Der Wald auf dem Üetliberg bei Zürich
Literatur bei The Daily Frown: Diese Woche mit sechs Prosa-Miniaturen von Judith Keller.
Ablauf
Seit einer Woche schrie jemand in der Nähe. Die Schreie kamen jede Nacht in unregelmässigen Abständen. Karl konnte nicht schlafen. Gestern, als er nach Hause kam, stand ein schwarzer grosser Wagen vor dem Wohnhaus. Er hört seitdem keine Schreie mehr; sie fehlen ihm jetzt, um schlafen zu können.
Übung
Lieselotte sagte nie nein. So geschahen mit ihr bedenkliche Dinge. Ein Psychologe schliesslich riet ihr, das nein zu üben wie eine Vokabel. Nach einigen Sitzungen stellte er ihr die Aufgabe, in ein Schuhgeschäft zu gehen, dreissig Paar Schuhe anzuprobieren und zu jedem Paar und zu der Verkäuferin nein zu sagen. Lieselotte ging in das Geschäft und kaufte dreissig Paar Schuhe. Sie reihte sie neben dem Eingang auf. Jetzt steht sie davor. Sie weiss nicht weiter.
Kunst
Patrick studiert Kunst. Auf einem seiner Bilder steht: ich liebe meine Eltern. Alle finden das lustig. Aber Patrick meint es ganz ernst.
Anton Früh
Auf dem Kapf erschoss sich Geografielehrer Anton Früh am Abend des dritten Juni 1958.
Onkel Andreas sagt, Geografielehrer Früh habe die Alpenbildung mit einer Serviette nachgefaltet.
Onkel Peter sagt, vor den Geografiestunden bei Herrn Früh habe er aus Angst nicht schlafen können.
Onkel Reinhard sagt, Anton Früh sei vor Schmerz zusammengezuckt, wenn ein Schüler eine Hauptstadt nicht wusste.
Onkel Peter sagt, es war dieser Hass über die Unwissenheit.
Onkel Andreas sagt, es war diese Mangel an Relation.
Onkel Reinhard sagt, es war dieses Ausschliessliche.
Am Nachmittag des dritten Juni 1958 hatte man beobachtet, wie Geografielehrer Anton Früh ein Paar Gartenhandschuhe für vier Franken und dreissig Rappen stahl. In wenigen Stunden wusste es das ganze Dorf.
Aber noch davor bestieg Anton Früh den Hügel namens Kapf und schoss sich in den Kopf.
Frau März
Frau März entfernt mit dem Tintenkiller die Fehler im Diktat der Drittklässler. Die Eltern freuen sich über die positive Entwicklung ihrer Kinder. Die Elterngespräche verlaufen fröhlich, die Begabung der Kinder spiegelt sich wider in jedem Diktat. Bald wird Frau März ihre Stelle verlieren. Es liegt an einem misstrauischen Vater, der sein Kind dasselbe Diktat noch einmal schreiben lässt, um zwanzig Fehler zu entdecken. Frau März wird vor vielen Menschen aussagen: Ich habe Zuversicht streuen wollen, um sie später zu ernten. Wegen ihrer süssen, lieben Stimme hatte man Frau März eigentlich schon vorher alles zugetraut.
Literatur
Der Junge kam herein und setzte sich an den Tisch. Es gab sein Lieblingsessen, aber er sprach kein Wort. Plötzlich, nachdem er sich langsam eine Pommes in den Mund geschoben hatte, begann er zu weinen. Als ihm seine Mutter über den Kopf strich, verdeckte er sein Gesicht mit seinen Armen und schluchzte. Sie war keine Mutter, die viele Fragen stellte, wir aber wissen, dass er um Winnetou trauerte, der auf Seite 474 starb.
Judith Keller wurde 1985 in Lachen (CH) geboren und ist in Altendorf am Zürichsee aufgewachsen. Sie studierte zwei Semester Germanistik in Zürich, dann Literarisches Schreiben in Biel und Leipzig. Im Moment macht sie den Master in Deutsch als Fremdsprache an der FU Berlin. Sie ist Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift Edit.
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