Der Fremde in der Abstellkammer


Carpark Entrance (Bild: Stanley Donwood, slowlydownward.com)

Unter allen Türmen, Boxen und Abschaffungen der Arten dieses Bücherjahres ging dieser unauffällige Roman etwas unter: Stehle von Andreas Münzer.

Erschienen ist er im kleinen, aber feinen Münchner Verlag Liebeskind, den es noch gar nicht so lange gibt (Reden machte er von sich u.a. schon durch die aufwendige Neuherausgabe mehrerer John-Barth-Romane).

Stehle, bescheidener Einzelgänger aus der Schweiz, zieht in der WG von Robert und seinen drei Freunden ohne Umstände in die 9 Quadratmeter große Abstellkammer, die eigentlich als Büro annonciert war, ein. Er ist hilfsbereit, ordentlich, aber auch ein wenig seltsam.

Super, du kannst ihnen das viel besser erklären, sagte er, schau mal, er nahm die Hände der zwei Frauen in seine: Sie wollen mir einfach nicht glauben, dass man, wenn es früh eindunkelt, manchmal Gestalten sieht, von denen man nicht genau weiß, ob es tatsächlich welche sind oder nicht. Die wabernden Grenzen der Wahrnehmung. Das Reinschauende im Scheinrauen, grinste er, das Glom.

Nachdem nach und nach Kleidungsstücke verschwinden, Übergriffe auf Roberts Computer erfolgen und mitunter wildfremde Besucher in der Wohnung auftauchen, eskaliert die Lage: die WG löst sich auf, Robert verliert seinen Job und wenig später auch noch seine Freundin. Hinter allem scheint der wunderliche Stehle zu stecken, aber durchschauen lässt er sich nicht.

Münzner stellt gekonnt das Misstrauen der aufeinander eingespielten WG-Bewohner gegen „den Neuen“ dar und liefert so Einblicke in die Xenophobie unserer Gesellschaft; dass sich die dunklen Vorahnungen nach und nach bewahrheiten, folgt dagegen einer routinierten Dramaturgie der Zwangsläufigkeit, die in ihrer kaltblütigen Konsequenz bisweilen an Thomas Glavinics Die Arbeit der Nacht erinnert. Auch das kann die deutsche Literatur im Jahr 2008.

Andreas Münzner: Stehle. Liebeskind Verlag, 256 Seiten, 18,90 €

 

Lesetipp: Old school Philologie

Wer sich mal ein Bild vom Pionierzeitalter der deutschen Philologie machen will, der werfe einen Blick in das Althochdeutsche Lesebuch, vulgo den „Braune-Ebbinghaus“.

Besonders der Kommentarteil erschlägt förmlich durch die akribisch notierten Literaturangaben, ohne Zeilenumbruch versteht sich (man beachte die obige Abbildung!). Ach ja: das Lesebuch liegt mittlerweile in der 17. Auflage aus dem Jahr 1994 vor – die erste erschien 1875.

Dunkel schmilzt MacArthur Park


„Mac Arthur Park“, die Single. Nochmal mit Vermerk wer die Verantwortlichen sind.

Um noch mal auf das Thema Rockmusik und schlechte Trips zurückzukommen: ein weiteres berüchtigtes Beispiel für diese oft zu wunderlichen Ergebnissen führende Kombination ist der Song „Mac Arthur Park“ irgendwann aus den späten Sechzigern.

Erhältlich war er einmal auf einem Rare Trax-Sampler des deutschen Rolling Stone mit dem Titel Deep Throat — wenn Filmstars zum Mikro greifen (oder so ähnlich). Eben ein Filmstar, namentlich Richard Harris („Die Meuterei auf der Bounty“! „Sie nannten ihn Pferd“!) singt dort benannten Song, dessen lyrische Brillianz sämtliche Rahmen sprengt. Überschießende (v.a. Farb-)Metaphern am laufenden Band lassen auf eine sehr ausschweifende (LSD-induzierte?) Imagination schließen; die tadellose orchestrale Untermalung kann leider nicht über den kompletten Nonsens-Text hinwegtäuschen, der von Harris paradoxerweise mit tiefer Inbrunst vorgetragen wird:

MacArthur Park is melting in the dark
All the sweet, green icing flowing down
Someone left the cake out in the rain
I don’t think that I can take it
‚Cause it took so long to bake it
And I’ll never have that recipe again
Oh no!

