Das traurigste Album des Jahrzehnts


Songs wie ein sepiafarbener Schleier: Ausschnitt aus dem Albumcover

Bei manchen Alben dauert es eben etwas länger, bis sie sich in den Gehörgängen festgesetzt haben. „The Meadowlands“ von The Wrens ist ein solches Album.

Veröffentlicht bereits 2003, ist es erst jetzt der Redaktion von The Daily Frown in die Hände gefallen. Und ohne zu übertreiben könnte man es als Anwärter für das traurigste Album des Jahrzehnts ins Rennen schicken: Traurig nicht nur die Entstehungsgeschichte, war es (einen ähnlichen Schicksalsschlag erlebten ja Wilco mit dem nun epochalen „Yankee Hotel Foxtrot“) der Plattenfirma zu unkommerziell für eine Veröffentlichung und nach einigem Hin und Her dann doch mit mehrjähriger Verspätung in die Läden gekommen. Traurig in bester Hinsicht auch die Songs, die einer um den anderen wie der sepiafarbene Schleier des Albumcovers die Themen Verlassenheit, Erschöpfung und – natürlich – Liebeskummer umkreisen:

„And now you’re sorry/For the things you did to me/I want you to know/I feel I was the one who/got used and used to/just about anything you would tell me“

Da möchte man doch im tiefsten Brunnen versinken, das Leben aussperren und die Kopfhörer fester auf die Ohren drücken: Danke, liebe Wrens, für dieses Album! Besser spät als nie: Unser Tipp für die gepflegte Sommer-Depression.

The Wrens: The Meadowlands. 13 Tracks, 56:13 Min. Absolutely Kosher Records 2003

Satus Katze


Nachtszene im Limingantulli-Bezirk, Oulu, Finnland (Foto: Estormiz)

Literatur bei The Daily Frown: Diese Woche mit einem Auszug aus dem Roman Satus Katze von Constantin Göttfert.

An jenem Abend im Februar hatte ich die Katzen im Müllbeutel gesehen. Im Schein der Laternen glänzten die mit Streusplitt überzogenen Straßen, und wieder zog der süßliche Geruch der Maische von den Papierfabriken in die Stadt. Ich hörte das Heulen der Schneepflüge, deren rote Blinklichter in regelmäßigen Abständen auf dem Schnee zuckten, in der Ferne rauschten unsichtbare Züge. Als es in der Küche meiner Nachbarin wieder hell wurde, verließ ich die Wohnung.

Im Gemeinschaftsraum am Ende des Ganges saßen die Studenten auf Kunstledermöbeln vor dem Fernseher. Sie waren betrunken, dabei eigenartig ruhig, manche blickten wie konzentriert vor sich hin, einer stützte sich an der Wand ab und starrte auf das Poster. Im Vorbeigehen bemerkte ich, dass es jener war, der mir von Dr. Karjalainens Abtreibung erzählt hatte, aber er schien mich nicht zu erkennen.

Der Fernsehbildschirm zeigte den Sänger einer Metalband, der Ton war abgeschaltet. Jemand lachte, aber es war leise wie das heimliche Kichern eines Kindes in einer Kirche.

Schon im Hof glaubte ich das Schreien aus dem Container zu hören. Der Schnee hatte die Scheiben der Laternen verklebt. Von irgendwo hörte ich Rufe, ein Mann stand mit seinem Hund an der Kinderschaukel im Hof und wartete, bis das Tier sein Wasser gegen den vereisten Standfuß abgeschlagen hatte.

Innerhalb dieser kurzen Zeitspanne waren die Deckel der Müllcontainer wieder festgefroren, ich streckte beide Arme hinein; mit nackten Fingern und ohne nachzudenken zog ich Müllsäcke heraus, Pappkartonschachteln, Eierschalen, zerbrochenes Geschirr. Ich fand ein gefrorenes Stück Brot, ein Stoffschuh war in der Mitte zerrissen, in anderen Säcken waren Bierdosen.

Bald war der Schnee von Müllflüssigkeit braun verfärbt, auf dem Gehweg türmten sich Essensreste und Plastiksäcke. Irgendwo hatte ich mich geschnitten, aber meine Finger waren gefroren und steif, von der klebrigen Flüssigkeit verfärbt. Aus einem der Container hörte ich nun deutlich das leise Schreien einer jungen Katze.

