Eineinhalb Meldungen zur Riesenmaschine


Hier im Bild: das Internet.

Mit nicht ganz unfreiwilliger, aber zumindest unbezahlter und einmaliger Werbung für den Heyne Verlag.

Denn dieser Heyne Verlag, vielen treuen Fans als der Hausverlag Stephen Kings und anderer hochkarätiger Science Fiction & Fantasy bekannt, hat nun das brandneue Universum, bekannt unter der Adresse riesenmaschine.de in Buchform veröffentlicht. Das heißen wir schonmal gut, jetzt kann man also sich die Kolumnen von Friebe, Lobo, Passig und Co. ganz analog ins Bücherregal stellen. Aber was noch besser ist (hiermit gehen wir über zur eineinhalbten Meldung): gewitzterweise hat sich der Verlag zu dem Kniff entschlossen, das fertige Buch wiederum als kostenloses PDF zum Download bereitzustellen, womit der Kreis geschlossen wird und die Riesenmaschine wieder in ihre heimische Sphäre der Virtualität zurückkhert. Viel Spaß beim Lesen!

Granitblöcke in Vinyl gegossen

Led Zeppelin sind eine Legende. Zusammen mit Black Sabbath und Deep Purple gelten sie als Erfinder des Hard Rock und Wegbereiter des Heavy Metal. Die Riffs ihrer besten Songs gehören zum Gemeingut der Popgeschichte, wie an der Weiterverarbeitung durch so undenkbare Bands wie die Beastie Boys und, horribile dictu: sogar Puff Daddys Verwurstung von Kashmir im Stück Come With Me vom Godzilla-Soundtrack deutlich wird.

Aber auch als bekennender Classic-Rock-Fan ist mir das Phänomen dieser Band, die vor über dreißig Jahren ihren Eroberungszug im Sturm startete, noch immer ein Rätsel. Ich lege „Led Zeppelin“ ein, das Debütalbum von 1969. (Die Sache mit den Albentiteln ist ja wohl auch eine eigene Geschichte wert: die ersten drei Alben waren einfach mit dem Namen der Band und römischen Ziffern benannt, das vierte schließlich – der Einfachheit halber mittlerweile als „IV“ bekannt – hatte vier mittelalterlich-alchemistisch anmutende Symbole auf der Hülle stehen, womit die Absonderlichkeit auf die Spitze getrieben wurde.)

Abrissbirnenartige Drums und sägende Gitarren

Track 1 schickt dem Hörer mit seinem wuchtigen Beginn erstmal eine volle Ladung elektrifizierter Rockmusik durch das Nervensystem. Mit einer Spielzeit von 2:46 ist der Wachrüttler Good Times, Bad Times dann recht schnell vorbei, um in der Folge aber erst den Weg für den richtigen Spuk freizumachen: Babe I’m Gonna Leave You (6:41) ist auch im Rückblick noch eines der beeindruckendsten manic-depressive-Epen des ganzen LedZep-Backkatalogs. Wie das jüngste Gericht steigert sich ein unverfängliches Akustik-Gesäusel zu einem wagnerianischen Hard-Rock-Orkan, der das Publikum des ausgehenden Sechziger-Jahrzehnts in Angst und Schrecken versetzt haben muss. Was ist das nur für ein Gesang, den Robert Plant da abliefert, dieses schmerzverzerrte unmenschliche Kreischen, mit Echo-Effekten verfremdet und begraben in den Trümmern, die John Bonhams abrissbirnenartige Drums zurückgelassen haben, um sie von Jimmy Page fein säuberlich, gleichsam wie die Zuhörerohren, mit seiner erbarmungslosen Gitarre zersägen zu lassen? Der nächste 6-Minuten-Ritt You Shook Me gibt uns einen Hinweis auf die Herkunft dieser Rockbastarde. Die noch nie dagewesene Musik von Led Zeppelin, die sich offenbar selbst geboren haben, fußt auf dem Blues der Alten. Das Schema: simple drei Akkorde; das lyrische Thema: natürlich das Ewig-Weibliche („You shook me all night long, baby“). Durch den Verstärker gejagt, wird hier ein monströses Urvieh losgelassen, das sich langsam rumpelnd im Klang der Schweineorgel wälzt.

Der Rückgriff auf den Blues war natürlich alles andere als eine neue Idee, war er doch in den Sechzigern der sogenannte „Retrosound“, den die Sechziger wohl heute für uns darstellen. John Mayalls Bluesbreakers, Eric Claptons Cream, Jeff Beck, Eric Burdons Animals, die frühen (!) Fleetwood Mac und natürlich die Stones und The Who und etwas unbekanntere Bands wie die gelegentlich als – siehe da! – „Led Zeppelin für Arme“ geschmähten Humble Pie (mit Peter „Baby I Love Your Way“ Frampton in seinen wilderen Jahren) bedienten sich – übrigens, ein für die Kulturwissenschaftler pikantes Detail, alle ausnahmslos weiße Engländer – ausgiebig und zum Teil schamlos bei den Blues-Legenden, deren Namen aus einer fremden, schwarzen Welt zu stammen scheinen: Robert Johnson, Lightnin’ Hopkins, Howlin’ Wolf, Big Joe Turner, Elmore James, Jimmy Reed, Slim Harpo, Blind Willie McTell, Billy Boy Grunt usw. Blues war in, aber keiner machte daraus, was Led Zeppelin mit ihrer kompromisslosen Herangehensweise – Aufdrehen was das Zeug hält – zusammenhexten.

Bizarr, umwölkt, rotstichig

Auf dem Backcover von „I“ präsentieren John Bonham, Robert Plant, Jimmy Page und John Paul Jones ihre Konterfeis in einem verwaschenen Rotstich und scheinen von Wolken umgeben. Das öffentliche Auftreten der vier muss auch eine sonderbare Erscheinung gewesen sein: kaum Interviews, keine Kommentare zu den Platten – sie sind einfach da, Granitblöcke in Vinyl gegossen, wie der bizarre schwarze Monolith aus Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“, der passenderweise 1968 in die Kinos kam. Kaum überraschend, dass eigentlich in diesem Bandkosmos nicht viel Raum für Weiterentwicklung vorhanden war. Auf dem Weg zum Stairway to Heaven (1971) machen sich verstärkt Folk- und Mythologie-Einflüsse bemerkbar (Plant ist ausgewiesener Tolkienverehrer), die den Sound stellenweise aufweichten, aber das hermetisch-undurchdringliche Bild, das die Band von sich selbst geschaffen hatte, nicht auflösten – ganz im Gegenteil. In der Phase nach den selbstbetitelten Releases sticht neben „Houses of the Holy“ (Reggae-Experiment: D’Yer Mak’er) vielleicht am ehesten „Presence“ noch einmal hervor (VÖ: 1976). Mit dem Opener Achilles Last Stand, der die magische Zehn-Minuten-Grenze überschreitet, wird ein Heavy-Metal-Stück wie aus dem Lehrbuch geboten, das die Ingredienzien Fantasy und E-Gitarren-Improvisation noch einmal meisterhaft miteinander vermischt.

Was bleibt, außer der postmodernen Spielereien der oben schon genannten Beastie Boys („Licensed To Ill“ beschränkt sich ja schließlich doch nur auf das „Wir klauen ein Sample von Led Zeppelin und bauen es in unseren Track ein“), ist ein Einfluss, der gerade dieser Tage wieder deutlich wird. Am 11. Oktober spielten Neuseelands Garagenrocker The Datsuns mal wieder in München auf. Vielleicht vermitteln sie mir als Nachgeborenem einen Eindruck, wie Led Zeppelin auf das Publikum der Sechziger gewirkt haben müssen: vier schmächtige Jungs mit schulterlangen Haaren und Röhrenjeans malträtieren ihre Instrumente bis zum Schweißausbruch, und wie Sänger Dolf seine kreischende Tonlage über die Dauer des Konzerts aufrecht erhalten konnte, wird wohl ewig ein Rätsel bleiben. Überflüssig die Bemerkung, dass kein Geringerer als John Paul Jones es sich nicht nehmen ließ, das zweite Album „Outta Sight/Outta Mind“ mit einer Menge Feuer unterm Arsch zu produzieren. Ganz anders hingegen eine noch recht neue Band aus Dallas, Texas: The Secret Machines. Sie berufen sich auf Pink Floyd und haben auch dem ein oder anderen New-Wave-Einfluss stattgegeben, beschäftigen aber einen Schlagzeuger, der bei John Bonham in die Lehre gegangen sein muss. First Wave Intact vom Debütalbum „Now Here is Nowhere“ wäre hier der Anspieltipp – da bekommt der altmodische Schlachtruf „Schlagzeugsolo!“ wieder Auftrieb.