Wenig überraschend, dass der Song alle Hitlisten der worst songs ever anführt und mittlerweile schon einen gewissen Kultstatus genießt (wie gleich mehrere Simpsons-Parodien belegen).

Anhören und -sehen kann man sich das Juwel z.B. hier, der vollständige Text (den man sich nicht entgehen lassen sollte!) findet sich hier.

Auf zu neuen Feuchtgebieten!

Die Konjunkturflaute wirkt sich auch auf den Buchmarkt aus. Um den Kunden zum Kaufen zu animieren, greift die Branche mitunter zu verzweifelten Marketing-Strategien, wie sich am Beispiel der bevorstehenden Ausschlachtung von Charlotte Roches Spitzentitel „Feuchtgebiete“ demonstrieren läßt.

Da kommt zum ersten, rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft, eine textlich unveränderte Neuauflage des Titels auf den Markt – allerdings jetzt mit Illustrationen! Zum Beispiel steht dann da, wo auf dem Cover das Pflaster eingefügt ist, mit Bleistift „Pflaster“ geschrieben:

Was aber, um endlich einmal diesen Klassiker unter den Redewendungen anzubringen, dem Fass vor Feuchtheit den Boden ausschlägt, findet sich bei der Konkurrenz: namentlich den Verlagen Fischer und Rowohlt, die sich auf gar schröcklich-schamlose Weise an der Covergestaltung des Dumont-Titels vergreifen:

Links das in seiner Plattheit kaum zu überbietende „Trockensümpfe“. Das Schielen auf den schnellen Euro hat hier gleich noch zu einem Verzicht auf (neuen) Inhalt geführt: Es handelt sich um ein hastig zusammengeworfenes „Best Of“ („lauter befriedigende Geschichten“) pikanter Stellen bei zeitgenössischen Jungschriftstellern wie Tommy Jaud.

Rechts ähnlich unerschrocken plagiarisierend „Fleckenteufel“, der neue Heinz Strunk, aber im Titel ist es doch über die pure Antithese (Feuchtgebiete-Trockensümpfe, hahaha) hinausgekommen.

Ob der güldene Schein der Plagiierten auf die Nachahmer abscheint, wird sich zeigen. Verdient wäre es mit einer schnellen Trittbrettfahrt.

„Did I Just Write This?“


Eine Symphonie in Grün, Blau und Gelb.

Als Fan der sympathischsten Weirdo-Band der Neunziger ist es nachgerade wohlfeil, auch das mittlerweile vier Alben umspannende Oeuvre des ehemaligen Pavement-Häuptlings, Stephen Malkmus, zu würdigen. Schauen wir darum in den Paratext!

Der Griff zu „Real Emotional Trash“, dem neuesten Streich, zusammen mit den „Jicks“ (wohl analog gebildet zu „jigs“, also „Freudentänze“ – denn ebensolche möchte man beim Hören aufführen) eingespielt, kann, ebenso wie der zu „Stephen Malkmus“ (2001), „Pig Lib“ (2003) und „Face the Truth“ (2005) natürlich bedenkenlos empfohlen; weitere Worte darüber zu verlieren also getrost der zugehörigen Pressemeldung von unbekannter Hand überlassen werden. Diese zeichnet sich durch einige bemerkenswerte Eigenheiten aus: Wann hat man es wohl schon einmal bei dieser Textsorte mit einem an sich selbst zweifelnden omniscient narrator zu tun?

„I am not a present to be opened up and parceled out again,” our man insists on „Gardenia,” track seven on his new album. Ha! That’s what you think, pal. From the day nigh two decades ago when the first scratchy sounds of Pavement floated in the ether above Stockton (crown jewel of California’s Central Valley, the sprawling breadbasket that neither the North or the South have claimed in California’s ongoing „two states” culture war; just providing some historical context that will be useful a few sentences later), the music of Stephen Malkmus has been the gift that keeps on keepin’ on.