Constantin Göttfert wurde 1979 geboren und lebt als freier Schriftsteller in Wien. Er studierte Germanistik in Wien und besuchte das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig. Zuletzt erschien von ihm der Erzählband In dieser Wildnis. Satus Katze, sein erster Roman, erscheint in diesem Monat.

Und zum Umgang mit Gefühlen


Der Wald auf dem Üetliberg bei Zürich

Literatur bei The Daily Frown: Diese Woche mit sechs Prosa-Miniaturen von Judith Keller.

Ablauf

Seit einer Woche schrie jemand in der Nähe. Die Schreie kamen jede Nacht in unregelmässigen Abständen. Karl konnte nicht schlafen. Gestern, als er nach Hause kam, stand ein schwarzer grosser Wagen vor dem Wohnhaus. Er hört seitdem keine Schreie mehr; sie fehlen ihm jetzt, um schlafen zu können.

Übung

Lieselotte sagte nie nein. So geschahen mit ihr bedenkliche Dinge. Ein Psychologe schliesslich riet ihr, das nein zu üben wie eine Vokabel. Nach einigen Sitzungen stellte er ihr die Aufgabe, in ein Schuhgeschäft zu gehen, dreissig Paar Schuhe anzuprobieren und zu jedem Paar und zu der Verkäuferin nein zu sagen. Lieselotte ging in das Geschäft und kaufte dreissig Paar Schuhe. Sie reihte sie neben dem Eingang auf. Jetzt steht sie davor. Sie weiss nicht weiter.

Kunst

Patrick studiert Kunst. Auf einem seiner Bilder steht: ich liebe meine Eltern. Alle finden das lustig. Aber Patrick meint es ganz ernst.

Anton Früh

Auf dem Kapf erschoss sich Geografielehrer Anton Früh am Abend des dritten Juni 1958.
Onkel Andreas sagt, Geografielehrer Früh habe die Alpenbildung mit einer Serviette nachgefaltet.
Onkel Peter sagt, vor den Geografiestunden bei Herrn Früh habe er aus Angst nicht schlafen können.
Onkel Reinhard sagt, Anton Früh sei vor Schmerz zusammengezuckt, wenn ein Schüler eine Hauptstadt nicht wusste.
Onkel Peter sagt, es war dieser Hass über die Unwissenheit.
Onkel Andreas sagt, es war diese Mangel an Relation.
Onkel Reinhard sagt, es war dieses Ausschliessliche.
Am Nachmittag des dritten Juni 1958 hatte man beobachtet, wie Geografielehrer Anton Früh ein Paar Gartenhandschuhe für vier Franken und dreissig Rappen stahl. In wenigen Stunden wusste es das ganze Dorf.
Aber noch davor bestieg Anton Früh den Hügel namens Kapf und schoss sich in den Kopf.

Frau März

Frau März entfernt mit dem Tintenkiller die Fehler im Diktat der Drittklässler. Die Eltern freuen sich über die positive Entwicklung ihrer Kinder. Die Elterngespräche verlaufen fröhlich, die Begabung der Kinder spiegelt sich wider in jedem Diktat. Bald wird Frau März ihre Stelle verlieren. Es liegt an einem misstrauischen Vater, der sein Kind dasselbe Diktat noch einmal schreiben lässt, um zwanzig Fehler zu entdecken. Frau März wird vor vielen Menschen aussagen: Ich habe Zuversicht streuen wollen, um sie später zu ernten. Wegen ihrer süssen, lieben Stimme hatte man Frau März eigentlich schon vorher alles zugetraut.

Literatur

Der Junge kam herein und setzte sich an den Tisch. Es gab sein Lieblingsessen, aber er sprach kein Wort. Plötzlich, nachdem er sich langsam eine Pommes in den Mund geschoben hatte, begann er zu weinen. Als ihm seine Mutter über den Kopf strich, verdeckte er sein Gesicht mit seinen Armen und schluchzte. Sie war keine Mutter, die viele Fragen stellte, wir aber wissen, dass er um Winnetou trauerte, der auf Seite 474 starb.

Judith Keller wurde 1985 in Lachen (CH) geboren und ist in Altendorf am Zürichsee aufgewachsen. Sie studierte zwei Semester Germanistik in Zürich, dann Literarisches Schreiben in Biel und Leipzig. Im Moment macht sie den Master in Deutsch als Fremdsprache an der FU Berlin. Sie ist Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift Edit.