Man sieht: der Bombast, der schon 1969 zu bestaunen war, hat eine erstaunlich lange Halbwertszeit. Das bleierne Zeppelin fliegt noch immer durch die Musikgeschichte, und vielleicht braucht es dafür einfach nur einen abgedrehten Tolkienfan und ein paar Wahnsinnige an den Saiten und der Schießbude, die auch den letzten Saft aus den Verstärkern quetschen und eine Messlatte erfinden, die gar nicht hoch genug gelegt werden kann. Oder es ist doch Hexerei im Spiel.

Dieser Artikel erschien zuerst als Gastbeitrag bei www.rockembassy.de.

„Das Problem ist der Konsens“


Konsequent: Die Anthologie POP SEIT 1964 setzt dem Phänomen die Kopfhörer auf.

Kerstin Gleba und Eckhard Schumacher bringen mit der Anthologie POP SEIT 1964 den Band 1000 der KiWi-Paperback-Reihe heraus und feiern vier Jahrzehnte Popliteratur. Der Zeitpunkt könnte kaum passender sein.

Drollig, wie sich Thomas Meinecke und Thomas Palzer über die Platten von Amanda Lear unterhalten, einer Disco-Ikone aus den achtziger Jahren. Der Text „Was war eigentlich an Amanda Lear gut? Historische Gender Debatte, 8.2.1995“ ist eine originalgetreue Wiedergabe des Gesprächs zwischen den beiden Schriftstellern, die bis hin zu Versprechern und Nebensächlichkeiten wie „kannst schon mal den Kaffee einfüllen“ beibehalten wird. Die „Methode Pop“ ist hier: aufschreiben, mitschreiben, was passiert, einen Ausschnitt aus der wahren Welt geben, ungeschliffen, echt.

Naiv? Vielleicht. Doch es ist Meineckes Credo „Ausgedacht ist verboten“, das hier den Ton angibt. Im letzten Teil von POP SEIT 1964, einem groß angelegten Interview der Herausgeber mit ihm und Benjamin von Stuckrad-Barre, bringt er es so auf den Punkt:

Absolute Mitschrift dessen, was jetzt gerade ist. Ich hab nie so was ganz großes Retrospektives, außer wiederum über Bücher oder Artefakte, Schallplatten, Filme, die in dem Buch dann vorkommen, die von früher sind, aber es gibt nicht so was wie Rückblicke oder Zusammenfassungen.

Ein bisschen von der Transkript-Methode ist auch in dieses Interview eingeflossen, wie man beim Lesen merkt. Das vorliegende Buch, rückblickende Anthologie einerseits, wird unweigerlich selbst zum Pop-Artefakt. Ganz zu schweigen vom protzigen quadratischen Großformat und den spiegelglatten Buchdeckeln, auf denen in Silbermetallic-Versalien verschiedener Größe die Namen der Anthologisierten funkeln.

I. Der Angriff auf das Monopol

Das Oberflächliche, sowieso, war ja schon immer eine Art Menetekel der Popliteratur. Die Pioniere Rolf Dieter Brinkmann, Hubert Fichte und Peter Handke (alle im Band vertreten) mussten sich mit ihrer „Beschreibungsliteratur“ einem Sturm der Kritik stellen, den aber vor allem Brinkmann in seinem „Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter“ mit einem Wutanfall beantwortete, der sich gegen „all die Schlampen“ der Gruppe-47-Ära richtete. Der amerikanische Beatnik-Stoff, der in der Form der Gedichtesammlung ACID erst noch Deutschland erreichen sollte, war Vorbild für diese erste Popgeneration: cut-up, LSD, Warhols „Factory“, das waren die neuen Techniken für zeitgemäße Kunst, die die Genres, ja Kunstformen selbst sprengen sollte. Dass das zuviel für den bürgerlich etablierten Literaturbetrieb war, verwundert im Rückblick fast nicht.

Aber was genau Pop ist und was nicht – die Gretchenfrage wird auch hier nur behelfsmäßig beantwortet. Man wolle dokumentieren, heißt es im Vorwort, aus diesem Grunde wurden nur Texte aufgenommen, die irgendwann einmal ausdrücklich mit dem Etikett Pop belegt wurden. Der Befund wurde in drei Zeitabschnitte eingeteilt (die sechziger bzw. frühen siebziger, achtziger und neunziger Jahre), die jeweils mit einer knappen zeitgeschichtlichen Einführung versehen wurden, die die Kontexte und Entstehungsbedingungen des Materials erläutert. Eine Wertung, gar Einteilung in gut oder schlecht findet hingegen ausdrücklich nicht statt: so ist POP SEIT 1964 selbst eine Collage aus ganz verschiedenen Arten von Texten, deren Autoren (z.B. Elfriede Jelinek) man heute mitunter ganz anders einsortieren würde. Ein pikantes Detail am Rande ist, dass eine der zentralen Figuren des Phänomens, Christian Kracht nämlich, heute nur noch ungern als Popliterat gelten möchte und daher eine Abdruckgenehmigung seiner Texte verweigerte.

Pop war in den politisch geprägten sechziger und frühen siebziger Jahren vor allem immer Protest gegen das Bürgertum, die etablierte Literatur und ihre Vertreter. Nachteil hier: den oft ausufernden Traktaten haftet das Urteil „schwierig“ an. Man muss sich auf die neuartige Sprache, bei Brinkmann insbesondere auch einhergehend mit einer ungewohnten Textgestalt, einlassen, um davon zu profitieren.

II. Ziellos kreisen um die Leerstelle

Dass Pop aber auch Spaß machen kann und soll, wird anhand der ungleich leichter zugänglichen Texte Jörg Fausers gezeigt, dessen Roman „Rohstoff“ sich aus vielen Einflüssen speist und in dem der Autor eine ironische Distanz zum Erzählten wahrt. Durch seinen Helden Harry Gelb betrachtet er die Studentenszene in Berlin mit dem Blick des Außenseiters, der sich nicht politisch vereinnahmen lässt und manch Flugblatt-Verteilungs-Vorbereitung in der Kommune nebst stundenlangen Diskussionen in seiner trockenen Art der Beschreibung zum Schreien komisch darstellt. Hier ist es der Voyeurismus, der als Mittel fungiert, über das sich der Leser sich in die In-Scene hineinlesen kann, immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass hier ja vorgeblich authentisch berichtet wird von „einem, der dabei war“.
Wer weiterliest, wird ähnliche Feststellungen bei dem ungefähr zeitgleich erschienenen Text „200 D“ von Christopher Roth und „Auenstraße“ der der jüngeren Generation zuzurechnenden Rebecca Casati machen. Beide Texte spielen in der jeweils angesagten Disco- respektive Kunstszene Münchens, die von einem Ich-Erzähler als Teil einer Clique aus nächster Nähe beschrieben wird. Im Vergleich zu Fauser fehlt hier die ironische und zeitliche Distanz völlig, die Autoren sind zum Zeitpunkt des Schreibens Mitglieder der Szene, die sie beschreiben und berichten so mit dem Blick des Insiders vom schönen Schein der Party, dem Sehen und Gesehen-Werden. Das kritische Moment, die Frage nach dem Sinn wird ausgeklammert und bildet die Leerstelle, um die die Handlungen der Protagonisten ziellos kreisen.

Eine interessante Umkehrung der Kritikbewegung ist im Tenor zu beobachten, der angesichts der neuesten als unpolitisch gescholtenen Pop-Generation seit Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre angeschlagen worden war: in einem Schulterschluss wurden die einschlägigen Texte als oberflächlich, affirmativ, konsumorientiert abgelehnt. Dabei wurde auch gerade die Manifestlosigkeit dieser neuen Generation beklagt: das pure, kommentarlose Be-Schreiben eines Buches wie „Faserland“ einerseits, die Trivialität eines „Soloalbums“ andererseits waren die Zielscheiben. Der „Ich-hasse-alte-Dichter“-Gestus wurde so im Umkehrschluss auf die „neuen Dichter“ angewendet. Die Provokation dieser jüngeren Generation war aber gerade das: der durch den Charakter des Nihilisten geschilderten Welt, die nur aus Marken, Nachtclubs und Lifestyledrogen zu bestehen schien, hatten die neuen Protagonisten nichts entgegen zu setzen. Wie anders klingt das doch noch bei Rainald Goetz, der in seinem berühmtem „Subito“ (natürlich ebenfalls abgedruckt) nichts geringeres als die Sehnsucht nach der Apokalypse formulierte!

