Frau Bundeskanzlerin,

liebe Frau Dr. Merkel,

lassen Sie mich voranschicken, dass mein Herz linksliberal schlägt, nicht konservativ. Niemals wäre ich auf den Gedanken verfallen, Ihrer Partei meine Stimme zu geben. Ins Straucheln geriet ich bei den jüngsten Berliner Wahlen. Sollte ich mein Kreuz etwa bei Ihrer Partei machen, um Ihnen den Rücken zu stärken? Da ich mich nicht dazu überwinden konnte (und es Ihnen zudem auch nicht geholfen hätte), schreibe ich Ihnen diese Zeilen.

Sie sind mir lange fremd geblieben. Vielleicht haben Sie sich ein wenig zu viel von der „Eisernen Lady“ Margret Thatcher abgeguckt? Trotz vieler Verdienste, nicht zuletzt auch für uns Frauen, bin ich mit Ihnen nicht warm geworden. Bis zu jenem Moment, als Sie im Spätsommer vergangenen Jahres in der Flüchtlingsfrage Haltung bewiesen haben. In dieser Krise wirkten Sie auf mich authentisch; nicht getrieben von Sachzwängen, Machtspielen und Proporz.

Hören Sie auf, unter Druck zurückzurudern und Fehler in der Flüchtlingskrise einzugestehen. Wir können uns nicht aus der Verantwortung stehlen. Unerträglich ist, wie man Sie zerlegt und damit den Rechten in die Hände spielt. Auch wenn die „Merkel muss weg“-Rufe anderes evozieren: Nicht Sie sind das Problem, sondern Ihre zerstrittenen Parteikollegen, die Ihnen aus der Angst heraus, Stimmen und Macht zu verlieren, permanent in den Rücken fallen. – Der Ton, dem sich so mancher im Umgang mit Ihnen befleißigt, vergiftet das Land.

Davon abgesehen will mir nicht einleuchten, warum sich alle Welt auf ein – völlig aus dem Zusammenhang gerissenes – „wir schaffen das“ kapriziert. Schließlich haben Sie mit dem Satz: „Wir schaffen das, und wo uns etwas im Weg steht, muss es überwunden werden“ nicht gesagt, dass uns keine Schwierigkeiten bevorstünden. Im Gegenteil: Ich habe Ihren Satz dahingehend verstanden, dass Sie uns dazu ermutigen wollten, die Probleme anzupacken, die bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise anstehen.

So ich eine persönliche Bitte äußern darf: lassen Sie es nicht weiter zu, dass man Sie demontiert.

Mit guten Wünschen

Gesine von Prittwitz

Herr Braunsdorf, was meinen Sie, was wäre zu tun, damit der Buchhandel zukunftsfähig bleibt?

Zoë Beck, Lorenz Borsche, Boris Langendorf und Stefan Weidle standen mir im Vorfeld der Diskussionsrunde „Wie groß ist die Zukunft des Buches?“ dankenswerterweise hier Rede und Antwort. Nun kann man sich fragen, warum ich nicht auch beim Initiator der Veranstaltung, Jörg Braunsdorf, nachgehakt habe?

Hab‘ ich! Der Beitrag ist gestern in der Rubrik Das Sonntagsgespräch bei Buchmarkt online erschienen.

Logo © Tucholsky-Buchhandlung

Logo © Tucholsky-Buchhandlung

 

Die Gesprächsrunde, von der Jörg Braunsdorf sich auch Signale an die Politik und den Börsenverein für den deutschen Buchhandel erhofft, findet am Dienstag, den 3. Juni 2014, um 19.00 Uhr in der Tucholskystr. 47 in Berlin/Mitte in der Tucholsky-Buchhandlung statt. Der Eintritt ist frei, um Voranmeldung, entweder per E-Mail  [kurt(at)buchhandlung-tucholsky(dot)de] oder via Facebook, wird gebeten.

Gäste sind: Siegmund Ehrmann, MdB (Vorsitzender des Ausschusses für Kultur und Medien), Zoë Beck (Autorin und e-Book-Verlegerin CulturBooks), Lorenz Borsche (Vorstand der buchhändlerischen Genossenschaft eBuch), Boris Langendorf (freier Publizist), Daniel Leisegang (Politikwissenschaftler, Redakteur der Monatszeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ und Autor von „Amazon. Das Buch als Beute”) und Stefan Weidle (Verleger und Vorsitzender der Kurt-Wolff-Stiftung).

LiteraturFutur 24. / 25. Mai 2013 Sieben visuelle Schlaglichter mit Bonus „Lobo-Protuberanz“

Himmel über Itzum

Himmel über Itzum/Hildesheim © GvP

LitFortune - das Britzel-Quiz

LitFortune – das Britzel-Quiz © GvP

FuturLight

FuturLight © GvP

Lobo-Protuberanzen

Lobo-Protuberanzen © GvP

LitTec

LitTec © GvP

Laura Klatt, Hauke Hückstedt (Ex-Bison-Raucher)

FuturTalk mit Laura Klatt und Hauke Hückstedt (Ex-Bison-Raucher) © GvP

castrum LiteraturFuturums

castrum LiteraturFuturums (Domäne Marienburg, Kulturcampus der Universität Hildesheim) © GvP