Fundstück: Der AMIGA-Hendrix


Der Künstler in typischer Pose, hier noch vor seinem Zerbrechen am Showbusiness

Eine kleine Entdeckung sind diese Linernotes einer AMIGA-Schallplatte von 1974 – Ausgewähltes von Jimi Hendrix für die DDR-Jugend – die in vorbildlicher Weise das Aufsteigen des Künstlers aus bitterer Armut und den Schranken der Klassengesellschaft sowie sein Scheitern am gnadenlosen Showbusiness nachzeichnen.

Vorsicht, langes Blockzitat:

Jimi Hendrix wurde in Seattle im USA-Staat Washington geboren. Wann? Das ist umstritten. Die einen sagen 1946 oder 47, die anderen behaupten, es wäre der 27.11.1945 gewesen. Diese Ungenauigkeiten sind symptomatisch, denn Jimi Hendrix kommt aus den Slums der Ärmsten und Unterdrückten. Als Farbiger lernte er die Auswüchse und Gemeinheiten der Rassendiskriminierung und Ausbeutung kennen. Hunger, Elend und soziale Unsicherheit waren ihm nicht fremd. Sie prägten sich tief in seine Seele ein.
In der Musik suchte Jimi Hendrix das zu gestalten, was das Leben ihm und seinesgleichen vorenthielt: Liebe, Glück, Geborgenheit, Freiheit. Als Kind standen seinem musikalischen Ausdruckswillen nicht mehr als ein paar leere Kisten zur Verfügung. Doch dieses „Schlagzeug“ genügte, um ihn das Aufrüttelnde negerischer Rhythmen begreifen zu lassen. Mit 15 Jahren bekam er eine Gitarre geschenkt. Im Erfinden ungewöhnlicher Melodien zeigte sich frühzeitig sein urwüchsiges Talent. 1961 wurde Jimi Hendrix einberufen. Der Dienst in der US-Armee ließ ihn vieles klarer sehen. Fakt ist, daß er anschließend seine Habseligkeiten packte, in den Süden der USA reiste, sich längere Zeit in Nashville (dem Zentrum der amerikanischen Folklore-Sänger) aufhielt und Soul-Musiker wie B.B. King und Little Richard begleitete, in deren Titel die Seele (engl. Soul), die Gedanken und Gefühle der Farbigen dominierten. Erste Versuche, den großen Blues- und Soulinterpreten nachzueifern, schlugen fehl. Und dennoch: Hendrix’ Streben, musikalisch neue Wege zu suchen, fiel auf. In einem New Yorker Rhythm & Blues-Etablissement wurde er im Sommer 1966 von Chas Chandler, dem Ex-Bassisten der englischen Gruppe „Animals“, gehört. Hendrix folgte der Aufforderung, in London sein Glück zu versuchen. Bereits das erste Konzert des neugegründeten Trios „Jimi Hendrix Experience“ mit Noel Redding (Baßgitarre) und Mitch Mitchell (Schlagzeug) war ein voller Erfolg. Titel wie „The Wind Cries Mary“ wurden echte Schlager. Hendrix’ ungewöhnliche Art, der Gitarre unter Einbeziehung aller elektro-akustischen Möglichkeiten neuartige Töne abzuringen, sein virtuoses Variieren und Erfinden von Melodien und Harmonien fand unerwartete Resonanz. Seine exzentrische Spiel- und Auftrittsweise löste andererseits auch Widerspruch aus. Den Kritikern rief Hendrix zu: „Ich versuche, auf der Bühne nur ehrlich zu sein und ich selbst zu bleiben“.
Im Bemühen, seinen Gefühlen musikalisch Gestalt zu geben, schoß Hendrix gelegentlich über das Ziel hinaus: Er zerbrach und negierte bestehende Formen und musikalische Gesetzmäßigkeiten, ohne neue Zusammenhänge aufzuzeigen. Seine besten Eigenschöpfungen – und dazu gehört die vorliegende Auswahl – weisen ihn in des als einen schöpferischen Musiker aus, der überzeugend seine Welt zu gestalten versteht. „Meine Welt – das ist Hunger, das sind die Blumen, und das Glück von der Art, daß du es in der Hand halten kannst“.
Im Sommer 1967 unternahm Hendrix eine Amerika-Tournee. Der Erfolg veranlaßte ihn, künftig überwiegend in den USA aufzutreten. 1968 wählte ihn die amerikanische Musikzeitschrift „Billboard“ zum Künstler des Jahres. Was Hendrix in der folgenden Zeit unternahm, ist Ausdruck zunehmenden Gejagtseins zwischen künstlerischem Wollen und den Schranken der Klassengesellschaft. Er griff zum Rauschgift, um sich in die ersehnte Freiheit hinüberzuträumen. Im Mai 1969 wurde er wegen Besitz von Haschisch und Heroin verhaftet. Auf die Frage des Gerichtsvorsitzenden, ob er Rauschmittel nehme, antwortete er: „Ich bin dem entwachsen!“
Ausdruck des unruhevollen Suchens neuer Wege ist, daß Hendrix immer häufiger die Begleitgruppen wechselte. Im Frühjahr 1969 unternahm er die letzte Europatournee mit Noel Redding und Mitch Mitchell. Anschließend zog er sich nach Los Angeles zurück und gab die Gründung des Trios „A Band Of Gypsies“ (mit Billie Cox, Baßgitarre und Buddy Miles, Schlagzeug) bekannt. Zwischendurch musizierte er mit den schwarzen Blues-Gitarristen aus Memphis, mit modernen Vertretern des Jazz und Interpreten neuer Musik zusammen.
Die Erfüllung seines Lebens sollte die mit Billy Cox und Mitch Mitchel gegründete Gruppe „The Cry Of Love“ bringen. Sie gab einer Langspielplatte den Namen. Es war die letzte des begabten Musikers. Am 18. September 1970 starb er, 24-jährig, Opfer eines erbarmungslosen Show-Business.
Mit „The Cry Of Love“ hinterließ Jimi Hendrix sein musikalisches Vermächtnis. Vorausschauend heißt es in dem Titel „Straight Ahead“: „…allein kann ich es nicht schaffen… zu, was du weißt, sei nicht träge, tu, was du predigst, denn es ist Zeit für dich und mich, der Wirklichkeit ins Auge zu schauen…“