III. Verachtung für den Golffahrer

Stattdessen wurde die Trostlosigkeit der modernen Welt in ihrer ganzen Bandbreite gezeigt, noch dazu mit dem zynischen Blick des gutsituierten Schnösels. Aber auch hier darf man das Lachen nicht vergessen: das Gipfeltreffen des Popliterarischen Quintetts unter der Losung „Tristesse Royale“, das in Auszügen auch bei POP SEIT 1964 dokumentiert wird, sprüht nur so vor sarkastischen Attacken auf die kleinkarierte Bürgerlichkeit der „Bausparer und Golffahrer“:

Aber wenn der Golffahrer schon damit anfängt, die gleiche Musik wie ich zu hören, wäre es ja nicht abwegig, daß wir auch ansonsten einiges gemeinsam haben, und deshalb wende ich mich dann von dieser Musik ab. Denn für den Lebensstil des Golffahrers möchte ich mich mit der Musik nicht entscheiden müssen, also für Kenwood-Aufkleber und Mobiltelefone am Gürtel. Das lehnt man ja ab. Kategorisch. Schwierig.

Wächsern, wie in Stein gemeißelt – also genau wie auf seinen Autorenfotos von Ali Kepenek –, verharrt Benjamin von Stuckrad-Barre minutenlang in grüblerischer Pose.

Die grandiose Pose der Überheblichkeit und Verachtung für das Mittelmaß, wie sie Stuckrad-Barre hier – wortwörtlich! – einnimmt, war vielleicht die größte Provokation der letzten Pop-Generation.

POP SEIT 1964 könnte unter diesem Gesichtspunkt nicht passender erscheinen: als ein Dokument einer totgesagten literarischen Strömung fällt es in eine Zeit, in der ein Daniel Kehlmann mit seinem bürgerlich-satirischen Roman die Bestsellerlisten anführt, der in der Kritik durchweg ohne größere Misstöne positiv aufgenommen und rezensiert wurde (was ihm ja auch keinesfalls vorzuwerfen ist!). Nur eines fehlt in diesen Tagen der Literatur: der Provokation von Pop, das Aufbegehren gegen einen etablierten Literaturbetrieb, in dem in einem scheinbar ewigen Kreislauf Literaturproduzenten und Feuilleton einen Meinungskonsens bilden, an dem nicht zu rütteln ist. Ist dieser Zustand von Dauer, entsteht genau das Klima, gegen welches von Brinkmann bis Goetz die so genannten Pop-Literaten revoltierten: Langeweile und reaktionäres Abwehrverhalten. Doch die nächste Generation kommt bestimmt.

Kerstin Gleba, Eckhard Schumacher (Hg.): POP SEIT 1964. Kiepenheuer & Witsch, 416 Seiten, 15 €

Dieser Beitrag erschien erstmals auf www.kritische-ausgabe.de am 10. Juli 2007

„Ihr könnts mein Hirn haben“ – Rainald Goetz’ blutige Performance beim Bachmannpreis 1983

Ich brauche keinen Frieden, weil ich habe den Krieg in mir. Am wenigsten brauche ich die Natur. Ich wohne doch in der Stadt, die wo eh viel schöner ist. Schaut euch lieber das Fernsehen an. Wir brauchen noch mehr Reize, noch viel mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmal Pop.

Einer der Höhepunkte der jüngeren deutschen Literaturgeschichte: Im Juni 1983, also vor fast genau 25 Jahren, trägt Rainald Goetz beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt seinen Text „Subito“ vor. An einer Stelle ritzt er sich ganz nebenbei mit einer Rasierklinge die Stirn auf und liest, während das Blut über sein Gesicht und auf den Text tropft, einfach weiter, bis am Schluss ein blutverschmiertes Blatt vor ihm liegt.
Der vorgetragene Text erschien ursprünglich in der Essaysammlung Hirn (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986) und wurde vor kurzem auch im Rahmen der Anthologie Pop seit 1964 (Hg. Kerstin Gleba und Eckhard Schumacher, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2007, S. 128-139) noch einmal veröffentlicht. Seine ganze Wirkung entfaltet er aber erst durch die beschriebene Performance, wie oben (dank YouTube) zu sehen ist.

P.S.: Rainald Goetz schreibt momentan als Blogger für die deutsche Vanity Fair. Einen Rückblick über 25 Jahre Ingeborg-Bachmann-Preis gibt es hier beim ORF. Einen Überblick über die diesjährige Austragung (Preisträger: Lutz Seiler mit dem Text „Turksib“, Publikumspreis: PeterLicht für „Die Geschichte meiner Einschätzung am Anfang des dritten Jahrtausends“) kann man sich außerdem hier verschaffen (die Texte der Wettbewerbsteilnehmer sind großzügigerweise komplett online verfügbar!)