Did SM not offer the eternal promise of „perfect sound forever”? Was this sly appropriation of a digital age boast for Pavement’s low-bandwidth treble-kicks not a prescient example of that „irony” thing everybody talked about in the ‘90s? Can we then conclude that that by invoking „paralyzed dreams forever” on this album Malkmus foretells some sort of bad moon on the rise? Hell, I don’t know, and I’m the omniscient narrator of this artist bio.

Welch selten unbekümmerte Ehrlichkeit! Aber weiter im Text:

But I will point out that much of Real Emotional Trash, his fourth „solo” LP (this one credited with The Jicks, like his second, Pig Lib), is decidedly low-down and heavy. It could hardly be otherwise with monster drummer Janet Weiss now a full-fledged Jick, alongside bassist Joanna Bolme and guitar/keyboardist Mike Clark.

Meanwhile, Malkmus the guitar hero is on full display here. „Dragonfly Pie,” „Baltimore,” and the title track are alchemic combinations of intricate composition and unfettered jam. Whoa, did I actually type the phrase „unfettered jam”? Scratch that. (Did I actually say „scratch that”? It’s a good thing I’m anonymous as well as omniscient.)

Man ist fast versucht zu meinen, man habe es hier mit einem Scherzkeks zu tun! Ende des Kommentarteils.

Malkmus’ genius is that he knows exactly when to fetter. These songs may sprawl like the Central Valley (told you), they may spread out like a jet’s flame, but when they reach that last tract house they gracefully spread their wings and head for the unclaimed land beyond. Indeed, although Malkmus makes the Pacific Northwest his home, this feels like a „California” album. Check out how „Real Emotional Trash” begins as a modern-day „Tonight’s the Night,” before evolving into a road trip from the Mexican border to Marin, in the tradition of Pavement’s „Unfair.” And dig those Allman Bros. leads (really!).

Elsewhere, „We Can’t Help You” channels the Band’s „The Weight,” tapping that same vein of late-night melancholia and early-morning lucidity. „Cold Son” sounds like a cruise down the Ventura Highway. And if another song released this year makes you smile as much as „Gardenia,” I have a rare Crust Brothers bootleg with your name on it. While I cannot get with the song’s insistence that its singer is not a „present,” I can sympathize with one line: „don’t want to damn you with the faintest praise.” That’s what it feels like to write about this record, tossing around those historical comparisons, making you read about it when you could be listening to it. So listen, already.

Da hatte jemand sehr viel Spaß beim Texten… Hörbeispiele des Albums, gibt’s hier. The Daily Frown-Prädikat: hörenswert!

Explosive Poesie: Gregory Corsos „Bomb“

Der New Yorker Dichter Gregory Corso stand immer etwas im Schatten der bekannteren Beat-Autoren William S. Burroughs, Jack Kerouac und Allen Ginsberg.

Sein Einfluss für die Beat Generation ist jedoch nicht zu unterschätzen: in den meisten einschlägigen Anthologien finden sich auch seine Gedichte an zentraler Stelle.

Eine dieser Anthologien ist die 1961 im Hanser Verlag unter dem Titel Junge amerikanische Lyrik erschienene, eine Bestandsaufnahme der damals so genannten neuen amerikanischen Szene.

Das eigentliche Thema dieses Beitrags, Corsos gewaltiges Gedicht „Bomb“, findet sich darin auf einem dreimal zusammengefalten Blatt. Diese Präsentationsform wurde nicht nur aufgrund der schieren Länge von „Bomb“ gewählt — die Gattung des Langgedichts kennt man ja schon von Ginsbergs „Howl“, das sich über 30 reguläre Seiten verteilt. Hier ist es die Umsetzung des Inhalts nach Art der visuellen bzw. konkreten Poesie, die Corsos Gedicht dazu eine ganz besondere äußere Form gibt. Und die wäre mit einem Seitenumbruch tatsächlich nicht zu vereinbaren: