Vom Mangel zum Überfluss. Die Wende und der DDR-Buchhandel

Womöglich habe ich mir mit dem Vorhaben, die Geschichte des DDR-Buchhandels auszuloten, zu viel vorgenommen? Je länger mich die Materie allerdings beschäftigt, desto mehr Fragen stellen sich, die nur diejenigen beantworten können, die dabei gewesen sind.

Trotzdem habe ich Mut zur Lücke: In fünf Folgen werde ich darlegen, was ich bisher zur Entwicklung des Buchhandels in der DDR (Teil 1 – 4) und nach der Wende (Teil 5) trotz spärlicher Quellen recherchiert habe. – Warum wage ich diese Skizze? Weil ich mir erhoffe, dass sich Zeitzeugen einfinden, die das eine und andere aus der eigenen Erfahrung zurechtrücken und/oder Lücken schließen.

Eine Zusammenstellung der verwendeten Quellen findet sich hier. Die vorangegangenen Folgen kann man hier nachlesen

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Autokennzeichen der DDR © GvP

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Nach dem Mauerfall ging es im volkseigenen Buchhandel offenbar heiß her. Am 10. Januar 1990 räumte die Zentrale Leitung auf einer Krisensitzung ein, die Kontrolle über die Betriebe des Volksbuchhandles verloren zu haben. Im März wurde den Mitarbeitern darauf die Möglichkeit eingeräumt, ihre Verträge fristlos zu kündigen. Gebrauch davon machten zahlreiche kleinere Kommissionsbuchhandlungen. Das waren ehemals privat betriebene Buchhandlungen, die, um ihr Überleben zu sichern, sich zu einer Zusammenarbeit mit dem Volksbuchhandel entschlossen hatten. Es kam schließlich zu einem Misstrauensantrag gegen den amtierenden Hauptdirektor Heinz Börner, der im Mai scheiterte.

Mit den Beschlüssen der Übergangsregierungen unter Hans Modrow und Lothar de Maizière, die volkseigenen Betriebe aufzulösen und eine „Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums“ einzusetzen, ging die Ära des zentralistisch gesteuerten DDR-Buchhandels zu Ende. Heinz Börner erhielt die kultusministerielle Weisung, den volkseigenen Buchhandel abzuwickeln. Im August wurden sowohl die „Ordnung für den Literaturvertrieb“ als auch das „Statut des Volksbuchhandels“ außer Kraft gesetzt. Die Buchbetriebe des Volksbuchhandels, die in den damals noch existierenden 15 Bezirken bestanden, wurden in Gesellschaften umgewandelt; in Ostberlin entstanden zwei. Kaum eine dieser Gesellschaften, die zumeist von den ehemaligen Bezirksdirektoren des Volksbuchhandels geleitet wurden, hielt sich aus eigener Kraft länger als ein Jahr am Markt.

  • Nordbuch, Rostock
  • Mecklenburgische Buchhandelsgesellschaft, Schwerin
  • Bücherfreund, Neubrandenburg (mit Sitz in Waren)
  • Kurmärkische Buchhandelsgesellschaft, Potsdam
  • Märkische Buchhandelsgesellschaft, Frankfurt/Oder
  • Lectio-Buchhandelsgesellschaft, Cottbus
  • Anhaltiner Buchhandlungen, Magdeburg
  • Hallesche Buchhandelsgesellschaft, Halle
  • Thüringer Buchhandelsgesellschaft, Erfurt
  • Ostthüringer Buchhandelsgesellschaft, Gera (mit Sitz in Jena)
  • Südthüringer Buchhandelsgesellschaft, Suhl
  • Buchhandelsgesellschaft Buch und Kunst, Dresden
  • Leipziger Buchhandelsgesellschaft, Leipzig
  • Buch-Tour Buchhandels- und Reisevermittlungsgesellschaft, Karl-Marx-Stadt
  • Berliner Buchhandelsgesellschaft, Berlin
  • Buchhandelsgesellschaft Ex litterae, Berlin

Der Eintrag zur Liquidation der Zentralen Leitung des Volksbuchhandels ins Handelsregister erfolgte am 4. Dezember 1990. Die letzten Unterlagen aus Börners Hand übernahm der bestellte Abwickler am 31. August 1991. Heute residiert im ehemaligen Leipziger Gebäude der Zentralen Leitung in der Friedrich-Ebert-Straße 25 eine Rechtsanwaltskanzlei. Heinz Börner wechselte zum LKG.

Ab sofort war nichts mehr wie es war. Dass das System nach der friedlichen Revolution in sich zusammenfallen sollte wie ein Kartenhaus, damit hatte auch im Buchhandel keiner gerechnet. Nach dem 1. Juli 1990, dem Tag der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, räumten die Buchhändler Lager und Regale leer, um für die begehrten Westbücher Platz zu schaffen. Wie Heinz Börner berichtet, beliefen sich die Ausbuchungen im ersten Halbjahr 1990 auf einen Wert von rund 70 Millionen Ost-Mark, das soll 40% aller seit dem Jahr 1954 vom Volksbuchhandel ausgebuchten Bestände entsprochen haben. Die Gesamtsumme der Remittenden, die nach der Währungsunion bei LKG lagerten, bewegte sich im dreistelligen Millionenbereich der nach der Vereinigung geltenden Währung DM. (Petry 2001, S. 180.)

Einmal wieder platzte die Zentrale Auslieferung LKG aus allen Nähten. Das traf auch SERO, eine Abkürzung für das VEB Kombinat Sekundär-Rohstofferfassung, über das gewöhnlich makuliert wurde. Schließlich wusste man sich hier nicht mehr anders zu helfen, als Bücher, die die Geschichte vermeintlich eingeholt hatte, tonnenweise in die stillgelegten Teile des Braunkohletagebaus Espenhain zu kippen, wo sie unterpflügt wurden. Darunter befanden sich auch jene, die vor kurzer Zeit bei den DDR-Lesern noch stark nachgefragt worden waren. Nicht anders verfuhren die ostdeutschen Verlage, die nahezu ihre kompletten Bestände bei Recyclinghöfen ablieferten. Darin inbegriffen die Neuerscheinungen, die nach dem Wegfall der Zensur entstanden waren. – Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang dem niedersächsischen Pastor Martin Weskott zu, der sich ab 1991 über 200-mal zu den Abfallhalden aufmachte, um die Bücher vor dem Vergessen zu retten. Im Büchermagazin in Katlenburg lagern heute über eine Million ausrangierter DDR-Titel aller nur denkbaren Genres.

Im Herbst 1990 hatte der volkseigene Buchhandel faktisch aufgehört zu existieren. Am 23. November 1990 wurde die „Leitlinie zur Bewertung von Buchhandlungen“ vom Vorstand der Treuhandanstalt verabschiedet, die nicht ohne Folgen bleiben sollte. Während die Anstalt unter Detlev-Karsten Rohwedder anfangs noch die Linie vertrat, möglichst viel von der kulturellen Substanz Ostdeutschlands erhalten zu wollen, verfolgte die CDU-Politikerin Birgit Breuel, die nach Rohwedders Ermordung dessen Amt übernahm, eine Politik der zügigen Verkäufe. Heute befinden sich nahezu sämtliche Großbetriebe des DDR-Volksbuchhandels in der Hand von westdeutschen Eigentümern. So auch der Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel LKG, der 1989 mit seinen damals 1.200 Mitarbeitern noch einen Umsatz von 1,2 Milliarden Ost-Mark gestemmt hat. Die Verlagsauslieferung, die im Zuge eines MBO Management-Buy-Out von Jürgen Petry und einer 60-köpfigen Mannschaft vor dem Aus gerettet wurde, gehört seit 2009 zu KNO VA, der Koch, Neff & Oettinger Verlagsauslieferung in Stuttgart.