Fundstelle: JIMI HENDRIX. AMIGA-Vinylschallplatte 8 55 378, 1974. Klappentext von H.P. Hofmann.

Radetzkymarsch für alle!


Eine kurze Recherche förderte nicht weniger als acht derzeit greifbare „Radetzkymarsch“-Ausgaben zutage – da darf die Wahl schon einmal schwerfallen.

Das Jahr 2010 ist schon wieder halb rum – trotzdem sollte ein kleiner Hinweis auf zwei große Autoren, die dieses Jahr ihren Eintritt in die Gemeinfreiheit vollzogen haben, an dieser Stelle nicht fehlen.

„Sigmund Freud und Joseph Roth vom Urheberrecht befreit“ jubelte Telepolis schön böse schon am 5. Januar. Und in der Tat war beispielsweise beim Projekt Gutenberg mit sofortiger Wirkung der komplette Joseph Roth und ein erklecklicher Teil von Sigmund Freuds Schriften zum Lesen freigegeben. Wer weiterhin gedrucktes Wort für bare Münze hält, also verlegt und liest, hat nun auch viel zu tun: die wie Pilze aus dem Boden schießenden Werkausgaben (um der Einfachheit halber bei Joseph Roth zu bleiben) bei KiWi (Hausverlag), Diogenes, Reclam und Insel, die wohl offenbar alle ihre fertigen Buchblöcke schon vorgehalten hatten, füllen Regalmeter um Regalmeter, der Leser hat die Qual der Wahl. Und weil es einfach so schön zu lesen ist, hier noch ein Zitat aus dem neuerlich befreiten „Radetzkymarsch“, der derzeit in nicht weniger als acht Ausgaben greifbar ist:

Als hätte man ihm sein eigenes Leben gegen ein fremdes, neues, in einer Werkstatt angefertigtes vertauscht, wiederholte er sich jede Nacht vor dem Einschlafen und jeden Morgen nach dem Erwachen seinen neuen Rang und seinen neuen Stand, trat vor den Spiegel und bestätigte sich, daß sein Angesicht das alte war. Zwischen der linkischen Vertraulichkeit, mit der seine Kameraden den Abstand zu überwinden versuchten, den das unbegreifliche Schicksal plötzlich zwischen ihn und sie gelegt hatte, und seinen eigenen vergeblichen Bemühungen, aller Welt mit der gewohnten Unbefangenheit entgegenzutreten, schien der geadelte Hauptmann Trotta das Gleichgewicht zu verlieren, und ihm war, als wäre er von nun ab sein Leben lang verurteilt, in fremden Stiefeln auf einem glatten Boden zu wandeln, von unheimlichen Reden verfolgt und von scheuen Blicken erwartet.

Die dunklen Seiten des Actionkinos

Adam Johnsons erzählt in „Emporium“ von den letzten Menschen in der High-Tech-Welt.

Auffällig in den neun Geschichten, die der Liebeskind Verlag nun auf deutsch herausgebracht hat, ist das stets präsente Gefühl von Bedrohung – oder die Reaktion der Protagonisten darauf.

Adam Johnson hat eine Vorliebe dafür, seine Figuren als Polizisten, Sicherheitsleute oder anderweitig mit Schutzwesten ausgestattet herumlaufen zu lassen. In den weniger geglückten Momenten denkt man da beim Lesen an die Archetypen des amerikanischen Actionkinos, wenn etwa „muskelbepackte ATF-Leute in schwarzen Cargohosen, mit Kurzhaarschnitten und einem höhnischen Grinsen auf den Lippen“ durchs Bild marschieren. Lässt man sich aber auf die Welt von „Emporium“ ein (und es ist keine freundliche, so viel steht fest), hat das Martialische durchaus seinen berechtigten Platz. Und zwar als Kontrapunkt zu den Hauptfiguren der jeweiligen Geschichten, die aus der Ich-Perspektive ihre von Angst, Unsicherheit und Paranoia durchzogene Gedankenwelt offenbaren. Da ist der beste Freund ein Roboter, und man arbeitet in einem Kaufhaus für Sicherheitswesten. Der stärkste Einfall wird gleich in der ersten Geschichte „Teen Sniper“ geliefert: der jugendliche Scharfschütze (allein das schon bitterböse) stellt sich beim Abdrücken eine blühende Rose vor, wo das Projektil den Körper des Getroffenen durschlägt; durch diese „Visualisierung“ vermeidet er, zu viel Empathie mit dem Opfer aufkommen zu lassen.

Ein düsterer Ausblick, der (um im obigen Bild zu bleiben) deutlich auf die dunkleren Seiten des Actionkinos gerichtet ist.

Adam Johnson: Emporium. Storys. München: Liebeskind Verlag, 2010, 288 Seiten, 18,90 €.