Dass ein flächendeckendes Sterben kleinerer Sortimenter aufgehalten wurde, ist dem Börsenverein für den deutschen Buchhandel zu danken. Große westdeutsche Filialisten begannen, den ostdeutschen Buchmarkt aufzurollen und sich Filetstücke zu sichern. Nachdem die Thurn & Taxis Beteiligungsgesellschaft die volkseigenen Buchhandlungen im Bezirk Dresden en bloc gekauft hatte (Buchhandelskette Buch und Kunst, die heute zu Thalia gehört), warnten die Vorsteher der Börsenvereine Frankfurt und Leipzig in einem gemeinsamen „Memorandum für mittelständische Strukturen im DDR-Buchhandel“ im Mai 1990 vor den Gefahren der Monopolisierung. In der Folge wurde die umstrittene „Leitlinie zur Bewertung von Buchhandlungen“ revidiert und mit der Treuhand der Deal ausgehandelt, dass Angestellten aus dem Volksbuchhandel bei allen Buchhandlungen im Wert unter einer Million DM ein Vorkaufsrecht in Anspruch nehmen konnten. Legt man die Zahlen zugrunde, die Börner/Härtner (2012) dokumentieren, kann man annehmen, dass von den 707 Objekten, die Ende 1989 zum Volksbuchhandel gehörten, immerhin knapp die Hälfte an ehemalige Mitarbeiter gegangen ist.

Die Umstellung von der sozialistischen Planwirtschaft auf die Marktwirtschaft verlangte von jedem Einzelnen enorme persönliche Anstrengungen ab – und das binnen kürzester Zeit. Zwar organisierten der Börsenverein, die Frankfurter Buchmesse, westdeutsche Verlage und Verlagsauslieferungen zum Zwecke der Markteingliederung für den ostdeutschen Buchhandel unterschiedliche Hilfs- und Patenschaftsprogramme, die sicher nicht alle frei von Eigennutz gewesen sind. Freilich waren die Versuche, den ostdeutschen Kollegen auf die Sprünge zu helfen, nicht mehr als der Tropfen auf den heißen Stein. Sie hatten den Boden unter den Füßen verloren, die Zukunft des Landes war ebenso ungewiss wie die persönliche Existenz. Würde die Marktwirtschaft dem ostdeutschen Buchhandel tatsächlich das versprochene Heil bringen?

Viele Buchhandlungen, die von ehemaligen Mitarbeitern aus dem Volksbuchhandel und dem Buchvertrieb der Nationalen Volksarmee mit großem Engagement weitergeführt wurden, existieren heute nicht mehr. Darunter auch prominente Namen. Die Leipziger Hinrichs´sche Sortimentsbuchhandlung schlidderte bereits im Herbst 1991 in die Liquidation – drei Monate zuvor hatten die Angestellten noch das 200-jährige Firmenjubiläum gefeiert. Die renommierte Brecht-Buchhandlung, die 1990 von zwei Mitarbeiterinnen übernommen worden war, musste im Juli 2003 ihr Aus vermelden. Die Karl-Marx-Buchhandlung am Alexanderplatz, zu DDR-Zeiten für Westberliner Studenten und Links-Intellektuelle ein Mekka, machte 2008 dicht.

Welches Schicksal widerfuhr privat geführten Sortimenten nach der Wende? Hier kann man nur mutmaßen. Nach Dietrich Löffler soll LKG im Jahr 1987 noch 203 private Buchhandlungen beliefert haben. (Löffler, o.J., S. 31). Zum Vergleich: Laut Jürgen Petry gehörten zum Jahresende 1970 immerhin noch 802 private Sortimenter zum Kundenkreis der LKG. (Petry 2001, S. 106.) – Sicherlich hat es nicht nur die Erfurter Buchhandlung Peterknecht geschafft, sich auch nach 1990 zu behaupten und am Markt neu zu positionieren …

In der kommenden Woche lesen wir hier einen Gastbeitrag von André Gottwald zur Situation der Druckereien in der DDR

Mangel im Überfluss: „Von einer Auswahl kann niemals die Rede sein.“ Buchhandel in der DDR (Teil 4)

Womöglich habe ich mir mit dem Vorhaben, die Geschichte des DDR-Buchhandels auszuloten, zu viel vorgenommen? Je länger mich die Materie allerdings beschäftigt, desto mehr Fragen stellen sich, die nur diejenigen beantworten können, die dabei gewesen sind.

Trotzdem habe ich Mut zur Lücke: In fünf Folgen werde ich darlegen, was ich bisher zur Entwicklung des Buchhandels in der DDR (Teil 1 – 4) und nach der Wende (Teil 5) trotz spärlicher Quellen recherchiert habe. – Warum wage ich diese Skizze? Weil ich mir erhoffe, dass sich Zeitzeugen einfinden, die das eine und andere aus der eigenen Erfahrung zurechtrücken und/oder Lücken schließen.

Eine Zusammenstellung der verwendeten Quellen findet sich hier.

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Autokennzeichen der DDR © GvP

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Eigentlich hätten sich die Verantwortlichen in den staatlichen Leitungen, die den Literaturvertrieb kontrollierten, relativ früh bewusst sein müssen, dass sich der Buchhandel in generalis nicht auf Linie trimmen ließ. Nicht etwa, weil er in Opposition zum System gestanden hätte, sondern, weil sich Lesebedürfnisse nicht per Dekret steuern lassen. Dass die Partei dennoch bis 1989 am Versuch festhielt, dem Buchhandel eine Funktion als Transmissionsriemen ihres jeweiligen ideologischen Kurses zuzuschreiben, gehört mit zu den Paradoxien der DDR-Geschichte. Aus heutiger Sicht mag man über die systemimmanenten Widersprüche, die auch so manche kuriose Blüten trieben, gerne den Kopf schütteln. Allerdings darf man darüber nicht das menschliche Leid vergessen.

Wer in die Prozesse involviert war, dem dürfte bereits in den frühen Jahren der DDR klar gewesen sein, dass die Absatzschwierigkeiten und –krisen nicht jenen angelastet werden konnten, die die Literatur vertrieben. Eine deutliche Warnung etwa waren die ständig lauter werdenden Forderungen des Volksbuchhandels, in den Produktionsplänen die Lesebedürfnisse stärker zu berücksichtigen und solche Titel nachzudrucken, die bei den Kunden gefragt waren. Tatsächlich fehlte es bereits im ersten Halbjahr 1961 an nahezu allem: Kochbücher, der Duden oder leichte Unterhaltungsliteratur waren ebenso wenig greifbar wie Reiseführer zu Zielen, die für DDR-Bürger damals erreichbar waren. Dass ausgerechnet jene Bücher nicht vorrätig waren, auf deren Erbe sich die „Literaturgesellschaft“ offiziell berief, stieß so manchen vor den Kopf:

„Es fehlten Koch-, Back-, Camping- und Ehebücher, Ratgeber über Säuglingspflege, Handwerks- und Haushaltskniffe, Gartenpflege und Pilze, Konzert- und Opernführer, ein Auto-Atlas und ‚Wir schneidern selbst‘. Solche Titel waren meistens bereits vorm Erscheinen hoffnungslos ‚überzeichnet‘, wie der ‚Duden‘, von dem zwar immerhin 37.000 Stück gedruckt, aber 115.000 Exemplare bestellt waren. Es gab, wie beklagt wurde, zwar kein Buch über Usedom, aber zwei über Guinea und nicht weniger als 26 Titel über die Novemberevolution. Was Belletristik anging, so waren im ersten Halbjahr 1961 von 1.399 angekündigten Titeln 579 entweder nicht erschienen oder stark überzeichnet, während andere verlangte Bücher längst aus den Plänen gestrichen waren. […]. Besonderen Anklang finden bei der Bevölkerung Bücher von W. Busch (Busch-Album), Zille und Simmel. Viel verlangt werden Bücher, die sich in heiterer und besinnlicher Form mit den Umgangsformen im öffentlichen Leben beschäftigten, doch alle diese Bücher sind seit langem vergriffen. […]. Verlangt wurden Shakespeare, Balzac, Stendal, Hugo Dickens, Thackeray, Tolstoi, Turgenjew, Puschkin, Dostojewski, aber selten konnte ein Titel angeboten werden. Von einer Auswahl kann niemals die Rede sein. Sogar in der Volksbuchhandlung am Alexanderplatz, kurz vor dem Mauerbau ein Schaufenster von strategischer Bedeutung, starrten den zahlreichen Freunden des ‚Kritischen Realismus‘ nur noch leere Regale entgegen. Aus allen Kreisen der Bevölkerung werden namentlich Werke der Brüder Mann, von Feuchtwanger, Fontane, Storm, Hauptmann und v. Eichendorff verlangt, von den russischen Schriftstellern die von Dostojewski, Tschechow, Tolstoi und Gogol, und von französischen Schriftstellern die Titel von Balzac, Zola, Maupassant und Diderot. – Außerdem dem Buch ‚Der Untertan‘ von H. Mann kann in dieser Richtung keinen Wünschen entsprochen werden. […]. Von Seiten der Kundschaft wurde bemängelt, dass zwar die Urne des Dichters in die DDR überführt worden ist, die Presse, Rundfunk und Fernsehen diese Tatsache entsprechend publizieren, der Buchhandel jedoch keine Literatur von Heinrich Mann anbieten kann. […] Allgemein ist zu sagen, dass es gegenwärtig keine Titel eines Klassikers der Weltliteratur gibt. Besonders krass ist das bei Goethe und Schiller.“ (Zit. nach Barck/Langermann/Lokatis 1997, S. 165f.)

Sehr wohl wurde die Misere im Buchhandel, die ursächlich zu Lasten der Kulturpolitik ging, immer wieder offen thematisiert. Sowohl in informellen Gesprächen auf verantwortlichen Ebenen wie auch während der offiziellen Runden, die im Ministerium für Kultur, bei der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel oder in den sogenannten Literaturarbeitsgemeinschaften stattgefunden haben. Eine wichtige Quelle für die Recherche sind zweifelsohne die Jahresberichte der Zentralen Leitung des Volksbuchhandels, die ab 1959 regelmäßig angefertigt wurden. Anfangs mussten die Rechenschaftsberichte vor der Abteilung Finanzverwaltung und Parteibetriebe des ZK der SED, später dann vor der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur vom amtierenden Hauptdirektor des Volksbuchhandels erläutert und verteidigt werden. Heinz Börner, Hauptdirektor ab 1983, berichtet, dass die Probleme im Laufe der Jahre in den Berichten immer offener und kritischer zur Sprache gekommen seien. Die Einflussmöglichkeiten dagegen, diese zu beheben, seien im Gegenzug immer geringer geworden.

Informationen über die Lesebedürfnisse kamen auch von den so genannten Testbuchhandlungen, die damals vorrangig von Fachbuch-Verlagen mit dem Ziel betrieben wurden, empirische Daten für die eigenen Planungen zu gewinnen. Intensive Buchmarktforschung betrieb die Zentrale Auslieferung LKG. Hier existierte eigens die Abteilung Bedarfs-/Buchmarktforschung, die die regelmäßigen Ergebnisse von Befragungen unter Kunden der Volksbuchhandlungen auswertete und dokumentierte. Ab 1965 unterstand sie direkt Georg Lindorf, dem damals frisch ernannten Finanzchef der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel. Um den Wünschen der Leser noch besser auf die Spur kommen zu können, organisierte LKG ab den späten 1970er sogar im großen Stil Umfragen unter der Bevölkerung. Wie das 1957 in Leipzig gegründete Institut für Marktforschung im Übrigen auch, das regelmäßige Erhebungen zum Lese- und Freizeitverhalten durchführte. – Die Ergebnisse flossen in die Jahresberichte der LKG ein, die an die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel gingen. Ein Zitat aus dem Rechenschaftsbericht aus dem Jahr 1971 belegt, dass sich die Lage seit 1961 nicht entspannt hatte. An Nachschlagewerken, Klassikern und Unterhaltungsliteratur herrschte weiterhin Mangel.

Es fehlten Nachauflagen von Wörterbüchern, darunter medizinische Wörterbücher. Die Auflagenhöhen von biologischen Bestimmungsbüchern sowie Titel von Titeln über Familie, Ehe, Lebensweise waren nicht ausreichend. Besonders unzureichend waren die Auflagen der Gartenbücher des Neumann-Verlages, der Koch- Back- und Haushaltsbücher vom Fachbuchverlag und vom Verlag für die Frau. Im Bereich der schöngeistigen Literatur fehlten über die ‚Bibliothek der Klassiker‘ hinaus ein Grundsortiment ständig lieferbarer Titel des deutschen kulturellen Erbes. […]. Nicht befriedigt wurde der Bedarf an utopischer und Kriminalliteratur sowie im historischen und humoristischen Genre. Bei der Kinderliteratur bestehen Lücken im Angebot für das Erstlesealter und in Titelzahl und Auflagenhöhe bei Kinderbuchreihen.“ (Zit. nach Löffler, o.J., S. 20.)

Ein Organ, das sich – wie Heinz Börner anmerkt – für die Belange der Sortimenter stark gemacht hat, soll die Fachzeitschrift „Der Volksbuchhändler“ gewesen sein. Sie wurde ab Dezember 1958 erst monatlich, später zwei Mal monatlich von der Zentrale Leitung des Volksbuchhandels herausgegeben. Über die Gründe, warum die Fachzeitschrift 1965 urplötzlich vom Markt verschwunden ist, mag man spekulieren. Da das Blatt damals bei den Branchenteilnehmern beliebter gewesen sein soll als das Leipziger „Börsenblatt“, kann man unterstellen, dass „Der Volksbuchhändler“ den Interessen der Branche mehr entsprach als das Organ vom Leipziger Börsenverein für den deutschen Buchhandel.

Obwohl der volkswirtschaftliche Schaden beträchtlich war, drangen die kritischen Stimmen oben nicht durch. Zwar wurden gelegentlich Auflagenhöhen korrigiert oder Nachauflagen gedruckt. Das grundsätzliche Problem allerdings, dass der Überproduktion vom politisch genehmen „Schwerpunkttiteln“, die nicht gekauft wurden, ein permanenter Mangel von nachgefragten Büchern gegenüberstand, wurde nie gelöst. Um den Bedarf befriedigen zu können, ging der Buchhandel früh dazu über, marktfähige Bücher in größeren Mengen vorzubestellen als am Point of Sale tatsächlich gebraucht wurden. Anfangs waren davon vorrangig Kinderbücher und Kalender betroffen, später nahezu alles, was man für lesenswert hielt. Damit wurde eine folgenschwere Entwicklung in Gang gesetzt, der man trotz verschiedener Versuche, diese wieder zu stoppen, bis zum Ende der DDR nicht mehr Herr werden sollte.

Ende der 1960er ging LKG dazu über, die marktfähigen Titel, die wissentlich überproportional häufig geordert wurden, nach einem speziellen Verteilerschlüssel an den Buchhandel auszuliefern. 69% erhielt der Volksbuchhandel. 24% gingen an den Buchvertrieb der Nationalen Volksarmee und die verbliebenen 7% an die privaten Buchhandlungen. Schon 1970 lieferte LKG nahezu 25% aller Titel gekürzt aus, im Bereich Belletristik/Kinderbuch waren fast 50% betroffen (Petry 2001, S. 105.) Da die Sortimenter jetzt dazu übergingen, ihre Bestellungen auf Grundlage der zu erwartenden Kürzungen zu kalkulieren, spitzte sich die Lage dramatisch zu. In den 1980ern Jahren wusste man sich schließlich nicht mehr anders zu helfen, als die Bestellungen administrativ zu kürzen. Von den Kürzungen ausgenommen waren: die Testbuchhandlungen der Verlage, der seit 1966 eigenständig geführte Buch- und Zeitschriftenvertrieb der Nationalen Volksarmee, die Bibliotheken, die Bücher, die für den Export bestimmt waren, sowie die Ostberliner Brecht-Buchhandlung in der Chausseestraße, die zu einem Mekka für begehrten Lesestoff wurde. – Fortan war der DDR-Buchmarkt zweigeteilt: in eine kleine, privilegierte Gruppe, die Bücher uneingeschränkt beziehen konnte, und das Gros jener, deren Bestellungen nur selten zufriedenstellend erfüllt wurden.

Die Entwicklungen schlugen sich auch in der „Ordnung für den Literaturvertrieb“ nieder. Hatte die Fassung von 1976 Kunden noch die Möglichkeit eingeräumt, Titel unverbindlich vormerken zu lassen, ließ die buchhändlerische DDR-Verkehrsordnung das ab 1981 nur noch in dem Fall zu, wenn die Buchhandlung sicherstellen konnte, dass die Titel auch geliefert wurden. Dass diese Regelung in der Praxis vielfach unterlaufen wurde, ist zu vermuten.

Aus den Fugen geriet der Buchmarkt vollends als den Verlagen die Handhabe eingeräumt wurde, Teile ihrer Auflagen für die Auslieferung an den Buchhandel bei LKG zu blockieren. Da die Verlage immer reger davon Gebrauch machten, Bücher für den Eigenbedarf oder den Export für sich zu reklamieren, verknappte sich gerade die Menge jener Titel zusehends, die nachgefragt wurden. Einem Bericht der LKG zufolge waren Ende 1987 in den Bereichen Belletristik, Kinder- und Jugendliteratur, Sport-, Freizeit- und Ratgeber 12% des gesamten lieferbaren Bestandes geblockt (Löffler, o.J., S. 21.) Zu Irritationen sowohl bei den Sortimentern wie bei den Kunden kam es häufig dann, wenn die Verlage bei LKG verfügten, die Blockierungen wieder aufzuheben, und plötzlich Titel im Buchhandel auftauchten, die offiziell längst als vergriffen galten.

Das Geschäftsgebaren der Verlage dürfte bei den Sortimentern auf ebenso wenig Verständnis gestoßen sein wie der Tatbestand, dass es insbesondere der Buchvertrieb der NVA als ungekürzter Bezieher gewesen ist, der gängige Waren in hohen Stückzahlen vom Markt abschöpfte und damit dem Volksbuchhandel den Umsatz streitig machte. Einige Beispiele, wie sich das Verhältnis zwischen Buchbestellung und Buchbezug im 1. Quartal 1989 ausnahm, bringt Dietrich Löffler. So waren etwa von Boccaccios „Decamerone“ 20.000 Exemplare gedruckt worden. Vom Volksbuchhandel vorbestellt waren 91.797 Ausgaben. Bei der Zentralen Auslieferung LKG angeliefert wurden 19.885 Bücher, durch den Verlag blockiert waren 10.000. An die circa 710 Volksbuchhandlungen gingen schließlich 5.108 Exemplare, an den Buchvertrieb der NVA mit seinen damals etwa 139 Verkaufsstellen 4.777 Exemplare. (Löffler, o.J., S. 23.)

In ihrer „Geschichte des Volksbuchhandels“ halten Börner/Härtner fest, dass der Volksbuchhandel als gekürzter Bezieher zwischen 1987 und 1989 selbst bei hohen Auflagen oftmals gänzlich leer ausgegangen sei. Diese Erfahrung teilt auch Heike Wenige. In ihrer Wirkungsstätte, der Freiberger „Akademischen Buchhandlung für Montanwissenschaften“, herrschte in den späten 1980er immer dann besonders große Aufregung, wenn die Paletten von LKG eintrafen: Was war dabei? Und Ines Günther, die ab 1982 in der Leipziger Universitätsbuchhandlung gearbeitet hat, erinnert sich: „Natürlich waren Koch-Gartenbücher, Auto-Reiseatlanten, Märchenbücher vom tschechischen Artiaverlag heiß begehrt und viel zu wenig. Wenn ‚Rat für jeden Gartentag‘ oder ‚Deine Gesundheit‘ angekündigt waren, dann wurden eben 500 Exemplare bestellt, um letzten Endes vielleicht 10 zu bekommen. So war es halt …“

Teil 5 „Vom Mangel zum Überfluss. Die Wende und der DDR-Buchhandel“ folgt kommende Woche. Die vorangegangenen Folgen kann man hier nachlesen

„Im Großhandel lagern alle meine Bücher …“ – Buchhandel in der DDR (Teil 3)

Womöglich habe ich mir mit dem Vorhaben, die Geschichte des DDR-Buchhandels auszuloten, zu viel vorgenommen? Je länger mich die Materie allerdings beschäftigt, desto mehr Fragen stellen sich, die nur diejenigen beantworten können, die dabei gewesen sind.

Trotzdem habe ich Mut zur Lücke: In fünf Folgen werde ich darlegen, was ich bisher zur Entwicklung des Buchhandels in der DDR (Teil 1 – 4) und nach der Wende (Teil 5) trotz spärlicher Quellen recherchiert habe. – Warum wage ich diese Skizze? Weil ich mir erhoffe, dass sich Zeitzeugen einfinden, die das eine und andere aus der eigenen Erfahrung zurechtrücken und/oder Lücken schließen.

Eine Zusammenstellung der verwendeten Quellen findet sich hier. Und wer die ersten Folgen nachlesen möchte, der wird hier fündig.

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Autokennzeichen der DDR © GvP

Autokennzeichen der DDR © GvP

Einfach hatte man es als Buchhändler in der DDR wahrlich nicht. Druck seitens der Partei, nicht die richtigen Bücher in angemessenen Mengen über die Ladentheke zu bringen, und Ansprüche seitens der Kundschaft, die ihren eigenen Kopf hatten und anderes lesen wollten als das, was die Partei für richtig hielt. Hinzu kamen andere Beschwernisse. So waren die Läden vielfach renovierungsbedürftig und die Einrichtungen veraltet oder nicht funktional. Nicht zuletzt fehlte es an ansprechenden Dekomaterialen für die Schaufenster. Zeitweilig sollen die Auslagen sogar gänzlich leer geblieben sein. Die Laune gehoben haben dürften auch die Schulungsunterlagen nicht, die im Volksbuchhandel ab den 1960ern zunehmend Pflichtlektüre wurden. Die „Ökonomik des Buchhandels“ (1962), „Literaturpropaganda im Schaufenster“ (1962), die „Ordnung für den Buchhandelsleiter“ (1965) oder die „Arbeitsanweisung für den Wareneingang und Warenausgang sowie für die Lagerhaltung“ (1968) – um nur einige Publikationen aus dieser Zeit zu nennen.

Unterkriegen ließen sich die Buchhändler freilich nicht – Mangel macht bekanntlich erfinderisch. Man behalf sich so gut es eben ging und versuchte auf trickreichen Wegen, die nicht immer ganz legal gewesen sein dürften, marktgängige Ware zu beschaffen. Einerseits über gute Beziehungen zu den Verlagen und zur LKG. Bisweilen aber sollen auf dem Transportweg von den Druckereien zur Auslieferung auch stapelweise Bücher verloren gegangen sein.

In die Kerbe, Buchhändler für den stockenden Absatz verantwortlich zu machen, haben offenbar auch Schriftsteller geschlagen. Von zwei solchen Fällen berichtet Heinz Börner, der letzte amtierende Hauptdirektor des Volksbuchhandels, in der „Geschichte des Volksbuchhandel“, die er 2012 gemeinsam mit Bernd Härtner veröffentlicht hat, der zu DDR-Zeiten ebenfalls leitende Funktionen im volkseigenen Buchhandel inne hatte. Die Beiden schreiben, dass Wolfgang Joho vor dem IV. Schriftstellerkongress im Jahr 1956 Buchhändlern unisono die Fähigkeit abgesprochen haben soll, „mit einer besonderen Ware zu handeln.“

Aufschlussreicher als die kurze Notiz über Wolfgang Joho, der zehn Jahre später ins Visier der Staatssicherheit geraten sollte, ist der andere Fall, den Börner/Härtner in ihrer „Geschichte des Volksbuchhandel“ erwähnen. Deutlich wird daran auch, wie problematisch zeitgeschichtliche Darstellungen sein können, die vornehmlich auf die eigenen Erfahrungen und Erinnerungen rekurrieren. So unerlässlich die „Geschichte des Volksbuchhandel“ sicherlich als Quelle für eine Rekonstruktion der Entwicklung des Buchhandels der DDR zwischen 1945 und 1990 auch ist, so sehr muss sie auch hinterfragt und kritisch „zwischen den Zeilen“ gelesen werden.

„Der bis dahin kaum bekannte Schriftsteller J.C. Schwarz hatte den vermeintlich ungenügenden Absatz seines Buches ‚Der neue Direktor‘ statt mit dessen Qualität mit den Verkaufsbemühungen des Volksbuchhandels erklärt, wieder mit dem Argument, der Volksbuchhandel setze sich nicht genügend für die Gegenwartsliteratur ein. Prompt kam das entsprechende Räderwerk ins Laufen, diesmal mit ganz großer Übersetzung. Auf dem 14. Plenum des ZK der SED [im November 1961] stellte Walter Ulbricht höchstpersönlich fest: ‚Das System des Buchvertriebs in der DDR ist unzulänglich und muss überprüft werden‘.“

Die Rede ist von Joachim Chaim Schwarz, der 1950 aus Palästina in die junge DDR gekommen war. Seit seiner Rückkehr hatte sich der überzeugte Sozialist mit Kräften um eine Mitgliedschaft in der SED bemüht, die ihm 1953 freilich unter anderem wegen seiner vermeintlichen Zugehörigkeit zu „zionistischen Kreisen“ verwehrt wurde. Schwarz, dessen literarisches Talent kein geringerer als der Schriftsteller Franz Fühmann förderte, galt in den frühen 1960ern längst als ein viel versprechender junger Autor. Für seine zahlreichen Reportagen, die zwischen 1953 und 1955 in der „Täglichen Rundschau“ erschienen waren, und die sieben Reportage-Romane, die zwischen 1955 und 1962 publiziert worden waren, hatte er viel Beachtung und Lob gefunden. Und für das Buch „Der neue Direktor“, auf das sich Börner/Härtner beziehen, war ihm – entsprechend der kulturpolitischen Linie des „Bitterfelder Weges“ – 1961 sogar der Literaturpreis des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes zugesprochen worden.

Schon drei Jahre darauf war der Traum von einer literarischen Karriere im Gefolge des Bitterfelder Weges für J. C. Schwarz allerdings wieder vorbei. Da das Konzept, die Kulturschaffenden durch einen Einsatz in der Produktion an die Partei und die werktätige Klasse zu binden, nicht aufgegangen war, wurde der kulturpolitische Kurs wieder korrigiert, den man im April 1959 auf der ersten „Bitterfelder Konferenz“ eingeschlagen hatte. Ende 1965 rückte man davon wieder ab. Die Folgen des Kurswechsels waren nicht nur für Schwarz, sondern auch für andere Künstler folgenreich, die sich vor den Bitterfelder Karren hatten spannen lassen. Schwarz wurde 1966 vorgeworfen, in seinen Büchern die Arbeiter- und Bauernklasse zu verhöhnen. Schlimmer konnte es damals nicht kommen! Unter dem Pseudonym Carl Jakob Danzinger veröffentlichte er zehn Jahre darauf seine Bücher vornehmlich in der Bundesrepublik. So 1976 den autobiografischen Roman „Die Partei hat immer Recht“, in dem er seine desillusionierenden Erfahrungen als Autor und als Sozialist beschreibt.

Die Biografie von J. C. Schwarz wirft auch Schlaglichter auf die Schwierigkeiten von Produktion und Distribution solcher Bücher, die lediglich mit der Intention gedruckt worden waren, der kulturpolitischen Linie schnellstmöglich Folge zu leisten. Für sein erstes Buch wurde J. C. Schwarz 1953 vom Mitteldeutschen Verlag verpflichtet, für den er in den nachfolgenden Jahren diverse Auftragsarbeiten verfasste, die mit heißer Nadel getrickt werden mussten. Dabei blieben seine ehrgeizigen literarischen Ambitionen auf der Strecke. Außerdem waren die Eingriffe seines Lektoren in das Manuskript so heftig, dass am Ende ein „Quatschbuch“ herausgekommen war, das keiner lesen, geschweige denn jemand kaufen wollte.

„Er [der Lektor] machte mit mir einen Vertrag und verpflichtete mich, das Buch druckfertig zu machen. Das bedeutete, dass ich es in den nächsten zwei Jahren bis 1955, dreimal umschreiben musste. Bei jeder Umarbeitung machte ein Stück des Wesentlichen einem Stück der Verpackung Platz, mit anderen Worten: das Buch entfernte sich von Umarbeitung zu Umarbeitung immer weiter von dem ursprünglichen Erlebnis und der ursprünglichen Absicht des Verfassers, es enthielt am Ende nichts mehr, das zum Lachen und Weinen Anlass bot. […]. Ein Quatschbuch entstand, es wurde von keinem ernstzunehmenden Menschen ernst genommen.“

Schwarzens Verlag sollte sich im Verlauf der 1960er zu einem wichtigen Haus für die junge DDR-Literatur entwickeln, die nach der Bitterfelder Konferenz in hoher Schlagzahl produziert wurde. Freilich stand die Bedeutung des Mitteldeutschen Verlages, die dem Haus gemäß den Kulturpolitiker für die Entwicklung einer „sozialistischen Nationalkultur“ zukommen sollte, niemals im Verhältnis zum Buchverkauf. Schon 1961 verzeichnete der Verlag Ausstände in Höhe von 1,657 Millionen Ostmark. Im darauffolgenden Sommer war der Bestand an unverkäuflichen Titeln bereits auf einen Wert von 2,2 Millionen angewachsen, der allein bei der LKG einlagerte. (Barck/Langermann/Lokatis 1997, S. 158.)

In solchen Situationen war es vornehmlich der vertreibende Buchhandel, der die wirtschaftlichen Risiken zu tragen beziehungsweise auszubaden hatte. Absatzkrisen waren aber auch für die betroffenen Autoren schmerzhaft, worüber J. C. Schwarz in seinem autobiografischen Roman „Die Partei hat immer Recht“ ebenfalls schreibt:

„Im Großhandel lagen alle meine Bücher und konnten nicht abgesetzt werden, man warf sie am Ende für fünfzig Pfennig das Stück auf den Markt, wo sie auf Wägelchen des Straßenhandels zusammen mit den unverkäuflichen und preisgeminderten Büchern anderer Autoren in der ‚Woche des Buches‘ dem Publikum angeboten wurden … Zuerst lache ich. Ich kaufe zehn meiner eigenen Bücher zum Spottpreis von fünf Mark. Dann gehe ich zur S-Bahn hinauf und lasse mich nach Treptow fahren. In der Ecke sitzend, meine billigen Bücher in der Tasche, rollen mir die Tränen übers Gesicht.“

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„Die Skizzen zum Buchhandel in der DDR zu lesen, war dann doch irgendwie schmerzhaft.“ – Ein erstes Gespräch mit der ehemaligen Volksbuchhändlerin Heike Wenige folgt kommende Woche

„Das richtige Buch zur richtigen Zeit in die richtigen Hände.“ – Buchhandel in der DDR (Teil 2)

Womöglich habe ich mir mit dem Vorhaben, die Geschichte des DDR-Buchhandels auszuloten, zu viel vorgenommen? Je länger mich die Materie allerdings beschäftigt, desto mehr Fragen stellen sich, die nur diejenigen beantworten können, die dabei gewesen sind.

Trotzdem habe ich Mut zur Lücke: In fünf Folgen werde ich darlegen, was ich bisher zur Entwicklung des Buchhandels in der DDR (Teil 1 – 4) und nach der Wende (Teil 5) trotz spärlicher Quellen recherchiert habe. – Warum wage ich diese Skizze? Weil ich mir erhoffe, dass sich Zeitzeugen einfinden, die das eine und andere aus der eigenen Erfahrung zurechtrücken und/oder Lücken schließen.

Eine Zusammenstellung der verwendeten Quellen findet sich hier.

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Autokennzeichen der DDR © GvP

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Gemessen wurde der DDR-Buchhandel daran, inwieweit er den Anforderungen nachkam, die gemäß den beschlossenen Jahresplänen in staatlichen Planungskennziffern festgelegt waren. Hauptkennziffer war der vorgegebene Warenumsatz. Um Anreize bei den Mitarbeitern zu schaffen, die Kennziffern der staatlichen Planung zu erfüllen, gab es ein Prämienmodell, welches die ohnehin nicht üppig bemessenen Bezüge aufbessern sollte. Außerdem konnten Volksbuchhändler Vergünstigungen wie etwa Preisnachlässe bei Besuchen von kulturellen Einrichtungen und Veranstaltungen in Anspruch nehmen. Angestellte hingegen, die in privatwirtschaftlich geführten Läden beschäftigt waren, durften lediglich die Hälfte des Tariflohnes erhalten, der für den volkseigenen Sektor vorgeschrieben war. Grundlage dafür war der sogenannte Gehaltsgruppenkatalog für den Volksbuchhandel, nach dem das Anfangsgehalt eines Sortimenters mit dem Berufsabschluss Buchhändler 350 Ostmark betrug.

Ein wichtiges Arbeitsmittel war die „Einheitliche Systematik“, die Anfang der 1960er eingeführt wurde. Erfunden hatte sie der Dresdner Buchhändler Schneider, genannt ES Schneider. Bestellt wurde seit 1949 auf einem einheitlichen Bestellzettel in DIN-A6 Format, ein Verlagsnummernsystem gab es seit 1952. An dem Verfahren, Titel handschriftlich zu bestellen, wurde bis zum Ende der DDR festgehalten.  Von den 707 existierenden Volksbuchhandlungen verfügte 1989 nicht eine einzige über einen Computer. Mit Ausnahme des Dietz-Verlages, für dessen Publikationen es je nach Buchhandelsgröße feste Bezugsstaffeln gab, konnten die jeweiligen Sortimente frei zusammengestellt werden. – Jedenfalls im Idealfall.

Bestellt wurden die Titel bei der zentralen Auslieferung Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel, kurz: LKG. Der 1946 gegründete Monopolist war verpflichtet, die Bestände aller DDR-Verlage ohne Zeitlimit kostenlos einzulagern. Bestellgrundlagen waren der seit 1948 alljährlich erscheinende Lagerkatalog der LKG und der Vorankündigungsdienst (VD), in dem die neuen Titel, meist mit kurzen Angaben zu Inhalt und Zielgruppen, sechs bis acht Wochen vor Erscheinen annotiert wurden. Dass die angekündigten Auslieferungstermine so gut wie nie eingehalten wurden, war ein offenes Geheimnis. Der Vorankündigungsdienst, den LKG seit 1952 herausgab, lag wöchentlich dem Leipziger Börsenblatt als Heft bei. Bei den Kunden besonders nachgefragt und entsprechend häufig vorbestellt waren immer Ratgeber, besonders aus dem Do-It-Yourself-Bereich, Sach- und Fachbücher sowie Kinderbücher und Kalender. Um „Überzeichnungen“ dieser marktgängigen Titel abzustellen, ließ man später im Vorankündigungsdienst solche Titel einfach aus, die erfahrungsgemäß ein besonders großes Echo finden würden.

Immer stand der DDR-Buchhandel vor dem Dilemma, dass seine Kundschaft gerade das nicht konsumieren wollte, was er ihr namens der Partei hätte schmackhaft machen sollen. Die politisch genehmen Titel, die in hoher Auflage produziert wurden, waren nicht loszuschlagen. Das jedoch, was weggegangen wäre wie geschnitten Brot, war zumeist nicht lieferbar. Dieses Missverhältnis zeitigte Kunden, die immer ungeduldiger nach Lesestoffen außerhalb des geltenden Kanons fragten und ihren Unmut bisweilen auch bei jenen abluden, die für die Misere nichts konnten – den Buchhändlern. Die wiederum kühlten ihr Mütchen an LKG, der für die Missstände ebenfalls nichts konnte.

Mit der Zeit stauten sich in den Läden Massen an unverkäuflichen Büchern, die laut Plan aber vorgehalten werden mussten. In der Folge, dass die Läden aus allen Nähten platzen, spitzte sich die Situation auch bei der LKG immer dramatischer zu. Dort wusste man sich ab den 1970ern gelegentlich nicht anders zu helfen, als die unverkäuflichen Bestände ins Freie auszulagern, wo sie in Ermangelung von Schutzplanen, die nirgends aufgetrieben werden konnten, auch Wind und Wetter ausgesetzt waren. Vergleichbares sollte sich auch nach der Wende ereignen, als der Buchhandel seine Regale für die begehrten West-Titel räumte. In der Not wurden tonnenweise Bücher in einen stillgelegten Tagebau gekippt. Darunter sogar solche Titel, die vor kurzer Zeit in der DDR noch heiß begehrt waren.

Der ehemalige Hauptdirektor des Volksbuchhandels, Heinz Börner, berichtet von Bemühungen, die unverkäuflichen Bücher in der DDR umzuverteilen. So wurde Mitte der 1950er Jahre auf dem Leipziger Messegelände eigens die Halle 9 angemietet, um Platz für Bestände zu schaffen, die aus allen Teilen der Republik zusammengekommen waren. Der Versuch, Bücher an den Mann zu bringen, die keiner haben wollte, missglückte allerdings gründlich, weil man die Bedingungen der damaligen Zeit aus dem Auge verloren hatte. Entweder fehlten Kraftfahrzeuge für die Beförderung der Bücher. Oder es mangelte an Benzin für die Transportwagen.

Dem nicht genug. Die Bezeichnung „Halle 9“ sollte zu einem Synonym für jene Missstände avancieren, die die sozialistische Planwirtschaft Mitte der 1950er hervorgebracht hatte. Der Umstand, dass sich derartige Halden an unverkäuflichen Titeln hatten bilden können, obwohl die Bücher doch nach Plan produziert worden waren, durfte nicht sein. Zumal es sich bei den unverkäuflichen Büchern vorrangig um Titel aus dem parteieigenen Dietz-Verlag handelte. Im Juli 1957 berief das Politbüro der SED eine Kommission, um die literaturverbreitenden Institutionen zu überprüfen und gegebenenfalls deren Arbeit zu optimieren. In den nachfolgenden zwei Jahren sollten sich eine ganze Reihe von Untersuchungsausschüssen und Parteibeschlüssen mit dem Ziel beschäftigen, Buchhändler von ihrer politisch-ideologischen Funktion zu überzeugen.

Die Folgen waren erheblich. Die Zentrale Verwaltung des Volksbuchhandels, die sich nach einigen Umstrukturierungen schließlich im Januar 1954 gebildet hatte, wurde nach nur vier Jahren wieder aufgelöst. Fritz Brilla (geb. 1907), der sich u.a. für die Koexistenz privater Buchhandlungen ausgesprochen hatte, verlor seinen Leitungsposten. Andere Mitarbeiter aus der Zentralen Verwaltung gingen 1958 offenbar nach Westdeutschland. Außerdem soll es zu einer Enteignungswelle gekommen sein.

Zum 1. Juli 1958 übernahm die sogenannte Zentrale Leitung die Aufgaben der bisherigen Zentralen Verwaltung. Bis zum Ende der DDR residierte sie – wie ehemals die Verwaltung auch – in der Friedrich-Ebert-Straße 25 in Leipzig. Allein die Umbenennung ist signifikant für die Konsolidierung eines Literaturvertriebs, der vollständig gelenkt und kontrolliert werden sollte, um die politischen Vorgaben zu erfüllen. Die Leitung übernahm Hellmuth Fischer (geb. 1916), der die Funktion 25 Jahre innehaben sollte. Ihm sollte Heinz Börner (geb. 1934) folgen, der ehemals Offizier bei den Seestreitkräften war.

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Buchhandel in der DDR (Teil 3) „Im Großhandel lagen alle meine Bücher …“ folgt kommende Woche

Das ungelöste Verhältnis von Politik und Ökonomie. – Buchhandel in der DDR (Teil 1)

Womöglich habe ich mir mit dem Vorhaben, die Geschichte des DDR-Buchhandels auszuloten, zu viel vorgenommen? Je länger mich die Materie allerdings beschäftigt, desto mehr Fragen stellen sich, die nur diejenigen beantworten können, die dabei gewesen sind.

Trotzdem habe ich Mut zur Lücke: In fünf Folgen werde ich darlegen, was ich bisher zur Entwicklung des Buchhandels in der DDR (Teil 1 – 4) und nach der Wende (Teil 5) trotz spärlicher Quellen recherchiert habe. – Warum wage ich diese Skizze? Weil ich mir erhoffe, dass sich Zeitzeugen einfinden, die das eine und andere aus der eigenen Erfahrung zurechtrücken und/oder Lücken schließen.

Eine Zusammenstellung der verwendeten Quellen findet sich hier.

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Obwohl sich die Bedingungen im Kulturbetrieb im Zuge des Zentralisierungs- und Professionalisierungsprozesses in der Phase zwischen 1951 und 1965 zunehmend verschärften, ließen sich die Buchhändler nur mit Mühe vor den Karren der Politik spannen. Am buchhändlerischen Selbstverständnis konnte auch der flächenmäßige Ausbau und organisatorische Aufbau des Volksbuchhandels bis Ende der 1960er Jahre nicht rütteln, in dessen Verlauf die verbliebenen privaten Buchhandlungen zunehmend zurückgedrängt beziehungsweise in Gestalt von sogenannten Kommissionsbuchhandlungen vereinnahmt wurden. Ende 1952 gab es in der DDR 322 Volksbuchhandlungen, zirka 50 Gewerkschaftsbuchhandlungen und etwa 850 private Buchhandlungen (Petry 2001, S. 48.) Ab Mitte der 1960 gaben viele private Sortimenter auf. Wahrscheinlich ist, dass viele von ihnen dem wachsenden Druck nicht standhielten.

Viel weiß man über die schwierigen Umstände und prekären Verhältnisse, denen der private Buchhandel in der DDR unterlag, leider nicht. Dietrich Löffler (2011) berichtet, dass Buchhändler diskriminiert und in Einzelfällen sogar kriminalisiert wurden. Nach 1948 wurden ihnen Devisengeschäfte angelastet, später Wirtschaftsvergehen unterstellt, die auch mit Haftstrafen geahndet wurden. Wie zum Beispiel Anton Hiersemann, der 1951 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde und erst 1991 wieder rehabilitiert werden konnte.

Zeit seiner Existenz musste der private Buchhandel immense Widerstände und Benachteiligungen in Kauf nehmen. Er wurde mit hohen Steuernachzahlungen belegt, seinen Wareneinkauf beeinträchtigten spezielle Auflagen, Bücher durften nur an Privatkunden verkauft werden. Die Übergabe des Ladens an Erben oder andere Interessierte war ihm lediglich in Ausnahmefällen gestattet, Banken gewährten keine oder nur unter extremen Auflagen Kredite. Etwas besser soll die Lage bei den christlichen Buchhandlungen gewesen sein, die weniger stark im Visier der Partei standen.

Ein konstituierendes Element für die umfassende Steuerung und Kontrolle der literarischen Infrastruktur war die Gründung der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur im Jahr 1963. Die Zentralisierung des Literaturvertriebs forcierte schließlich die „Anordnung über das Statut des Volksbuchhandels“, die gut anderthalb Jahre nach Einrichtung der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im August 1964 mit dem Ziel verabschiedet worden war, die Handlungsspielräume der Mitarbeiter im Buchhandel weiter zu beschneiden. Von weitreichender Bedeutung war außerdem das „Perspektivprogramm für die ideologische und kulturpolitische Arbeit auf dem Gebiet der Literatur, des Verlagswesens und der Literaturverbreitung“, das im Februar 1965 erlassen wurde.

Auf Grundlage des Perspektivprogramms wurde die „Ordnung für den Literaturvertrieb“ erarbeitet, die das „Zusammenwirken aller am Literaturvertrieb beteiligten Betriebe und Einrichtungen zum Nutzen der Bürger der DDR“ regeln sollte. Die Bestimmungen, die im Spätsommer 1969 verabschiedet wurden, lösten die „Buchhändlerische Verkehrsordnung“ ab, die zwar bislang offiziell nicht außer Kraft gesetzt, wohl aber durch gravierende strukturelle und organisatorische Maßnahmen ausgehebelt worden war. Im Juli 1976 wurde die „Ordnung für den Literaturvertrieb“ aktualisiert und 1981 abermals abgeändert. Diese Fassung blieb bis zum Ende der DDR gültig.

Dass Buchhändler mitunter recht eigensinnig sein können, das haben sie auch in der DDR bewiesen. Die Gesetze des Marktes, und hier vornehmlich das Prinzip von Angebot und Nachfrage, waren ihnen wohl stets näher als die zugedachten gesellschaftspolitischen Funktionen, nach denen der Buchhandel als eine „Institution zur Verbreitung der Ideologie“ galt, die mit „fortschrittlicher Literatur“ einen Beitrag zur „Erziehung der sozialistischen Persönlichkeit“ zu leisten hatte. Dass der politische Auftrag mit dem hergebrachten buchhändlerischen Selbstverständnis nicht konform ging, trieb den frisch bestallten Leiter des Volksbuchhandels, Fritz Brilla, 1956 in seinem Grundsatzartikel „Es geht um die Arbeit des Volksbuchhandels“ um: „Eine solche [fortschrittliche] Literatur zu vertreiben, ist nicht Vorgang krämerhaften Handelns, nicht ein Vorgang des Profits oder Gewinns wegen, nicht ein wirtschaftlicher Vorgang; eine solche Literatur zu vertreiben, ist eine politisch-gesellschaftliche Aufgabe, ist eine kulturpolitische Funktion.“ (zit. nach Löffler, 2011, S. 213f.)

Obschon die Manschetten immer enger gezogen und die Anforderungen höher geschraubt wurden, blieb der Buchhandel auf jenen Büchern sitzen, die er aus ideologischen Gründen massenhaft unters Volk hätte bringen sollen. Das galt insbesondere für die Klassiker des Marxismus-Leninismus, Schulungs- und Propagandamaterialien der Partei und die „sozialistische Gegenwartsliteratur“, deren Produktion und Verbreitung ab der ersten Bitterfelder Konferenz im April 1959 in der Hoffnung vorangetrieben wurde, eine genuine „sozialistische Nationalkultur“ aus der Taufe zu heben. Erhebliche Probleme beim Absatz, die den Buchhandel immer wieder ins Kreuzfeuer der Kritik brachten, hatten vor allem Publikationen aus dem parteieigenen Dietz-Verlag, der nach dem Zusammenschluss von KPD und SPD aus der Zusammenlegung der ihnen zugehörigen Verlage „Neuer Weg“ (KPD) sowie „Vorwärts“ und „Das Volk“ (SPD) im Juni 1946 entstanden war und der Abteilung Finanzverwaltung und Parteibetriebe im ZK der SED zugeordnet wurde.

An dem Umstand jedoch, dass jene Bücher wie Blei in den Läden lagen, deren Lektüre die Partei für notwendig erachtete, konnten weder eine „Ordnung für den Literaturvertrieb“, noch die verstärkten Anstrengungen der Funktionäre rütteln, Buchhändler auf die Funktion eines Transmissionsriemen für Agitprop einzuschwören. Trotz Verteilerpraktiken und einer oft restriktiven Warenbestandsplanung stiegen die Bestände an nicht absetzbarer Literatur im Volksbuchhandel kontinuierlich an. Wenn die ideologischen Traktate aus dem Verlag Volk und Wissen, dem Akademieverlag, dem Staatsverlag und dem Dietz-Verlag überhaupt über den Ladentisch gingen, dann wurden sie vielfach nicht bezahlt. Dass ausgerechnet die Literaturobleute der SED, deren Aufgabe es gewesen ist, die Grundeinheiten der Partei mit Schulungs- und Propagandamaterial zu versorgen, im Verlauf der Jahrzehnte beim Volksbuchhandel immense Schulden anhäuften, entbehrt sicher nicht einer gewissen Ironie. Laut Löffler (2011) beliefen sich deren Schulden jährlich allein auf circa 1 Million Ostmark. Dass die „Genossen“ zudem nicht gemahnt werden durften, sorgte unter den Buchhändlern ebenso sehr für Irritation wie der Umstand, dass deren Gesinnung doch nicht so vorbildhaft war wie propagiert wurde. In den Rechenschaftsberichten der Leitungen des Volksbuchhandels, die nach Rentabilität und Gewinn strebten, waren die unbezahlten Rechnungen der Literaturobleute jedenfalls ein immer währendes Thema.

Schlussendlich waren sämtliche Anstrengungen, den Buchhandel auf die politisch-ideologische Linie zu bringen, a priori zum Scheitern verurteilt. Schon deshalb, weil den Sortimentern die Nachfrage seitens ihrer Kundschaft zwangsläufig immer näher stand als Ansagen der Partei. Dieser systemimmanente Widerspruch, auf den die Politbürokratie gebetsmühlenartig mit dem Vorwurf reagierte, dass der Buchhandel „die Frage des Verhältnisses von Politik und Ökonomie zugunsten der Ökonomie verschoben“ habe, wurde bis zum Ende der DDR nicht aufgelöst. Selbst noch im Jahr 1986 fand die 4. Ökonomische Konferenz des Volksbuchhandels unter dem Motto „Kulturpolitik und Ökonomie – eine Einheit im buchhändlerischen Handeln“ statt.

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Buchhandel in der DDR (Teil 2) „Das richtige Buch zur richtigen Zeit in die richtigen Hände“ kann man hier nachlesen

Buchhändler gefragt! Wie haben Sie Bücher zu DDR-Zeiten verkauft?

Seitdem Matthias Mehner, der ehemals im volkseigenen Buchhandel der DDR tätig gewesen ist, hier Rede und Antwort stand, trage ich mich mit dem Gedanken, auf SteglitzMind eine weitere Gesprächsreihe an den Start zu bringen, in der Buchhändler/innen aus der ehemaligen DDR zu Wort kommen: Wie sah der berufliche Alltag für sie in der DDR eigentlich aus? Wie haben sie die Wende und die Wiedervereinigung erlebt? Vor welchen Herausforderungen stehen sie heute?  Je intensiver ich mich mit diesen und anderen Fragen beschäftigte, desto stärker trieb mich das Anliegen um, Buchhändlerinnen und Buchhändler einzuladen, über ihre diesbezüglichen Erfahrungen und Erlebnissen zu berichten. – Und nun hoffe ich sehr, dass ich mich nicht nur in eine „fixe Idee“ verrannt habe …

Die lose Gesprächsreihe beginnt mit Ines Günther und Heike Wenige. Beide waren ab den 1980er im volkseigenen Buchhandel tätig. Ines Günther ist heute noch in jenem Betrieb in Leipzig beschäftigt ist, der sie 1982 nach ihrem Abschluss an der Fachschule für Buchhändler übernommen hatte. Für Heike ging es 1990 zunächst ebenfalls im alten Geschäft weiter. Dann wechselte sie in einen Buchladen nach Chemnitz, um schließlich 1994 im sächsischen Freiberg ihren eigenen Taschenbuchladen zu eröffnen.

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Doch bevor sie ihre Erfahrungen mit uns teilen, werde ich hier vorab in fünf Beiträgen skizzieren, wie die Bedingungen des sozialistischen Literaturvertriebs ausgesehen haben und welche Auswirkungen der Strukturwandel infolge der Privatisierung für die ostdeutsche Branche hatte. Das ist vermutlich ein waghalsiges Vorhaben, da die Entwicklungen des Buchhandels im Unterschied zum „Schicksal der DDR-Verlage“ (z.B. Christoph Links 2009) im Rahmen der zeithistorischen Forschungen noch kaum betrachtet wurden. Dietrich Löffler, der sich mit dem Funktions- und Strukturwandel des Buchhandels in der DDR beschäftigt hat, meint aufgrund der Quellenlage sogar, dass sich die Vorgänge heute nur noch über Berichte von ehemaligen Mitarbeitern rekonstruieren lassen.

Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, wenn sich Zeitzeugen bereit erklären würden, das Vorhaben zu unterstützen. Vielleicht können wir ja gemeinsam einige Lücken füllen?

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Quellennachweise:

  • Simone Barck/Martina Langermann/Siegfried Lokatis: „Jedes Buch ein Abenteuer.“ Zensur-System und literarische Öffentlichkeit in der DDR bis Ende der sechziger Jahre, Berlin 1997
  • Irene Böhme, Die Buchhändlerin. Roman, Berlin 1999
  • Heinz Börner/Bernd Härtner: Im Leseland. Die Geschichte des Volksbuchhandels, Berlin 2012
  • Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, Leipzig 1996
  • Nils Kahlefendt, Abschied vom Leseland? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 13/2000
  • Christoph Links: Das Schicksal der DDR-Verlage. Die Privatisierung und ihre Konsequenzen, Berlin 2009
  • Christoph Links: Was blieb vom Leseland?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11/2009.
  • Dietrich Löffler, Buch und Lesen in der DDR. Ein literatursoziologischer Rückblick, Berlin 2011
  • Dietrich Löffler: Zwischen Literaturvertrieb und Buchmarkt. Der Buchmarkt der DDR seit den siebziger Jahren. Typoskript, Halle o.J.
  • Jürgen Petry: Das Monopol. Die Geschichte des Leipziger Kommissions- und Großbuchhandels LKG, Leipzig 2001
  • Joachim Walther/Gesine von Prittwitz: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1996
  • Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, München 1999

Zur ersten Folge „Das ungelöste Verhältnis von Politik und Ökonomie“ geht es hier